HISTORISCHE VISIONEN

Die Menschliche Entwicklungsgeschichte aus weiblicher Sicht

 

Als unser Bewusstsein erwachte, lebten wir noch in paradiesischen Umständen. Wir befanden uns quasi im Mutterschoß, den die Natur um uns herum bildete. Der lichte Urwald enthielt alles, was wir brauchten: wechselnde Früchte zu jeder Jahreszeit, und reichlich Wasser. Wir brauchten nur zu pflücken, schälen und essen. Nachts schliefen wir auf weichen Lagern, die wir aus Blättern angehäuft hatten, oder in den Astgabeln ausladender Bäume, wie früher. Letzteres bevorzugt dann, wenn ein Räuber in der Nähe war.

 

Aufgrund unserer Körperstruktur (lange Arme und Greifhände) waren wir den meisten Raubtieren im Klettern überlegen. Gelegentlich zogen wir weiter, dorthin, wo die Früchte besser schmeckten oder reifer waren, kehrten aber meist im Bogen wieder zum Ausgangspunkt zurück, wenn die Nahrung entsprechend nachgewachsen war.

 

Unser Aktionsradius war nicht geplant, wir folgten einfach dem Angebot, das Mutter Natur für uns bereit hielt. Es schien so, als lockte sie uns mit Leckereien weiter, wie unsere persönlichen Mütter es in der Kindheit getan hatten. Dadurch mussten wir uns auf immer neue Umgebungen einstellen, und unser Gehirn wuchs im Wechselspiel mit unseren Reaktionen. Doch das Bewusstsein war keineswegs ständig vorhanden. Es blitzte nur gelegentlich auf, meist in neuen und ungewohnten Situationen.

 

Unsere ersten Erfahrungen in der Kindheit waren die der mütterlichen Fürsorge. Diese Funktion übertrugen wir auch auf die Natur, die uns ebenfalls ernährte und beschützte. Da sie so unbedingt wichtig für uns war, hielten wir sie für göttlich. Wir traten in einen Dialog mit ihr ein, und sie antwortete uns in Bildern.

 

Als wir unsere eigene mütterliche Kreativität entdeckten, fanden wir diese Eigenschaft ebenfalls göttlich. Die Männer akzeptierten diesen Anspruch ohne weiteres, denn unsere Ähnlichkeit mit der Naturgöttin war so offensichtlich, dass sie keiner Erklärung bedurfte. Unsere Bedeutung für den Fortbestand der Menschen konnte jeder leicht erkennen.

 

Den mütterlichen Aspekt des Gebärens, Ernährens und Beschützens als göttlich zu empfinden, ist leicht nachvollziehbar, und zwar für beide Geschlechter. Die erste Begegnung jedes Kindes ist die mütterliche. Die Erfahrung des männlichen Aspektes ist immer sekundär, sie findet später statt. Mädchen begegnen zuerst dem eigenen Geschlecht, Jungen zuerst dem anderen Geschlecht in Form der Mutter.

 

Unsere erste Liebe gilt der Mutter, und später, wenn wir selbst Mütter sind, erfahren wir von unseren Töchtern deren erste Liebe. Die Primärliebe findet also zwischen Müttern und Töchtern statt. Die Liebe zum Vater (Mann) ist sekundär und erotisch, weil sie das andere Geschlecht betrifft. Der Sohn kann diese emotionale Trennung nicht nachvollziehen, bei ihm ist die Erfahrung des anderen Geschlechts eine Primärbeziehung und deshalb schon im Säuglingsalter erotisch besetzt. Er braucht die Mutter später nur durch die Geliebte zu ersetzen.

 

Männer sind aufgrund ihrer Genetik auf das Vorstoßen, Erforschen und Vereinnehmen programmiert. Ihr Medium ist die Realität, die sie gestalten und verändern. Sowohl der männliche als auch der mütterliche Aspekt können sich positiv oder negativ auswirken. Die Mütterlichkeit betrifft jedoch nur einen Aspekt der Weiblichkeit. Andere weibliche Erscheinungsformen sind z.B. die Tochter, die Geliebte oder die Schamanin.

 

***

 

Wir sitzen auf der Erde und sind beschäftigt. In den Händen halten wir Steine, die wie Stößel geformt sind. Wir stampfen sie auf einen großen flachen Stein (Altar), der in der Mitte abgeplattet ist vom vielen Stampfen. In den Einbuchtungen liegen Nüsse, die bei jedem Schlag aufspringen und ihre wohlschmeckenden Kerne freigeben. Von Zeit zu Zeit greifen wir in das Gemenge und sammeln die Kernstückchen aus den Schalensplittern. Wir stecken sie gleich in den Mund und schmatzen zufrieden.

 

Unsere Gruppe zählt mehr Menschen, als Finger und Zehen an Händen und Füßen sind. Viele sind klein oder halbwüchsig, die anderen erwachsen oder alt. Im mittleren Alter sind nur Frauen da, keine Männer. Wir verständigen uns durch verschiedene Laute, die bestimmte Bedeutungen haben. Es klingt wie eine Art Zwitschern und dient hauptsächlich dazu, den Kindern die nötigen Handgriffe zu zeigen und sie zu ermutigen, es selbst zu versuchen. Durch diese Unterweisungen entwickelt sich unsere Sprache schnell weiter, und wir sind schon in der Lage, abstrakte Begriffe auszutauschen, die sich nicht mehr auf das unmittelbar Gesehene beziehen.

 

Plötzlich schiebt sich ein Bild vor mein inneres Auge: Ich sehe uns zur kargen Jahreszeit an der gleichen Stelle sitzen, aber es sind keine Nüsse da. Der Speiseplan besteht einseitig nur aus Wurzeln und Rinden. Wie schön wäre es, jetzt ein paar Nüsse zu haben. Dann kommt ein zweites Bild: Ich sehe, wie die Erdhörnchen sich unter der Erde einen Vorrat anlegen. Beides ist altbekannt, aber zum ersten Mal kombiniere ich die Bilder zu einem neuen Gedanken. Die Idee aktiviert meine Nerven, sie feuern Energie in den Körper, ich bin erregt und möchte etwas tun.

 

Aufgeregt fange ich an, in der Erde zu graben. Erst mit den Fingernägeln, dann sehe ich mich nach einem geeigneten Werkzeug um und finde auch einen passenden Ast. In das entstandene Loch lege ich einen Haufen Nüsse und decke sie mit Erde zu. Die anderen schauen erst skeptisch, dann interessiert und verstehen bald den Sinn meines Tuns. Sie müssen die gleichen Bilder vor Augen haben wie ich, denn nach und nach beginnen sie ebenfalls zu graben.

 

Es ist ganz klar, dass die Große Mutter uns die Bilder gegeben hat, ebenso wie sie uns mit Früchten versorgt und uns weiter lockt, um unser Denken zu entwickeln. Alle Mütter bringen neues Leben hervor. Mutter Natur lässt im jahreszeitlichen Rhythmus neue Pflanzen wachsen, und die Menschenfrauen gebären neue Kinder. Alle Mütter ernähren ihre Kinder, schützen sie und führen sie ins Leben ein. Deshalb ist das Weibliche heilig, und die Große Mutter göttlich.

 

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Die Große Mutter hat verschiedene Gesichter. Manchmal ist sie die magische Göttin der Unterwelt, die im Herbst die Natur sterben lässt und einigen Menschen das Leben nimmt. Dann ist sie wieder die lebensspendende Göttin der Erde, die im Frühjahr neues Leben sprießen lässt. Als begehrenswerte Liebesgöttin lockt sie die Männer an und hält sie in ihrem Bann. Aber immer ist sie die weise Himmelskönigin, die unser Schicksal bestimmt und die Welt lenkt.

 

Alle diese Aspekte sind auch in den irdischen Frauen vorhanden. Wir werden von unseren Müttern geboren, und wenn wir sterben, gehen wir durch die Unterwelt, bis wir als neue Kinder von den nachfolgenden Müttern wiedergeboren werden. Mütter sind die Hüterinnen von Leben und Tod. Sie geben uns das Leben, aber sie nehmen es auch wieder, wenn ein Kind missgestaltet zur Welt kommt, oder wenn die Sippe zu zahlreich wird, um zu überleben.

 

Am Himmel sehen wir jeden Morgen, wie der Sonnengott erscheint, seine Bahn zieht und am Abend unter der Erde verschwindet, um durch die Unterwelt zu gehen und am nächsten Morgen wieder aufzuerstehen. Er kommt aus der Mutter Erde und geht wieder in sie ein. Die Göttin gebiert ihn am Morgen und lässt ihn am Abend sterben. Das gleiche geschieht jede Nacht mit der Mondgöttin: Auch sie folgt dem ewigen Kreislauf von Geborenwerden, Sterben und Wiedergeborenwerden.

 

Sonnengott und Mondgöttin begegnen sich fast nie, aber wenn es einmal geschieht, ist es eine himmlische Vereinigung und wird von uns Menschen gebührend gefeiert. Wenn sich die Mondgöttin über die Sonnenscheibe schiebt, erfasst uns eine magische Unruhe. Es ist ein Gefühl der Furcht und gleichzeitig der Erhabenheit. Indem wir den göttlichen Akt auf der Erde imitieren, haben wir teil am sakralen Geschehen.

 

Das gleiche gilt für die Vollmondnächte, in denen sich die Göttin in ihrer vollen Gestalt zeigt. Auch die Sommer- und Wintersonnenwenden erfüllen uns mit ehrfürchtigem Staunen. Das ganze Universum ist beseelt und spricht zu uns durch seine Götter, und wir lassen keine Gelegenheit aus, die Natur in ihren vielfältigen Erscheinungen zu feiern.

 

Vor dem Donnergott mit seinen Blitzen fürchten wir uns natürlich. Wenn das Entsetzen zu groß wird, beginnen wir zu tanzen und drehen uns so lange im Kreis, bis wir uns wie ein einziges großes Wesen fühlen, das dem Unerklärlichen die Stirn bietet. Dann fällt die Angst von uns ab, und wir sind selbst der Donner. Die Regengöttin lässt sich durch Opfergaben freundlich stimmen. Von allem, was wir essen und trinken, geben wir einen Teil den Göttern zurück, um die Ersatzproduktion anzuregen und die Harmonie zu erhalten.

 

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Wir sitzen auf einem Felsplateau, und ich schaue hinab in die Ebene. Gelbliches Gras, so weit das Auge reicht, unterbrochen von breit verzweigten Bäumen, die reichlich Schatten spenden. Herden von Wiederkäuern grasen friedlich in der Vormittagssonne. Die weite Savanne weckt das unwiderstehliche Verlangen in mir, hineinzulaufen, zu laufen und zu laufen, um sie zu erkunden und in Besitz zu nehmen.

 

Dann schaue ich auf die Kinder um mich herum und unterdrücke den Wunsch. Sie brauchen mich, und ich ahne, dass sie wichtig sind für unser Fortbestehen. Seit ich ein eigenes Kind geboren habe, gehe ich nicht mehr jagen. Die Männer sind schon seit Tagen unterwegs und werden wohl bald mit ihrer Beute zurückkommen. Seit wir entdeckt haben, wie gut Fleisch schmeckt, mögen wir nicht mehr darauf verzichten, und die Göttin lässt uns ausgeklügelte Methoden ausdenken, um schwache Tiere von der Herde abzusondern, zu fangen und zu essen.

 

Beispielsweise bauen wir Fallen, in die sie stürzen und sich dann leicht töten lassen. Wir haben auch schon ganze Herden an den Rand des Abgrunds getrieben und hinunter in den Tod stürzen lassen. Das gab ein Festessen! Aber die Kadaver lockten auch Raubtiere an, und nach einer Weile war der Gestank so groß, dass wir weiter ziehen mussten. Deshalb haben wir von dieser Methode Abstand genommen.

 

Wenn ich mich umdrehe, sehe ich vor der Felswand behauene Baumstämme und Äste, die wir zu einer Behausung zusammengefügt haben. Die Hohlräume haben wir mit Stroh und Lehm verstopft. Der Holzverhau verlängert eine Höhle in der Felswand, in der wir früher gewohnt haben. Sie wurde jedoch zu eng, und der Anbau bietet Platz für uns alle, besonders in der Regenzeit. Der vordere Teil ist völlig offen und ermöglicht uns das Gefühl des Einsseins mit der Natur, das wir brauchen.

 

Während die Regengöttin uns mit Wasser aus dem Himmel versorgt, sitzen wir eng beieinander, wärmen uns und fallen in einen Dämmerzustand. Wir sind dann verbunden miteinander und mit der Natur, schauen auf den dampfenden Wald und essen nur gelegentlich etwas von unseren Vorräten. Die überschüssigen Lebensmittel bewahren wir in der rückwärtigen Höhle auf, damit sie länger kühl bleiben.

 

Der Sonnengott ist nicht immer gütig. Manchmal ist er auch grausam, versengt die Lebewesen und nimmt ihnen das Wasser. Wenn er die Steppe in Brand setzt, gibt er uns Feuer. Das bedeutet jedes Mal ein Festessen, denn verbrannte Tiere schmecken besonders gut. Wir haben versucht, das Feuer auf unser Plateau zu holen, aber wir können es nicht am Leben erhalten, es stirbt sehr schnell. Außerdem ist es gefährlich und schwer zu bändigen. Aber die Göttin wird uns schon neue Bilder einfallen lassen.

 

Spätestens zur Vollmondnacht werden alle Männer zurück sein, wenn die Liebesgöttin uns Frauen mit Verlangen erfüllt (einen Eisprung beschert), um die sakralen Handlungen gemeinsam auszuführen. Keiner weiß, warum wir Frauen regelmäßig Kinder gebären, aber diese göttliche Eigenschaft verleiht uns unsere einzigartige Bedeutung. Die Kinder erfüllen uns mit Zärtlichkeit und Stolz, und die Männer tun uns leid, weil sie nichts Gleichwertiges vorzuweisen haben.

 

Eine Geburt ist jedes Mal ein großes Ereignis, an dem die ganze Sippe teil hat. Sie bringen der Göttin Opfer und der Gebärenden Geschenke. Die anderen Mütter unterstützen den Geburtsvorgang mit Gebeten und rituellen Tänzen. Einem Menschen das Leben zu geben, ist ein heiliger Akt, und jede Frau ist stolz auf diese Fähigkeit.

 

Die Männer sind dafür stark, geschickt und höchst erfinderisch. Um ihren Mangel auszugleichen, versuchen sie, es uns Frauen so bequem wie möglich zu machen. Sie bauen uns Wohnstätten und versorgen uns mit Fleisch. Schließlich tragen wir immer wieder neues Leben in unseren Körpern und sind damit gottgleich.

 

Es ist der Sonnengott, der den Männern die Ideen für ihre technischen Erfindungen gibt. Durch ihn sind sie auf den hellen Tag programmiert und in der Realität verhaftet. Ihr Streben richtet sich nach Außen, und sie sind im Begriff, sich die Welt zu erobern. Sol ist stark und rücksichtslos, er duldet keine Schwäche. Die sanfte Mondgöttin Lu dagegen richtet sich an uns Frauen und lässt uns nach Innen schauen. Dort finden wir große Weisheit und eine kollektive Seele, die uns die Zusammenhänge von Geist und Welt erahnen lässt.

 

Männer brauchen uns, um ihnen die Zusammenhänge zwischen Himmel und Erde zu erklären. Schon im zarten Kindesalter infiltrieren wir sie mit unserer Weltsicht. Durch unseren direkten Zugang zur Göttin besitzen wir Macht und Magie, die wir auch gegen unsere Söhne verwenden können, wenn sie nicht folgen wollen („Wenn du nicht hörst, rufe ich den Donnergott!“). Bei den Töchtern ist das nur selten nötig, denn sie haben die Einsicht. Wir besitzen die Definitionsmacht, allerdings fällt die Definition meist zu unseren Gunsten aus.

 

***

 

Ich laufe nackt durch die heiße Savanne und trage nur meinen Holzspeer bei mir. So lange renne ich schon im gleichmäßigen Rhythmus über die Grasbüschel, dass ich die Tageszeit völlig vergessen habe und mich in einem tranceähnlichen Zustand befinde. Der Sonnengott muss hoch am Himmel stehen, denn er brennt auf meinen ungeschützten Kopf. Doch ich fürchte mich nicht vor ihm und fühle keinen Schmerz. Die Umgebung ist freundlich wie ein Mutterschoß, und das Laufen bereitet mir ein körperliches Behagen.

 

Es ist mein Initiationslauf. Im Frühjahr hat die Göttin mich zur Frau gemacht, indem sie mir das Blut schenkte. Zusammen mit drei anderen Mädchen werde ich jetzt feierlich in die Welt der erwachsenen Frauen aufgenommen. Vorher müssen wir jedoch eine Probe bestehen, und meine Aufgabe besteht darin, den weißen Pilz zu finden, der uns mit den Ahnen verbindet und Bilder der Erkenntnis schenkt. Ich weiß, wo er wächst, denn ich habe ihn im Traum gesehen.

 

Ich renne und renne und renne. Das Denken hat völlig aufgehört, und meine Schritte werden von den Göttern gelenkt. Langsam verändert sich die Umgebung. Es wird merkwürdig still, und die paradiesische Landschaft flimmert in der Sonnenglut. Ich kann nichts mehr klar erkennen, und eine diffuse Angst erfasst mich. Gefahr lauert plötzlich hinter jedem Busch.

 

Da fallen sie auch schon über mich her. Die Dämonen der Mittagssonne, vor denen ich gewarnt wurde, haben mich entdeckt und stürzen sich wütend vom Himmel herunter auf meinen Nacken. Doch können sie mich physisch nicht erreichen, da sie sich auf einer mentalen Ebene befinden. Ich ducke mich instinktiv, renne aber weiter und versuche, die brüllenden Götter in meinem Nacken zu ignorieren.

 

Endlich gerate ich an die Wasserstelle mit den dichten Bäumen, die ich im Traum gesehen habe. Als ich in den Schatten eintauche, bleiben die Dämonen zurück. Die Realität fängt mich ein, und ich entdecke die gesuchten Pilze unter feuchten Gräsern. Ich breche einige ab, binde sie mit Schilf zusammen und hänge sie mir um die Taille. Bevor ich mich auf den Rückweg mache, trinke ich etwas Wasser. Da ich hungrig bin, kann ich der Versuchung nicht widerstehen und esse ein paar Pilze. Nach kurzer Zeit verliere ich die Besinnung und sinke auf das weiche Moos.

 

Vor meinem inneren Auge taucht eine gigantische Frauengestalt auf; sie scheint die ganze Welt einzunehmen. Es ist die Große Muttergöttin. Ehrfürchtig schaue ich an ihr herab. Sie trägt ein weißes Gewand und ist so riesenhaft, dass ihre Beine unten im Nebel verschwinden. Ihre Füße kann ich nicht erkennen. Ich bin so winzig wie eine Fliege und befinde mich in der Position zwischen ihrem rechten Auge und der Nase. Ihr Kopf ist gesenkt, der Blick nach innen gerichtet. Ich möchte, dass sie mich ansieht, aber ihr Blick geht ins Leere.

 

Voller Ehrfurcht und Liebe versuche ich, die Aufmerksamkeit der schönen Riesin zu erregen, um ihr meine Initiations-Frage zu stellen: Wer bin ich? Aber sie sieht mich nicht. Dann verschwindet die Vision, und ich falle in tiefen Schlaf. Im Traum sehe ich ein merkwürdiges Ding: einen intensiv pulsierenden Uterus. Aus meiner Perspektive schaue ich direkt auf den Eingang der Gebärmutter: ein wulstiger Muttermund in Form eines prall glänzenden Fleischringes. Er zuckt in rhythmischer Kontraktion, zieht sich zusammen und dehnt sich aus. Die Quelle des Lebens ist in grellrotes Licht getaucht, der Hintergrund tiefschwarz. Es sind infernalische Farben.

 

Ist das ihre Antwort auf meine Frage? Bin ich ein Organ der Fruchtbarkeit? Dann hat sie mich also doch bemerkt. Aber sie konnte mich nicht anblicken, da meine Frage von innen her an sie gerichtet war. Deshalb musste sie natürlich auch nach innen schauen, um sie mir dort zu beantworten. Wie dumm von mir, eine sprachliche Kommunikation zu erwarten. Als ich aufwache, fühle ich mich stark und unverwundbar. Jetzt weiß ich, wer ich bin. Voller Elan mache ich mich auf den Heimweg in Vorfreude auf das Leben, das vor mir liegt.

 

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Seit ich zum Kreis der Mütter gehöre, trage ich mit ihnen die Verantwortung für die ganze Sippe. Wir versorgen unsere Kinder, Töchter und Söhne, und bereiten sie auf das selbständige Leben vor. Wenn die Söhne groß sind, werden sie unruhig und verlassen uns, um sich woanders anzusiedeln. Plötzlich interessieren sie sich für fremde Töchter und nicht mehr für die eigenen Schwestern und Kusinen. An ihrer Stelle kommen fremde Söhne aus anderen Sippen zu uns, um sie zu ersetzen.

 

Männer sind immer etwas Vorübergehendes, sie wechseln wie die Jahreszeiten. Sie ziehen allein oder in Gruppen durch die Steppe, tragen ihre Hierarchiekämpfe aus und verfeinern ihre Jagdtechniken. Von Zeit zu Zeit schließen sie sich einer Frauensippe an und betören uns mit Fleisch und Geschenken. Oft suchen wir uns einen Alfamann als Führer aus, der uns beschützt und versorgt. Die anderen Männer werden dann überflüssig und verlassen uns. Erst zum nächsten Vollmond sind sie wieder willkommen.

 

Solange wir mit unserem Führer zufrieden sind, hat er es gut bei uns. Trifft er aber die falschen Entscheidungen, lassen wir ihn durch einen Nachfolger herausfordern, der in den Rivalitätskämpfen die nächst höhere Rangstufe erreicht hat. Sie kämpfen ja ständig um die Gunst, uns dienen zu dürfen. Wenn der Herausforderer siegt, muss der Alte gehen, falls er den Kampf überlebt. Dann zieht er allein durch die Steppen.

 

Wir Frauen dagegen verlassen die Sippe nie. Wir bilden eine Solidargemeinschaft und fühlen uns eng miteinander und mit der Mutter Natur verbunden. Wir lieben alle Pflanzen und Tier; sie sind uns heilig und werden durch Rituale geehrt. Um uns mit ihnen geistig zu vereinen, ritzen wir ihre Abbilder in die Felsen und zelebrieren magische Tänze. Sie sind Ausdruck der Freude über das Leben, die Liebe, die Fruchtbarkeit und unsere Verbundenheit mit der Göttin.

 

Bevor wir eine Pflanze oder ein Tier essen, bitten wir ihre Repräsentanten um Verzeihung und versichern ihnen unsere Wertschätzung. Die ganze Welt ist heilig, wir leben ja mitten im Schoß der Großen Mutter. Alle Handlungen des täglichen Lebens sind ritualisiert: Am heiligen Herd kochen wir die heiligen Mahlzeiten, danken der Göttin vor dem Verzehr und lehren unsere Kinder, das gleiche zu tun. Dafür ehren sie uns als Repräsentantinnen der Göttin ebenso wie die Göttin selbst.

 

***

 

Es ist Sommer, und das Leben ist leicht. Die Bäume hängen voller Früchte, und wir können uns den ganzen Tag lang satt essen. Ich schaukle träge in der Hängematte zwischen den Palmen hinter unserer Hütte und halte meine beiden Kinder im Arm. Die kleine Tochter liebt es, mit mir zu schmusen und genießt die körperliche Nähe. Auch mein Sohn ist liebebedürftig und schmiegt sich eng an mich.

 

Nach einer Weile wird er unruhig, und seine Liebkosungen werden fordernder. Er versucht, mich zu küssen wie ein Mann, und ich lasse es zu. Es dauert eine Weile, bis ich bemerke, dass er sexuell erregt ist. Ich liebe meinen Sohn, aber diese neue Variante ist mir unangenehm. Ich schubse ihn aus der Hängematte, und er schaut mich aus verwundeten Augen an. Er versteht gar nicht, was mit seinem Körper geschieht.

 

Ich bin im Dilemma: Einerseits tut er mir leid, andererseits kann ich ihm nicht helfen. Es wird Zeit, dass er sich der Männergemeinschaft anschließt. Schmerzlich wird mir bewusst, dass ich ihn verloren habe. Der Sonnengott hat ihn für sich vereinnahmt und damit über die Muttergöttin triumphiert. Unsere intime Vertrautheit ist vorbei, jetzt können wir nur noch distanziert miteinander umgehen.

 

In den nächsten Tagen registriere ich, wie mein Sohn eifersüchtig seine kleine Schwester traktiert, die weiterhin mit mir schmusen darf. Die Vehemenz seiner Wut erschreckt mich. Wo ist der sanfte Junge geblieben, der uns ein so liebevoller Begleiter war? Wie zutraulich hat er sich unseren Heilkräften anvertraut, wenn er sich durch seine Waghalsigkeit Verletzungen zugezogen hatte. Wie oft mussten wir ihn in der Wildnis retten, wenn sein Forschungsdrang ihn in riskante Situationen getrieben hatte.

 

Einmal fanden wir ihn bei Einbruch der Dunkelheit an der Wasserstelle, völlig versunken in den Anblick einer Elefantenherde, die dort geräuschvoll badete und trompete. Er hatte die Gefahr nicht bedacht und sich nur von seiner Abenteuerlust leiten lassen. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Wasserstelle mit einem Tabu für Knaben zu belegen. Künftig hielt die Angst vor meinen magischen Kräften ihn und seine Kameraden davon ab, sich unerlaubt vom Stamm zu entfernen.

 

Seitdem ist das Wasserholen Aufgabe der Mädchen. Ihnen können wir vertrauen. Sie sind verständig genug, um ohne Worte zu sehen, was zu tun ist, und was besser unterlassen wird. Die Söhne dagegen benötigen viele Beispiele und anschauliche Bilder, um daraus zu lernen. Sie sind jedoch lieb und guten Willens. Es ist der Gott der Männer, der sie immer mehr auf seine Seite zieht. Bei der nächsten Initiationsfeier werde ich meinen Sohn an die Jäger abgeben müssen.

 

Bei den Tieren ist es ähnlich. In der Seehundkolonie sah ich, wie die größeren Söhne versuchten, ihre Mütter zu begatten. Daraufhin wurden sie aus der mütterlichen Gemeinschaft ausgestoßen und rotteten sich zu Halbstarken-Clans zusammen, die den Zugang zum Meer blockierten. Für weibliche Wesen ist es nicht leicht, so eine Gruppe Halbwüchsiger zu passieren. Sie pöbeln uns an und animieren sich gegenseitig zu Heldentaten, bis es einem von ihnen gelingt, eine Frau oder ein Mädchen zu verführen.

 

Junge Männer leiden unter ihrem Geschlechtstrieb, der sie quält. Wenn sie ihn nicht auf natürliche Weise abreagieren können, müssen sie ihn gewaltsam unterdrücken, denn Frauen sind nur an bestimmten Tagen an Sex interessiert. Die älteren Männer nutzen diese „Energiequelle“ gern zu ihrem Vorteil, indem sie den Trieb der Jungen für ihre Zwecke kanalisieren. In der Pubertät sind die Jungen besonders anfällig für Manipulationen und lassen sich leicht für einen Krieg mit anderen Stämmen instrumentalisieren. Auch die Jagd und der Kampf mit den Geschlechtsgenossen dienen ihnen als Ventil für den Überdruck, das gleichzeitig ihrem erhöhten Drang nach Bewegung Rechnung trägt.

 

In erbitterten Hierarchie- und Machtkämpfen sucht jeder einzelne, seine Position zu stärken, denn instinktiv erscheint ihm die Siegerposition als Ermächtigung, den Geschlechtsakt mit einer Frau zu vollziehen. Unbewusst winkt ihnen hinter jedem Sieg ein weibliches Wesen als Trophäe. So erklärt sich das Auftreten der Sieger gegenüber dem unterlegenen Stamm nach einer kriegerischen Auseinandersetzung. Aus der Sicht der Krieger handelt es sich nicht um Vergewaltigungen, sondern um ihre rechtmäßig erworbene Belohnung.

 

Diese instinktive Motivation ist ihnen allerdings nicht bewusst. Aus der Spannung zwischen unreflektierten Schuldgefühlen und triebhaftem Drang resultieren alle männlichen Siegerposen wie auch das pubertäre Imponiergehabe der Halbstarken. Später wird der Kampf als „Agonie“ in der griechischen Kultur ritualisiert und kultischen Charakter erhalten. In noch fernerer Zukunft wird er sich auf die verbale Ebene verlagern und sich auf den wirtschaftlichen Ruin und Rufmord des Gegners reduzieren.

 

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Ich sitze mit gekreuzten Beinen am Fluss und blase in die selbst geschnitzte Flöte. Indem meine Finger abwechselnd drei verschiedene Öffnungen verschließen, variiere ich die Töne und versuche, den Windgott nachzuahmen, der durch das abendliche Schilfrohr rauscht. Der glutrote Sonnengott spiegelt sich im Wasser, bald wird er hinter den Felsen verschwinden und der silbernen Mondgöttin Platz machen.

 

Der Himmel in Richtung des Sonnenuntergangs ist männlich. Hinter dem Horizont liegen das magische Totenreich und die seligen Inseln der Anderswelt. Deshalb bauen wir unsere Grabanlagen immer in den Hügeln des Westufers. Der Himmel des Sonnenaufgangs ist dagegen weiblich. Dort wird das Leben und das Licht geboren. Deshalb wohnen wir meist zwischen den Hügeln des Ostufers. Der Fluss teilt das Land wie eine Nord-Süd-Achse in diese beiden Zonen.

 

Das Wasser ist schwarz und geheimnisvoll. Wenn ich hinein schaue, spiegelt es eine junge Frau mit neugierigen Augen. Doch dahinter tauchen manchmal lebendige Wesen auf: der Flussgott mit seinen Töchtern und den Wesen der Tiefe. Gegen Abend, wenn das Licht seitlich ins Wasser fällt, kann man dem Tanz der Nymphen zuschauen. Sie sind freundlich und haben schon oft badende Kinder vor dem Ertrinken gerettet. Bei jeder Flussüberquerung bringen wir ihnen ein Opfer.

 

Die Oberfläche erzittert wie in einem Spuk und lässt mich schaudern. Ich erahne die unsichtbare Präsenz unter dem Wasserspiegel und empfinde Ehrfurcht vor der verborgenen Weisheit, gleichzeitig aber auch Angst. Schnell wende ich den Blick ab, um mich nicht in den unbewussten Tiefen zu verlieren. Ich klammere mich an die Realität, und die Gestalten beginnen zu verblassen. Mein Verstand ist alles, was ich habe, um die Welt zu erkennen und die Angst zu überwinden.

 

Hinter mir höre ich Holz knacken und Schritte aus verschiedenen Richtungen auf mich zu kommen. Ich weiß, es sind die jungen Männer, die den ganzen Tag mit den Jägern in den Steinbrüchen verbracht haben und jetzt ausruhen wollen. Ich freue mich, dass sie immer noch zu mir kommen, bin aber auch etwas besorgt, denn ich weiß, dass ihre Anführer das nicht gern sehen. Sie würden die Jungen am liebsten ganz von mir fern halten, wagen es aber nicht aus Respekt vor mir und meinen magischen Kräften.

 

Wie so viele Abende sitzen wir in der Runde und braten Fisch am Stock im Feuer, das uns gleichzeitig wärmt. Dann beginne ich, meine Geschichten zu erzählen. Ich berichte von herausragenden Ereignissen aus der Vergangenheit unseres Stammes, von den Heldentaten unserer Ahnen, von Göttern, die uns besuchten und von Naturkatastrophen, die uns heimsuchten, von Liebeszaubern und großen Festen, von wilden Tieren, die bezwungen wurden oder großen Schaden anrichteten.

 

Und wie immer hören sie mir gebannt zu. Ich weiß, dass auch die älteren Männer gern kommen und meinen Erzählungen lauschen würden, dass es ihnen aber ihr Ehrenkodex nicht gestattet. Ihr Metier ist der Kampf, die Jagd und alle ehrenhaften Taten, die geeignet sind, ihre hierarchische Position zu stärken. Zum Glück glauben sie noch an die Macht der Frauen und lassen sich beeindrucken durch die Drohung, nicht mehr wiedergeboren zu werden, wenn sie unser Stammesethos vernachlässigen: Füge niemandem unnötig Leid zu.

 

Bald werden auch die Knaben nicht mehr kommen. Wenn sie herangewachsen sind, verwandelt ihr Gott sie plötzlich in andere Wesen. Als Kind unterscheiden sich die Söhne kaum von den Töchtern. Sie sind sanft und zärtlich und brauchen viel Liebe. Später brauchen sie Anerkennung und das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Sind sie erst groß, konzentriert sich ihr Interesse hauptsächlich auf das Kämpfen und Siegen. Aber darin besteht ja auch der Reiz des anderen Geschlechts.

 

***

 

Ich komme aus den Bergen zurück und schaue hinab auf mein Dorf. Auf dem Rücken trage ich heilende Pflanzen, die ich an den Hängen geschnitten habe. Als ich noch ein Kind war, nahm meine Mutter mich oft mit, wenn sie ihre Vorräte auffüllen wollte. Sie erklärte mir die speziellen Wirkungen der Blätter, Blüten und Wurzeln, zeigte mir, wie man sie zubereitet, und bei welchen Beschwerden man sie anwendet. Sie selbst bekam das Wissen von ihrer Mutter vermittelt, und so wurde es seit Urzeiten von Mutter zu Tochter weitergegeben.

 

Die Zelte liegen friedlich in der Sonne, Kinder plantschen geräuschvoll im Fluss, Frauen sind mit der Essenszubereitung beschäftigt, Männer reparieren ihre Geräte. Eine Welle von Zärtlichkeit erfasst mich: Ich liebe sie alle, und sie vertrauen mir. Sehnsüchtig denke ich an die nächtlichen Trommeln und freue mich schon auf die Begrüßung. Nur ein Weg trennt mich noch vom Dorf: Sand und Kiesel flimmern weiß in der Sonne, eingerahmt von hohem Schilf.

 

Plötzlich schiebt sich ein anderes Bild vor die Idylle: Ich sehe einen riesigen Katzenkopf drohend über dem Dorf hängen. Die Art, wie das Tier auf das Dorf herab schaut, hat etwas Unabwendbares und Schicksalhaftes. Meine Nackenhaare sträuben sich, als ich die Gefahr wittere. Noch nie ist es uns gelungen, ein Raubtier zu erlegen. Erfahrungsgemäß werden einige von uns den Überfall nicht überleben. Aber diesmal ist es anders: Ich verfalle nicht in Fatalismus, wie sonst, sondern spüre Widerstand in mir aufkeimen. Es muss doch einen Weg geben, das Schreckliche zu verhindern!

 

Die Löwin ist tot. Wir haben das Ungeheuerliche geschafft und das Raubtier erlegt. Mit gebrochener Wirbelsäule schleppte sie sich über den weißen Weg, auf dem ich gestern stand, und schlug sich in die Büsche, um zu sterben. Vergeblich versuchte sie immer wieder, sich aufzurichten, schaffte es aber nicht und konnte nur noch kriechen. Es war grauenvoll, mit Knüppeln auf die Bestie einzuschlagen, aber durch lautes Schreien und Johlen verwandelte sich unser Entsetzen in Angriffslust und verlieh uns die nötige Kraft, das Unvermeidliche zu tun.

 

Auch Männern gegenüber müssen wir manchmal hart sein. Sie sind körperlich stärker als wir und neigen oft zu Rohheit und Zerstörungslust. Um unsere Kinder vor ihnen zu schützen, wenden wir magische Hilfsmittel an wie den bösen Blick oder die Verfluchung. Da sie wissen, dass wir in direktem Kontakt zur Großen Göttin stehen, haben sie Respekt vor diesen Methoden. Zu unserer eigenen Überraschung funktioniert es immer: Der Verfluchte oder mit dem Blick Bedachte wird krank, vom Unglück verfolgt und findet manchmal sogar den Tod. Später einmal wird das Phänomen unter dem Begriff „self-fulfilling-prophecy“ in die Psychologie eingehen.

 

***

 

Wir liegen träge am Ufer des großen Sees. Die Kinder haben gebadet, gegessen und halten jetzt ihren Mittagsschlaf. Auch wir Mütter haben uns in den Schatten zurückgezogen und ruhen uns aus. Ich strecke wohlig alle Glieder und falle in einen tiefen Schlaf. Im Traum gehe ich durch eine sonnendurchflutete Frühlings-Landschaft und sehe in der Ferne ein heiteres Bild, das ich zunächst nicht näher bestimmen kann.

 

Beim Näherkommen erkenne ich ein kreisrundes Wasserbassin mitten auf einer grünen Wiese. An den Rändern sitzen junge Frauen, die ihre langen, goldenen Haare kämmen. In den grünen Fluten schwimmen Nixen, die sich neckisch mit Wasser bespritzen. Bei den glitschig-grünen Felsen tanzen grazile Najaden mit einem tosenden Wasserfall um die Wette.

 

Das Wasser zieht mich unwiderstehlich an, und ich lasse mich hinein gleiten. Kühl fließt es um meinen Nacken. Ich fühle mich mit den Wasserjungfrauen verbunden und plansche fröhlich mit ihnen im Sonnenschein. Woher kommt eigentlich der Wasserfall auf dieser flachen Wiese? Mein Blick wandert nach oben, und ich sehe erstaunt, wie sich ein riesiger Wasserschwall aus dem blauen Himmel mitten ins runde Wasserbecken ergießt. Die Gischt von Millionen Wassertröpfchen glitzert in der Sonne.

 

Aber wieso läuft das Becken nicht über, wenn ununterbrochen so viel Wasser hinein strömt? Ich nehme eine andere Perspektive ein und betrachte die Szene von weitem. Mein Blick fällt auf den Boden, und ich sehe, dass das Wasserbecken unten hohl ist. Ein riesiges Loch klafft in seinem Grund, durch das große Wassermassen nach unten stürzen. Doch wohin ergießt sich das ganze Wasser?

 

Es fällt mitten ins Universum. Die Weite des Weltraums umfängt mich plötzlich. Aber er ist nicht schwarz, sondern hell und milchig trübe. Milliarden und aber Milliarden von Sternen sind in ihm enthalten, aber sie strahlen nicht hell, sondern bilden schwarze Punkte vor weißem Hintergrund. Das Ganze wirkt wie ein Negativ-Foto, das weiß und schwarz verkehrt herum darstellt. Die Wassertropfen formieren sich zu schwarzen Sternen-Punkten in einem weißen Universum.

 

Plötzlich tauchen breite Fischmäuler aus dem Nichts auf und fressen die dunklen Sterne. Ich wechsle wieder die Perspektive und betrachte das Bild aus großer Entfernung. Das All ist jetzt eine Schaufensterscheibe, in der sich vermummte Frauen spiegeln. Sie tragen schwarze Kopftücher.

 

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Die Medizinfrau sitzt auf einem Stein und ist in ihre Arbeit vertieft. In ihrem Schoß hält sie eine Tonschale mit frischen Mohnkapseln, die sie mit einem geschnitzten Holzstößel zerstampft und mit Wasser zu Brei verrührt. Dann gießt sie die Masse durch einen Filter, der aus einem gewebten Baumwolltuch besteht, in einen Krug. Den gewonnenen Saft füllt sie anschließend in Tonflaschen, welche die Form von Mohnkapseln haben.

 

Die Mohnkapsel ist das Symbol für die Göttin des Todes und der Nacht. Wir benutzen den Mohnsaft hauptsächlich für medizinische Zwecke und als Schlafmittel. Als Heilmittel stillt er Schmerzen aller Art und macht operative Eingriffe möglich, die sonst unerträglich wären. Im Regal an der Rückseite der Hütte liegen zu diesem Zweck allerlei medizinische Geräte aus Elfenbein, sauber der Größe nach nebeneinander aufgereiht.

 

Bei der Herstellung von pharmazeutischen Produkten aus Schlafmohn haben wir viel herumexperimentiert und verschiedene Mixturen ausprobiert. Wir ritzten die Kapseln an und aßen ihr Sekret, oder wir verbrannten die Wurzeln und inhalierten den Dampf. Dabei stellten wir fest, dass der Mohn auch eine Pflanze der Freude ist, die unsere kultischen Handlungen und Feste bereichern kann. Vor allem aber hilft uns die Droge, den Weg zur inneren Weisheit zu finden.

 

Wir sind inzwischen in der Lage, Arzneimittel herzustellen, die man später als Antibiotika und Kontrazeptiva bezeichnen wird. Niemand muss ungewollt Kinder bekommen. Bei unseren zahlreichen Erntedankfesten versammelt sich das ganze Dorf, um die Göttin durch gemeinsames Essen und Trinken zu ehren. Alle nehmen daran teil, ob Kind oder Greis, krank oder schwanger. Bis zur Nacht tanzen wir zu den Klängen von Panflöte und Lyra. Anschließend werden Schalen mit Opium herumgereicht.

 

Ich trinke, lausche nach innen und falle in Trance. Der Dorfplatz mit seinen tanzenden Menschen verschwimmt vor meinen Augen, und alle Dinge verschmelzen ineinander. Dann lichtet sich der Nebel. Ich liege in einem Wald und schaue nach oben. Ein Baum, so groß wie die ganze Welt, hängt verkehrt herum am Himmel. Seine Wurzeln ragen nach oben, die mächtige Krone hängt tief herab und droht auf mich zu stürzen. Der ganze Himmel ist verdunkelt. Gefahr liegt in der Luft. Ich muss meine Tochter schützen; schlimme Zeiten kommen auf uns zu.

 

***

 

Der Regen ist ausgeblieben. Schon vor mehreren Mondzyklen hätte es regnen müssen, damit die Natur sich erneuern kann. Jetzt sind alle Pflanzen und Früchte verdorrt, und wir leben von Wurzeln, die wir mühselig aus der Erde graben. Auch das Wasser ist verschwunden, und wir müssen tief bohren, um flüssige Erde zu finden, die wir filtern und das heraustropfende Wasser gleichmäßig an alle verteilen.

 

Viel schlimmer ist, dass die Tierherden in diesem Jahr nicht gekommen sind. Die Göttin gab keine frischen Gräser, die sie zu uns gelockt hätten. Wir ahnen, dass sie an dem großen See geblieben sind, den wir irgendwo am Ende der Welt vermuten. Unser getrocknetes Fleisch ist längst aufgebraucht, und wir Frauen sind gezwungen, Käfer und Ameisen zu sammeln, um die Sippe zu ernähren.

 

In der Meditation habe ich die Regengöttin gefragt, warum sie böse auf uns ist. Sie antwortete, sie sei gekränkt, weil wir den Sonnengott inniger verehrten als sie. Er bekommt regelmäßig die schönsten Tieropfer, während sie sich mit Wasser und Obstsaft begnügen muss, den wir für sie auf die Erde schütten. Als wir am Tag darauf noch ein altes Erdschwein aufspürten, habe ich durchgesetzt, dass es der Regengöttin geopfert wird, und wir haben es feierlich verbrannt. Aber es hat nichts genützt.

 

Der Hunger macht uns zu schaffen. Unsere Männer bleiben immer länger unterwegs und kommen oft mit leeren Händen von der Jagd zurück, oder gar nicht mehr. Auch die Alten verlassen uns und treten ihre Reise durch die Unterwelt an. Doch lässt die Göttin nur wenige Seelen zurück kommen, denn es werden immer weniger Kinder geboren. In der Unterwelt muss langsam ein Seelenstau entstehen. Wir Frauen fühlen uns unbehaglich, weil wir den Ahnen ihre Rückkehr nicht ermöglichen. Warum zürnt die Göttin uns so sehr?

 

Meine kleine Tochter ist traurig und weint viel. Zuerst verlor sie den freundlichen Alten, der so lustig die Vögel und andere Tiere imitieren konnte und sie damit zum Lachen brachte. Er lag eines Morgens auf seiner Matte und atmete nicht mehr. Wir brachten ihn in die Steinschlucht zum Gott der Hyänen, damit er seinen Eintritt in die Unterwelt beschleunige.

 

Dann verließ uns die liebe Großmutter, die den Kindern jeden Abend Geschichten erzählte, bis sie eingeschlafen waren. Bei Sonnenuntergang machte sie sich allein auf den Weg in die Steinschlucht und wartete dort auf den Hyänengott. Für uns bedeutete das eine Erleichterung, weil wir ihr Essen und ihre Wasserration einsparen konnten. Trotzdem wurde meine Kleine immer trauriger.

 

Wir werden immer weniger. Als Letzte ging die ältere Tante, die meiner Tochter das Schnitzen von Werkzeugen beigebracht hatte und ihr zeigte, wo man leckere Vogeleier findet. Sie ging ebenfalls freiwillig in die Schlucht, worüber das Mädchen untröstlich war. Es brach mir fast das Herz, sie so bitter schluchzen zu hören, denn sie ist ein Teil von mir. Ich nahm sie in die Arme und versuchte, uns zu trösten. Wie können die Seelen der Verstorbenen ihren Weg zurück auf die Erde finden, wenn sie nicht mehr wiedergeboren werden?

 

Ob sie mit ihrem alten Körper wieder auferstehen wollen? Ein schrecklicher Gedanke! Dennoch beschlossen wir, die Verstorbenen nicht mehr dem Hyänengott auszuliefern, sondern sie in der Erde, im Leib der Göttin, zu begraben, damit ihre Körper unversehrt blieben, bis sie eines Tages zurück kommen könnten. Außerdem gaben wir ihnen Werkzeuge, Felle und etwas Nahrung mit ins Grab, so viel wir entbehren konnten, damit ihre Körper auf dem Weg durch die Unterwelt versorgt waren.

 

Diese Beschäftigung tröstete uns über die immer häufigeren Verluste hinweg. Wir begruben unsere Familienmitglieder feierlich, riefen die Göttin zu ihrem Schutz an und versicherten uns gegenseitig, dass sie bald wieder kommen würden. Damit sie nicht in Vergessenheit gerieten, bezogen wir sie in unsere Gebete ein, auch um sie der Göttin so oft wie möglich in Erinnerung zu rufen.

 

Trotzdem blieb meine kleine Tochter melancholisch. Eines Tages fragte sie mich, wo die Unterwelt ist, damit sie hinabsteigen und den Toten etwas zu Essen bringen könne. Es seien jetzt so lange keine Kinder mehr geboren worden, dass dort unten eine drangvolle Enge und akuter Nahrungsmangel herrschen müsse. Mit Mühe brachte ich sie von dem Gedanken ab, und wir gingen dazu über, bei der Verteilung der täglichen Essensrationen die Ahnen mit einzubeziehen und alle ihre Namen aufzurufen.

 

***

 

Wir leben jetzt fast nur noch von den Herden. Sie versorgen uns mit Fleisch, Kleidung, Werkzeug und Geräten. Man kann alles von ihnen nutzen: ihr Fell, ihre Knochen, ihre Sehnen, Hufe und Haare. Natürlich fällt es uns schwer, die Tiere zu töten, es sind ja beseelte Wesen. Deshalb bitten wir ihre göttlichen Stellvertreter (Stiergott, Schafs- und Ziegengott) jedes Mal um Verzeihung, schenken ihnen ein Opfer und verwenden nur so viel, wie wir brauchen. Schließlich hat die Große Mutter uns diese Vorgehensweisen gezeigt und sie dadurch legitimiert.

 

Dummerweise bleiben die Tiere nicht an einem Ort, sondern ziehen immer weiter, dem frischen Laub und Gras hinterher. Da wir uns so sehr an die neue Lebensweise gewöhnt hatten, blieb uns nichts anderes übrig, als unsererseits hinter ihnen her zu ziehen, und so wurden wir zu Nomaden. Zum Glück lieferten sie uns auch die erforderlichen Häute, um Zelte zu bauen. Da wir jetzt ständig auf Wanderschaft waren, mussten wir flexibel wohnen, und Höhlen gab es (sie) selten.

 

Allerdings erweiterte sich unser Aktionsradius erheblich, und wir gerieten in völlig unbekannte Gebiete mit anderen klimatischen Verhältnissen und neuen Herausforderungen. Die Große Mutter ließ uns immer schneller lernen. Tierherden gab sie überall, und manche von uns waren so von Entdeckungslust und Forscherdrang beseelt, dass sie sehr weit reisten. Sie bauten sogar Schiffe aus Bäumen, mit denen sie über große Meere fuhren. Nun folgen sie den Rentieren im kalten Norden, den wilden Pferden in den asiatischen Steppen oder den Büffeln in der amerikanischen Prärie (die sie über die Aleuten erreichten).

 

Durch die unterschiedlichen Umweltbedingungen entwickelten sie sich schnell auseinander, sie bekamen andere Hautfarben und Physiognomien. Auch ihre Sprachen veränderten sich unterschiedlich, aber ihre Mythologie blieb die gleiche. Überall auf der Welt gab es die gleichen Naturgötter, überall gab es Jahreszeiten, und es waren nach wie vor die Frauen, die in Verbundenheit mit der Großen Mutter regelmäßig Kinder gebaren und so den Fortbestand der Sippen sicherten.

 

Die Relationen zwischen den Menschen untereinander, zu ihren Göttern und ihrer Umwelt blieben immer die gleichen. Die menschliche Evolution prägte die Archetypen tief in unsere Seele ein, wo wir sie heute noch finden können. Ob Große Mutter, weiser Alter, göttliches Kind, schöne Jungfrau, strahlender Held, trickreicher Gegenspieler, es ist alles noch da und kann wieder hervorgehoben werden.

 

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Die meisten von uns blieben im Mittelmeerraum, weil das Klima dort am angenehmsten war. Außerdem hatten wir eine umwälzende Entdeckung gemacht, die uns weitgehend von den Tierherden unabhängig machte: das Korn. Wir überlegten: Wenn die Tiere Gras fressen, und wir essen die Tiere, warum können wir dann nicht gleich selbst Gras essen? Aber es schmeckte uns nicht und war auch nicht sehr bekömmlich. Da zeigte uns die Große Mutter einige Gräser, deren Samen für uns geeignet waren.

 

Zunächst war es sehr zeitraubend, die Samen aus den Grannen zu schälen. Doch schnell verfeinerten wir unsere Methoden, bis wir schließlich in der Lage waren, Mehl zu gewinnen und daraus Brot zu backen. Dann lehrte uns die Göttin, den Samen in die fruchtbare Erde zu streuen und damit den Ertrag aktiv herbeizuführen. Die Ernte konnte für die kalte Jahreszeit aufbewahrt werden, und wir siedelten uns in der Nähe unserer Felder an. Durch die Bereicherung und Sicherung unserer Nahrung wuchsen unsere Populationen schnell, und es entstanden größere Ansiedlungen, hauptsächlich im östlichen Mittelmeerraum.

 

Unsere Sippen wurden größer und lebten jetzt in langgestreckten Gemeinschaftshäusern. Sie bestanden aus der ältesten Mutter und ihren Schwestern, Töchtern und Enkelinnen. Die Männer der Sippe waren ihre Brüder, Söhne und Enkel. Durch die gemeinsame Großmutter und die verstorbenen Urahnen waren alle in direkter Linie miteinander verwandt. Die Mythologie war immer noch die gleiche, und in den Vollmondnächten wurden die sakralen Handlungen zu Ehren der Liebesgöttin zelebriert.

 

Dazu trafen sich Männer und Frauen aus verschiedenen Sippenhäusern entweder draußen an den heiligen Stätten oder in Gemeinschaftshäusern. Die Männer hatten sich von Anfang an separiert, waren sie es doch seit Urzeiten gewohnt, in Jagdgemeinschaften miteinander zu leben und nur gelegentlich die Frauen zu besuchen. Männer arbeiteten für ihre Sippe und aßen im Haus ihrer Mutter, aber nachts schliefen sie meist in Männerhäusern, wo sie regelmäßig ihre Jagdriten abhielten.

 

Die gute Verpflegung brachte es mit sich, dass sich die Liebes-Rituale nicht mehr auf die Vollmondnächte beschränkten, sondern immer häufiger stattfanden. Das Liebesleben zwischen den Sippen blühte ebenso auf wie die schönen Künste. Gleichzeitig wurden immer mehr Kinder geboren, aber den Zusammenhang durchschauten wir nicht. Die Kinder gehörten den Müttern der Sippe und wurden gemeinschaftlich erzogen. Onkel, Vetter und Neffen waren nur mit den Kindern ihrer Schwestern verwandt. Die Vaterschaft war uns nicht bekannt und spielte auch keine Rolle.

 

Wir arbeiteten gemeinsam auf den Feldern, jeder nach Körperkraft und Vermögen, und erwirtschafteten einen Überschuss. Der wurde gelagert und redlich geteilt mit den Alten, Schwachen und Kindern. Wir bildeten eine Solidargemeinschaft, und die Dorfälteste wachte darüber, dass jedes Mitglied zu seinem Recht kam. Das erforderte manchmal viel Palaver, war aber unerlässlich. Eine Anhäufung von Privatbesitz war verpönt und wurde durch Missachtung geahndet, schlimmstenfalls durch Ausstoß aus der Gemeinschaft. Alle Produktionsmittel und Werkzeuge gehörten der Sippe.

 

Dank des erwirtschafteten Überschusses wurden einige Arbeitskräfte frei und in die Lage versetzt, anderen Tätigkeiten nachzugehen, die aber immer der Gemeinschaft dienten. Die neue Arbeitsteilung ermöglichte die Entwicklung von Technologien, Handwerken und Künsten. Viele von uns spezialisierten sich auf eine bestimmte Dienstleistung und konnten ihre Technik schnell verfeinern. Unsere Siedlungen enthielten immer mehr Sippenhäuser, die untereinander ihre Produkte austauschten und bald anfingen, mit anderen Siedlungen Handel zu treiben.

 

Die ersten Städte und Handelszentren entstanden an den Mittelmeerküsten. Sie wurden so groß, dass die Menschen sich untereinander nicht mehr kannten. Trotzdem waren wir alle verwandt und verschwägert, und durch unsere Sippennamen konnten wir die komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse zuordnen. Die Namen folgten grundsätzlich der weiblichen Linie. Wir lebten immer noch in Sippenverbänden; doch aufgrund der Größe unserer Siedlungen mussten jetzt viele Funktionen zentralisiert werden. An der Spitze der Verwaltung standen üblicherweise eine Priesterin und ein König, zuständig für die geistigen und die weltlichen Belange.

 

Um den Warenaustausch effektiver zu gestalten, benutzten wir Kauri-Muscheln als Währung. Bald zogen schwer beladene Karawanen entlang der Handelswege und brachten bemalte Tonkrüge, aus Holz geschnitzte Göttinnen und kunstvoll gewebte Gewänder in die entlegensten Provinzen. Gelegentliche Streitigkeiten wurden durch Richterinnen geschlichtet, die in den Städten Recht sprachen. Denn die Gerechtigkeit war weiblich, ebenso wie die Weisheit und die Kreativität. Eine exponentielle Zunahme an Göttinnen repräsentierte diese Verhältnisse auch am Himmel.

 

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Unsere ganze Existenz liegt in den Händen der Götter. Sie verfügen über unser Wohl und Wehe, und sie sind sehr unberechenbar. Wenn sie uns zu viel oder zu wenig Regen schicken, verdirbt die Ernte, und wir müssen hungern. Das gleiche gilt für Unwetter, Überschwemmungen und Erdbeben. Sie können uns auch ein Kind oder einen geliebten Menschen nehmen, uns Krankheit und Schmerzen zufügen oder unsere Männer so aggressiv machen, dass sie sich gegenseitig umbringen.

 

Wir ehren jeden einzelnen Gott durch regelmäßige Rituale, Gebete und großzügige Opfer, damit er uns nicht zürnt. Manchmal haben wir das Gefühl, auch selbst etwas für unser Wohlergehen tun zu können. Durch Nachdenken und genaue Beobachtung der Naturgesetze erfanden wir viele Geräte und Techniken, die uns das Leben erleichtern. Selbst wenn ein eifersüchtiger Gott uns eine Katastrophe schickt, die alles zerstört, bleiben die Gedanken in unseren Köpfen erhalten, und wir bauen es wieder auf.

 

Wenn uns die Götter wohlgesonnen sind und das Wetter ausgeglichen ist, sind wir ein glückliches Volk. Die Arbeit macht Spaß, wenn jeder das tun kann, was seiner Begabung entspricht. Niemand ist überflüssig, jeder Beitrag wird begrüßt, so hat jeder seinen festen Platz in der Gesellschaft. Wir behandeln uns liebevoll und respektieren einander, eventuelle Verfehlungen werden in der Gemeinschaft diskutiert und mit angemessenen Strafen belegt, so dass selbst schlimme Vergehen gesühnt werden können und der Betreffende wieder im Einklang mit dem Kosmos ist.

 

Eigentumsdelikte sind kaum möglich, da jeder genug Nahrung und Kleidung besitzt. Die Gebäude, Vorräte und Geräte gehören der Allgemeinheit und können gar nicht einzeln genutzt werden. Ist jemand schuld am Tod eines Stammesmitglieds, stellt er der geschädigten Familie seine eigene Arbeitskraft zur Verfügung, so lange, bis sich das Gefühl der Harmonie wieder einstellt. Das kann ein Leben lang dauern, je nachdem, ob böse Absicht oder Fahrlässigkeit vorlagen. Nur in aussichtslosen Fällen verhängen wir unsere höchste Strafe: Die Verstoßung aus der Sippe.

 

Einsamkeit und Isolation sind angstbesetzte Zustände, die wir am meisten fürchten. Wenn das Ich beginnt, mit sich selbst zu kommunizieren, wendet sich die Aufmerksamkeit nach innen. Die Natur erscheint dann in einem unnatürlichen Licht, hinter jedem Busch scheinen magische Gefahren zu lauern. Ohne den Schutz der Gemeinschaft ist ein Mensch den dunklen Dämonen ausgesetzt, die aus der Tiefe seiner Seele aufsteigen. Sie können ihn so lange quälen und jagen, bis er freiwillig den Tod sucht. Deshalb überleben Einzelgänger in der Wildnis nur selten.

 

In unseren Dörfern gibt es keine Einsamkeit. Wir leben, arbeiten und schlafen in unseren Familienverbänden, und wenn sich trotzdem mal jemand allein fühlt, stehen ihm die Freudenhäuser zur Verfügung. In diesen langgezogenen Gemeinschaftshütten sind immer Männer und Frauen anzutreffen, die miteinander reden, musizieren, sich berauschen oder lieben. Normalerweise hat das auch keine Konsequenzen, weil wir keine engen partnerschaftlichen Bindungen pflegen und keine Treue kennen.

 

Manchmal kam es allerdings doch zu Eifersuchtsszenen aufgrund von persönlichen Besitzansprüchen. Die sind zwar moralisch nicht gerechtfertigt, aber um weitere Streitereien zu vermeiden, gingen wir dazu über, Masken zu tragen. Meist handelte es sich um kunstvoll geschnitzte Tiermasken, die wir aus Holz und Leder anfertigten. Wer eine Maske trug, besaß praktisch Narrenfreiheit und konnte sich mit jedem anwesenden Mann oder mit jeder Frau paaren, ohne Ansehen des Verwandtschaftsgrades.

 

Wir stellten fest, dass die Anonymität den Reiz der Liebesakte noch erhöhte. Die Masken von potenten Tieren erfreuten sich bei den Männern größter Beliebtheit. Besonders gern verkleideten sie sich als brünstige Hirsche, deren Potenz schon immer allgemeine Bewunderung hervorgerufen hatte. Schließlich waren wenige männliche Exemplare in der Lage, den Fortbestand ganzer Herden zu sichern. Für uns Frauen war die Vorstellung besonders erregend, vom Fruchtbarkeitsgott persönlich begattet zu werden. In den südlichen Ländern nahm der Stiergott diesen Rang ein.

 

In diesem Zusammenhang entstanden die Mythen um die magische Hirschjagd in den nordischen Wäldern, auch das Märchen von Brüderchen und Schwesterchen fand hier seinen Ursprung. Der Brauch, Masken zu tragen, um Narrenfreiheit zu genießen, hielt sich über die Jahrtausende in fast allen Ländern und konnte selbst vom Christentum nicht ausgerottet werden. Gerade in katholischen Ländern wird heute noch einmal im Jahr mehr oder weniger ausgelassen Karneval gefeiert.

 

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Das gute Leben bescherte uns Muße, über uns und die Welt nachzudenken. Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Ehrfürchtig beobachteten wir den Himmel und seine Götter. Wir sahen die Sterne jede Nacht über uns kreisen und suchten nach Erklärungen. Waren es unsere verstorbenen Ahnen? Konnten die besten Seelen dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburt entkommen und in den Himmel gelangen? Unsere Phantasie fügte die Sternkonstellationen zu Bildern und Abläufen zusammen, zu denen wir uns komplexe Mythologien ausdachten.

 

Wir waren so fasziniert vom himmlischen Geschehen, dass wir versuchten, die Sternbilder auf der Erde nachzubauen. Überall auf der Welt entstanden monumentale Steinkreise und Landschaftsbilder, deren Anordnung exakt den Sternkonstellationen entsprach. Komplizierte Architekturen lenkten das göttliche Licht zur Sonnenwende auf eine Offenbarung, die eine Priesterin in den Stein gemeißelt hatte. Durch unsere Kreativität waren wir den Göttern nahe, und meistens hielten wir uns selbst für göttlich.

 

Wir bauten auch Labyrinthe. Sie repräsentieren den Kreislauf der Seele in ihrer endlos suchenden Wanderung über die Erde und durch die Unterwelt, bis zu ihrer Erlösung, wenn sie als Stern verwandelt ihr Licht am Himmel erstrahlen lässt. In unseren Labyrinthen waren wir den verstorbenen Seelen nahe. Hier veranstalteten wir auch heilige Spiele. Darin ging es um Leben und Tod, Sterben und Widergeburt, um Götter und Menschen, Priesterinnen und Könige. Manchmal ging es auch um Liebesspiele.

 

Ich werde gebadet, mit duftenden Salben eingerieben und kunstvoll frisiert. Eine erwartungsvolle Spannung liegt in der Luft, und meine Schwestern schwatzen aufgeregt, während sie mir ein kostbares Gewand anlegen, mich schmücken und mit meinen Insignien versehen. Inzwischen tritt die Dämmerung ein, und ich werde zum heiligen Labyrinth getragen. Dort erwarten mich die kompletten Sippenverbände mit ihren ältesten Müttern, die sonst nur selten den heimischen Herd verlassen.

 

Ich nehme ihre Huldigungen entgegen und trage die Schlangensymbole als Zeichen meiner weiblichen Würde. Auf dem Thron der Hohen Priesterin nehme ich Platz, und nun können die Spiele beginnen. Die Trommeln setzen ein, und die Zuschauer fangen an, rhythmisch mit den Füßen zu stampfen. Dichte Schwaden von Weihrauch liegen in der Luft, und die Tänzer geraten langsam in Trance. Hunderte von Fackeln beleuchten die Szenerie.

 

Plötzlich tritt der König auf den steinernen Platz vor dem Eingang zum Labyrinth. Großer Beifall empfängt ihn, den er regungslos entgegennimmt. Seine schwere Stunde ist angebrochen, und er weiß, dass er nun bezahlen muss für seine lange Regentschaft. Er tritt vor meinen Thron und schaut mir ins Gesicht. Ein Schmerz zuckt in mir auf, unwillkürlich denke ich an viele leidenschaftliche Nächte, die wir zusammen verbracht haben, indem wir die göttlichen Gebote erfüllten.

 

Doch ich unterdrücke die Anwandlung, für persönliche Gefühle ist die Zeit noch nicht gekommen. Wir sind keine Individuen mit eigener Identität und Entscheidungsfreiheit, sondern Kinder der großen Mutter und fest eingebunden in ihren göttlichen Kreislauf von Tod und Wiedergeburt. Mit ausdruckslosem Gesicht reiche ich ihm die weiße Lilie, und nun zuckt er zusammen, nimmt sie aber aufrecht entgegen.

 

Majestätisch dreht er sich um, lässt sich von seinen Freunden den Umhang abnehmen und den Helm anlegen. Dann nimmt er sein Schwert und den schweren Schild entgegen und stampft nackt unter ohrenbetäubendem Trommeln in das Labyrinth. In der Mitte erwartet ihn sein Widersacher und Herausforderer, der junge Held, den die Göttin mich als potenziellen Nachfolger auswählen ließ. Der Ausgang des Kampfes ist vorgezeichnet durch die kräftemäßige Überlegenheit des jugendlichen Anwärters gegenüber dem alten König. Durch die weiße Lilie habe ich ein Zeichen gesetzt.

 

Jetzt erscheint die Mondgöttin in ihrer vollen Gestalt am Himmel und segnet das Geschehen ab. Durch unsere Trance können wir genau sehen, was sich im Labyrinth abspielt. Diesmal dauert der Kampf nicht lange. Während der alte König noch den Mittelpunkt sucht, ist der junge schon hinter ihm und überwältigt ihn schnell. Unsere Ekstase erreicht den Höhepunkt, als der junge Mann blutbeschmiert und schwer atmend aus dem Labyrinth wankt. Mit rasendem Beifall wird der neue König begrüßt. Er tritt vor meinen Thron und empfängt von mir die rote Rose.

 

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Dann allerdings ging etwas schief. Wir machten eine Erfahrung, die wir falsch interpretierten, und die uns zum Verhängnis wurde.

 

Der Ackerbau bescherte uns zwar genug zu essen, zumal wir auch Früchte und Gemüse anbauten, aber das Fleisch musste immer noch durch die Jagd beschafft werden (die Göttin der Jagd war übrigens auch weiblich). Schnell nahmen die Wildbestände in unserer Umgebung ab, und die Männer mussten immer weiter ausschwärmen, um Beute zu machen. Deshalb bekamen sie die Idee, ein paar weibliche Tiere einzufangen und sie in Gattern einzupferchen, um sie am Weglaufen zu hindern. Sie sollten sich vermehren und unseren Fleischbestand auf bequeme Weise sichern.

 

Wir wussten, dass diese Methode in den alten Kulturgebieten schon praktiziert wurde, und wollten es jetzt auch selbst versuchen. Leider klappte es bei uns nicht. Die Tiere starben nach und nach, aber es wurden keine neuen geboren. Der göttliche Kreislauf von Tod und Wiedergeburt war gestört, die Göttin schien uns zu zürnen. Alles Beten und Opfern half nicht, und so experimentierten unsere Männer weiter erfolglos herum. Sie verbrachten viel Zeit damit, die Tiere in der Wildnis genau zu beobachten, um hinter das Geheimnis ihrer Vermehrung zu kommen.

 

Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Die Götter schenkten erst einem von ihnen ein Bild. Er sprach mit den anderen darüber, und sie bekamen die gleichen Bilder. Die Lösung war so einfach, im Grunde hatten sie es längst geahnt, aber nicht für möglich gehalten: Männliche Tiere waren für die Nachwuchsproduktion erforderlich! Im göttlichen Akt, dem auch die Tiere folgen, wird neues Leben gezeugt! Sofort fingen sie männliche Tiere ein, brachten sie in die Gatter zu den weiblichen – und hatten umgehend Erfolg mit der Viehzucht.

 

Nach und nach schlich sich ein Gedanke ein, der nicht von der Göttin kam: Wenn es bei den Tieren so funktioniert, könnte es bei uns Menschen nicht ebenso sein? Sind möglicherweise die Männer für die Kinderproduktion verantwortlich? Ist es der männliche Same, der den Keim für neues Leben setzt? Stellen die Frauen nur den Ackerboden dar, der den Samen austrägt? Die Plausibilität dieser Annahme konnte schnell nachgewiesen werden, und sie hatte fatale Auswirkungen auf das weitere Zusammenleben. Jetzt bekamen wir zu spüren, wie es ist, wenn Männer göttlich sind.

 

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Als wir die Zusammenhänge der Fortpflanzung erkannten, versuchten wir gleich, sie geistig und sakral in unser Weltbild einzubinden. Unsere Phantasie lieferte dazu die passenden Bilder, in denen Götter sich mit Menschen paarten, oft in der Gestalt von Tieren. Die Ergebnisse dieser Vereinigungen waren überraschend: Zentauren, Minotauren, Sirenen, Najaden, Sphinxe und andere Mischwesen tauchten auf und bevölkerten unsere Mythen. Der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt.

 

Der heilige Stier, an dem wir zuerst die männliche Rolle bei der Reproduktion studieren konnten, wurde unser neuer Fruchtbarkeitsgott. Apis wohnte in der Mitte von Labyrinthen und musste in Initiationsriten von den jungen Männern bezwungen werden, damit seine Zeugungskraft auf sie überging. Überall gab es plötzlich männliche Fruchtbarkeitsgötter. Im Norden war es der Hirschgott, in anderen Ländern der Hahn oder wer auch immer als Haustier bei seinen Fortpflanzungsbestrebungen beobachtet werden konnte.

 

Jetzt erkannten wir auch, dass unsere menschlichen Geburten nach ausgeklügelten Gesetzen abliefen. Wenn die Zahl der Männer durch Kriege dezimiert war, wurden mehr Söhne als Töchter geboren, um das Defizit auszugleichen. Gab es zu viele Männer, töteten sie sich gegenseitig in Kämpfen, bis die Population wieder ausgeglichen war. Allerdings durchschauten wir nicht den Mechanismus, der das bewirkte. Einige Männer versuchten, die Harmonie selbst zu steuern, indem sie Frauenharems einrichteten. Hier wandten sie das neue Prinzip der Viehzucht an, wobei sie selbst die Rolle des heiligen Stiers übernahmen.

 

Erst viel später entdeckten wir die Funktion des spontanen Eisprungs, der bei Frauen plötzlich auftritt, wenn die Männer aus dem Krieg zurückkehren. Da die männlichen Samenzellen schneller sind als die weiblichen, erreichen sie das fortpflanzungsbereite Ei zuerst und provozieren einen männlichen Nachkommen. Dafür sterben sie eher ab als die weiblichen. In Friedenszeiten, wenn kein Mangel an Männern herrscht, haben die weiblichen Samenzellen größere Chancen, das Ei zu erreichen, weil sie länger leben. Es sind immer schon welche da, wenn der Eisprung erfolgt.

 

Inzest-Beziehungen wurden noch lange Zeit toleriert. Sie erreichten ihren Höhepunkt bei den ägyptischen Pharaonen. Weil diese sich für göttlich hielten, sollten auch ihre Nachkommen göttlich sein. Da jedoch das Prinzip der Matrilinearität noch galt, betraf die Göttlichkeit immer nur die Kinder aus der königlichen Mutterlinie. Haremsdamen konnten keine Götter gebären. Also heirateten Pharaonen meist ihre eigenen Schwestern und Kusinen, mit denen sie die göttliche Königinmutter oder Großmutter teilten. Sie allein waren in der Lage, göttliche Kinder hervorzubringen.

 

Von Echnaton wird gemunkelt, dass er sogar seine Mutter Teje geheiratet hat, da seine Schwestern (von Kusine Nofretete?) vergiftet worden waren. Aus dieser Verbindung soll sein Sohn-Bruder Tut Anch Amun hervorgegangen sein. Später heiratete Echnaton Nofretete, mit der er vier Töchter hatte. Viele glauben, dass er auch seine vier Töchter heiratete, die aufgrund ihres zarten Alters früh im Kindbett starben. Schließlich soll er sich sogar seinem Sohn-Enkel zugewandt haben. Viele tausend Jahre später werden die (meist englischen) Archäologen über das Ausmaß der kaiserlichen Inzucht schockiert sein.

 

Der ägyptische Pharao trug unter anderem den Titel „Starker Stier“, und es war seine Aufgabe, den göttlichen Samen möglichst breit zu streuen. Die Ägypter lebten nach der schönen Maxime, niemanden zum Weinen zu bringen. Sie waren überhaupt sehr klug und hatten eine Göttin der ausgleichenden Harmonie: die Maat. Wenn sich das göttliche Gleichgewicht verschob zwischen Pharao und Priestern, oder zwischen Hofbeamten und Bauern, sorgte die Göttin dafür, dass die überlegene Partei sich selbst zurücknahm, um die gerechte Weltordnung wieder herzustellen.

 

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Wir kommen aus den Bergen zurück und sind unruhig. Schon seit Tagen ist der Himmel verdunkelt, und wir kommen nur langsam vorwärts, weil wir kaum etwas sehen können. Zum Glück scheinen unsere Kamele den Weg zu ahnen und weichen instinktiv allen Hindernissen aus. Die Königin thront in ihrem bequemen Baldachin-Gemach zwischen zwei Kamelen, das wir extra für sie konstruiert haben. Ihre Tiere sind pompös geschmückt, aber auch das restliche Gefolge prangt in edlem Dekor und macht unserem Ruf als Delegierte der „Goldenen Stadt“ alle Ehre.

 

Allerdings sieht man jetzt nichts von der Pracht, und unsere Stimmung ist bedrückt. Wieso wird es nicht hell? Hat die alte Erdmutter den Sonnengott jetzt endgültig verschluckt? Eigentlich glauben wir nicht mehr so recht an die alten Mythen, aber nun sind wir ratlos. Vielleicht ist es eine Sonnenfinsternis? Aber die dauert niemals so lange. Oder sind es nur die üblichen Bergnebel? Die sind aber noch nie so schwarz und undurchdringlich gewesen, außerdem ist keine Regenzeit. Die Felsen müssten eigentlich rot in der Sonne leuchten, und die Luft müsste vor Hitze vibrieren.

 

Besorgt schauen wir nach vorn und versuchen, die Schwärze zu durchdringen. Der Pass müsste bald erreicht sein, vor uns müsste die endlose Tiefebene unseres geliebten Vierstrom-Landes erscheinen mit seiner üppigen Vegetation und den reichen Dörfern, und in der Ferne könnte man schon die goldene Stadt erkennen, die vor dem tiefblauen Meer liegt. Bei diesem Gedanken erfasst mich eine tiefe Sehnsucht nach meiner Heimat (später einmal wird man sie das Zweistrom-Land nennen, wenn die große Flut die gesamte Geografie verändert hat).

 

Wir alle haben unsere Kinder und Familien lange Zeit allein gelassen und können es kaum erwarten, sie wieder zu sehen. Viele Monde waren wir unterwegs, um die Könige und Priesterinnen der Nachbarländer kennenzulernen und diplomatische Beziehungen zu knüpfen. Mit ihrem Hofstaat der kühnsten Wissenschaftler und Architekten, edelsten Priesterinnen und Philosophinnen, zu denen auch ich gehöre, wurde unsere Königin überall äußerst zuvorkommend begrüßt, selbst am Hof des mächtigen Pharao, des Sonnengottes von Ägypten.

 

Unser Ruf als moderne, innovative Stadt war uns schon vorausgeeilt, und alle versuchten, uns auszufragen, um von uns zu lernen. Worin ist unser rasanter Aufstieg, unser geistiger und materieller Reichtum begründet? Wir wissen es selbst nicht genau, wahrscheinlich hängt es mit der Arbeitsteilung zusammen, die viele Überschüsse ermöglicht. Jedenfalls ging es steil bergauf, als meine schöne Freundin neben der Priesterinnen-Funktion auch noch die Regentschaft übernahm. Die Regierungsperiode des alten Königs war abgelaufen, und es fand sich kein geeigneter neuer, um ihn herauszufordern.

 

Seitdem sind wir ein glückliches Volk. Wir pflegen die freie Liebe und die schönen Künste, achten die Natur und ihre Spiritualität, betreiben die Wissenschaften und Handwerke, benutzen Schreibtafeln zur Kommunikation und haben eine echte Demokratie etabliert, in der sich wirklich jedes Mitglied einbringen kann. Man sagt uns sogar nach, dass wir besonders schöne Menschen seien. Während ich meinen Gedanken nachhänge, höre ich vorn laute Schreie.

 

Und dann sehe ich es selbst: Eine riesige schwarze Mauer baut sich vor uns auf. Was ist das, um Himmels Willen? Die Wand scheint über die gesamte Ebene zu rollen und hat uns fast erreicht. Es ist Wasser! Eine gigantische Woge schwarzen Wassers rast auf uns zu! In heller Panik reißen wir unsere Tiere herum und eilen im Galopp zurück in die Berge. Unsere kostbaren Geschenke fliegen aus den Verschnürungen und bleiben am Wegrand liegen. Auf sie können wir keine Rücksicht mehr nehmen, wir können ja nicht mal einen klaren Gedanken fassen. Nur weg von diesem schwarzen Grauen!

 

Eigenartig, welche Gedanken uns durch den Kopf jagen können, während wir um unser Leben rennen. Kann es sein, dass die ganze Heimat im Meer verschwunden ist? Mit all ihren Menschen, Tieren und kulturellen Errungenschaften? Können wir selbst uns retten? Was sollen wir tun? Den Pharao um Hilfe bitten? Oder uns irgendwo anders ansiedeln und von vorn anfangen? Immerhin haben wir unsere Königin und die attraktivsten Männer bei uns. Während ich solch wirres Zeug denke, treibe ich mein Kamel zu Höchstleistungen an, um dem schwarzen Entsetzen hinter mir zu entrinnen. Die Königin neben mir tut dasselbe.

 

***

 

Die Welt hat sich verändert, und das Leben ist hart geworden. Mutter Erde wütet gegen uns. Sie bebt immer öfter und verschluckt ganze Dörfer. Wenn sie ihren gierigen Schlund öffnet, fallen alle Menschen, Tiere und Häuser hinein und werden nicht mehr gesehen. Warum ist sie so zornig? Auch die Regengöttin verfolgt uns mit ihrem Unmut. Die Regenzeiten werden immer länger, die Flüsse verlassen ihre Betten und überschwemmen das Land, so dass die Ernten verfaulen und nichts mehr wächst.

 

Am schlimmsten gebärdet sich das Meer. Es erhebt sich so hoch wie ein Berg und überschwemmt das Land aus der anderen Richtung. So weit das Auge reicht, sehen wir nur noch Wasser, und alle Siedlungen diesseits der Berge sind verschwunden. Der Sonnengott verbirgt sein Antlitz vor dem Elend und wandert nur noch selten über den Himmel, und auch die Mondgöttin wurde lange nicht mehr gesehen. Wir hungern und frieren und versuchen, in den Bergen zu überleben, wie früher. Einige von uns wanderten zu den verwandten Sippen, die noch ihren Acker bestellen können. Warum schicken die Götter uns so viele Katastrophen? Wir ahnen den Grund.

 

Wilde Reiter kamen aus dem Norden und fielen bei uns ein. Da wir die Gastfreundschaft hoch halten, gaben wir ihnen alles, was sie wollten. Und sie wollten viel. Sie waren sehr hungrig, sehr gierig und nahmen nicht nur unsere Vorräte, Schmuck und Artefakte, sondern übernahmen allmählich auch unsere Häuser und uns selbst. Wir sind keine Krieger, und als wir endlich anfingen, uns zu wehren, war es schon zu spät. Plötzlich waren sie die Besitzer aller Dinge, die wir geschaffen hatten, und lachten uns aus. Jetzt arbeiten wir für sie.

 

Auf unsere Söhne hatten die Fremden einen unheilvollen Einfluss. Sie neigten schon immer dazu, älteren und stärkeren Männern Glauben zu schenken. Insgeheim bewunderten sie ihre Reitkünste, ihre Entschlossenheit und ihr männliches Auftreten. Schnell vergaßen sie ihre Erziehung zur Liebe und zum gegenseitigen Teilen. Aufgehetzt durch die überheblichen Krieger wurden unsere Söhne aufsässig und wollen ihre Mütter nicht mehr respektieren. Statt der Muttergöttin begannen sie, die Götter der Eindringlinge zu verehren, die ihnen Ruhm und Herrlichkeit versprachen.

 

Unsere Töchter waren teils angezogen von den sehnigen, braunen Männern, teils von ihrer Rohheit abgestoßen. Was aber gar keine Rolle spielte, da diese sich ohnehin nahmen, was ihnen gefiel. Und unsere Töchter schienen ihnen sehr zu gefallen. Die armen Kleinen wurden schnell desillusioniert, als sie von den neuen Herren vereinnahmt wurden, die sie ebenso zu ihrem Besitz zählten wie alle anderen schönen Dinge. Sie achteten aber die weibliche Würde nicht, sondern machten sich über sie lustig und nahmen ihnen alle Rechte.

 

Und unsere Männer? Sie waren ambivalent. Eigentlich glaubten sie auch nicht mehr an die große Göttin und hielten es für an der Zeit, dass männliche Götter ihren Platz einnahmen. Allerdings waren sie darauf konditioniert, ihre Frauen und Mütter zu ehren und zu beschützen. Als einige von ihnen sich zaghaft den neuen Herren entgegenstellten, bezahlten sie es mit ihrem Leben. Wir Frauen waren verzweifelt über das massive Unglück, das so plötzlich über uns hereingebrochen war, hatten aber wenig Zeit, es zu beklagen, weil wir mit dem nackten Überleben beschäftigt waren. Eines war jedoch völlig klar: Da sich die Menschen allmählich von der großen Göttin abwandten, tobte und wütete sie gegen uns.

 

***

 

Heute ist wieder Markt. Obwohl ich längst aus meinem beschaulichen Dorf in die Stadt gezogen bin, bin ich immer noch beeindruckt von dem bunten Gewimmel in den verzweigten Straßen mit ihren einstöckigen Häusern. Ich hätte nie geglaubt, dass es so viele verschiedene Menschenrassen gibt: Schwarze Nubier bieten Elfenbein und Edelsteine an, ägyptische Händler verkaufen feine, durchsichtige Baumwollstoffe, hagere bärtige Perser halten kunstvoll gearbeiteten Schmuck feil, barbarisch aussehende Nordmänner bieten sich selbst als Arbeitskräfte an.

 

Dazwischen die Bäuerinnen aus dem Umland mit ihren Agrarprodukten, Viehhändlerinnen mit Ziegen, Schafen und Geflügel, Weberinnen und Teppichknüpferinnen, die ihre Arbeiten des letzten Winters ausstellen, Töpferinnen, die vor Ort die schönsten Krüge und Amphoren herstellen. Sie benutzen dazu eine moderne Erfindung: die Töpferscheibe, und ich könnte ihnen stundenlang dabei zuschauen. Die Luft ist voll vom Duft exotischer Gewürze in Jutesäcken, die aus Indien und China kommen.

 

Edle Griechen unterhalten Schreibstuben, Wahrsagerinnen sagen die Zukunft voraus, Musikanten spielen auf, Gaukler und Jongleure unterhalten das Publikum mit ihrer Akrobatik. Es gibt kein Produkt, das hier nicht erhältlich ist. Etwas abgelegen werden Liebesdienste angeboten, und zwar für beide Geschlechter. Auf Anfrage bekommt man sogar fette Säuglinge für den besonderen Festschmaus. Die schwarzen sind erschwinglich, aber für einen weißen Säugling werden horrende Preise verlangt.

 

Ich selbst bin eine Geschichtenerzählerin und biete die uralten Geschichten meines Volkes an, die ich von meinen Müttern und Großmüttern gehört habe. Dazu sitze ich vor der Tür meins eigenen Hauses, umringt von aufmerksamen Zuhörern. Am liebsten hören sie die Mären von Drachenkämpfen, tapferen Helden, schönen Prinzessinnen und grausigen Ungeheuern. In der Mittagspause lasse ich mir Brot, Fleisch und Wein kommen. Ich trinke überhaupt nur Wasser, das mit etwas Wein versetzt ist. Das verdirbt nicht, hält gesund und macht beschwingt.

 

Nebenan sitzt meine Nachbarin ebenfalls vor ihrer Tür. Sie ist eine Heilerin und hat viel zu tun. Ihr lukrativstes Geschäft ist der Verkauf von Verhütungsmitteln und Entzündungshemmern, die man später einmal als Kontrazeptiva und Antibiotika bezeichnen wird. Wir rauchen eine Glückspfeife und nicken uns zu. Es geht uns gut in dieser Stadt. Das Leben ist leichter und abwechslungsreicher als auf dem Land. Seit wir den Handel entdeckt haben, benutzen wir die Gesetze der freien Marktwirtschaft, um schnell reich zu werden. Wo ein Angebot ist, gibt es auch einen Bedarf, und wenn nicht, wird ein Bedarf geschaffen. Man kann alles verkaufen, Waren oder Dienstleistungen, der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.

 

Das Zählen, Messen und Wiegen sind eigentlich männliche Erfindungen, aber wir können genauso gut feilschen und taktieren wie sie. Auch Frauen unterhalten Handelsketten und Karawanenzüge, die gelegentlich von Räubern und Wegelagerern beiderlei Geschlechts ausgeraubt werden. Auf den Meeren kursieren neben den Handelsschiffen auch zahlreiche Piratenschiffe mit weiblichen und männlichen Freibeutern. Die Gesetze sind nicht allzu streng. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass immer mehr Männer die Aufgaben der Verwaltung und der Rechtsprechung wahrnehmen.

 

Manchmal bekommen wir Gewissensbisse, weil unsere Mütter uns humanistisch erzogen haben im Sinne von Freiheit, Gleichheit und Schwesterlichkeit. Sie verteilten ihre Güter noch gleichmäßig an alle, ungeachtet individueller Leistungsfähigkeit. Reichtum wurde nur dann geduldet, wenn er der ganzen Sippe gehörte. Doch im modernen Stadtleben können wir auf moralische Regungen keine Rücksicht nehmen, denn wenn wir nicht ebenso skrupellos sind wie die Männer, werden wir schnell von ihnen übervorteilt und laufen Gefahr, im Harem zu landen.

 

***

 

Er ist ein Rebell, und ich liebe ihn. Noch nie war ich von einem Mann so fasziniert, wie von ihm. Wenn er mich mit seinen schwarzen Augen anschaut, werde ich fast überwältigt von dem Verlangen, mit Leib und Seele mit ihm zu verschmelzen. Das geht aber nicht, denn am Tag sind wir zwei Krieger, die einen geistigen Krieg führen. Unsere Waffen sind die Worte. Erst in der Nacht verwandeln wir uns in ein Liebespaar.

 

Wir ziehen durch das Land und reden mit den Menschen, um sie von unseren Ideen zu überzeugen. Und sie lassen sich gern überzeugen, die Zeit scheint reif zu sein für eine totale Umkehr. Gemeinsam werden wir die Römer aus dem Land jagen und die alten Zustände der Liebe und gegenseitigen Achtung wieder einführen. Immer mehr Anhänger schließen sich uns an, und manche ziehen mit uns weiter, um die Botschaft überall zu verbreiten.

 

Mein Liebster ist mutig und beugt sich nicht vor der Obrigkeit, weder vor den Römern noch vor den korrupten Vasallen. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er Jerusalem durch das östliche Tor betritt, das doch den Herrschern vorbehalten ist. Sie passieren die Stadtmauern gern publikumswirksam mit ihrem prächtigen Gefolge und lauten Getöse, aber die Leute winken ihnen nur müde zu. Er jedoch hat das Volk auf seiner Seite. Sie öffneten ihm das Tor und jubelten ihm zu, als er lorbeerbekränzt auf einem Esel in die Stadt ritt, ein Inbegriff aufmüpfigen Understatements.

 

Mit Belustigung denke ich oft daran, wie wir gemeinsam die Priester aus dem Tempel gejagt haben. Das war nur möglich, weil wir die entrüstete Bevölkerung auf unserer Seite hatten, die ihr Heiligtum entweiht sah. Das Gotteshaus war zur Markthalle verkommen, und die Priesterschaft hatten das geduldet, weil sie an den Geschäften der Händler beteiligt war.

 

Dabei fühlte er sich den Priestern immer sehr verbunden, da sie ihn unterrichteten und er schon als Kind mit ihnen diskutiert hatte. Er besitzt ein natürliches philosophisches Verständnis, das noch von keiner Logik reduziert ist. Jetzt diskutiert er mit mir. In nächtelangen Gesprächen habe ich ihm das alte Wissen nahegebracht und ihn die Ehrfurcht vor der Natur und ihren Wesen gelehrt.

 

Ich erzählte ihm von der göttlichen Durchdrungenheit aller Dinge, von der heiligen Mutter und dem heiligen Vater, deren Kinder wir sind, und von einer gerechten Gesellschaft, in der jedes Mitglied aufgrund seiner Eigenheiten geachtet wird und seine besonderen Fähigkeiten entwickeln kann. Und jedes Mal war ich plötzlich von Anhängern umringt, die nach und nach dazu gekommen waren, um meinen Worten zu lauschen.

 

Im Grunde sind es meine Ideen, die wir verbreiten. Aber ich trete gern zurück, weil er das Charisma besitzt und das einfache Volk begeistert. Von mir wollen sie es gar nicht wissen. Ihm trauen sie alle Wunder zu: Er macht die Menge satt mit seinen Worten, er verwandelt Wasser in Wein und lässt Kranke wieder Hoffnung schöpfen. Allerdings zieht er auch den Ärger der Herrschenden auf sich. Er hat Statthalter, Hohepriester und Händler provoziert, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das so einfach hinnehmen werden.

 

Auch in den eigenen Reihen machen sich Neid und Intrigen bemerkbar. Einige Anhänger mokieren sich darüber, dass er sich als Gottes Sohn bezeichnet und fassen das als Arroganz auf. Andere sind von der Macht fasziniert, die er über andere ausübt, und wollen sie ihm streitig machen. Petrus versucht ununterbrochen, eine hierarchische Struktur in unserer Gruppe zu installieren, an deren Spitze er sich selbst sieht.

 

Doch mein Liebster lacht nur darüber und meint, es wird ihm nie gelingen, unsere Botschaft zu institutionalisieren und eine organisierte Kirche darauf aufzubauen. Manchmal denke ich, auch das Volk ist ambivalent und lässt sich leicht manipulieren. Aber dann sehe ich wieder, wie sie uns zujubeln und unsere Lehre begierig aufnehmen. Ich bin überzeugt, dass wir noch bis ins hohe Alter dieses aufregende Leben führen, durch die Länder ziehen und Liebe und Vernunft predigen, bis sie überall auf der Welt wieder Einzug gehalten haben. Niemand wird uns daran hindern!

 

***

 

Wir sind wütend! Die Welt ist aus den Fugen geraten, und unsere Männer behandeln uns verächtlich. Sie sperren uns ein und benutzen uns wie das Vieh. Sie hören nicht mehr auf unseren Rat und benutzen ihre überlegene Körperkraft, um uns einzuschüchtern. Sie scheuen sich auch nicht, uns so lange zu schlagen, bis wir ihnen widerspruchslos gehorchen. Sie sind viel größer und stärker als wir und trainieren diese Eigenschaften täglich in blutigen Wettkämpfen. Ihre körperliche Stumpfheit und geistige Dumpfheit macht sie unempfänglich gegenüber allen Appellen an ihre Vernunft.

 

Die Männer haben die kosmische Harmonie zerstört, das Weibliche degradiert und verherrlichen das Männliche in seiner primitivsten Ausprägung. Sie sind dumm und brutal geworden; die klugen und hilfsbereiten unter ihnen sind längst eliminiert. Sie schlachten sich gegenseitig und betrachten das als Tugend. Die nicht geschlachteten Feinde benutzen sie als Sklaven für schmutzige und anstrengende Arbeiten. Uns Frauen benutzen sie als Gefäß für ihre Lust und für ihre Nachkommen, die sie ebenfalls roh behandeln.

 

Sie behaupten, ihr Gott werde sie persönlich an seinen Tisch holen, wenn sie nur tapfer genug sind und so viele Feinde wie möglich töten. Sie lachen über die Göttin und wollen auch nicht wiedergeboren werden, so dass wir diesen Trumpf nicht mehr gegen sie ausspielen können. Die Göttin hat sich zurückgezogen, empört über so viel Missachtung, und antwortet nicht mehr auf unsere Gebete. Es ist niemand mehr da, der uns vor den männlichen Demütigungen, Vergewaltigungen und Schlägen schützt.

 

Die meisten von uns leben zusammengepfercht in den Frauengemachen reicher Männer, die wir nicht verlassen dürfen. Bewaffnete Wächter stehen am Eingang, um uns daran zu hindern. Manche Frauen sind in den Privatbesitz einzelner Männer übergegangen, die nicht wohlhabend sind, und sie harte Arbeit auf ihren Feldern verrichten lassen. Es ist dabei vorgeschrieben, dass sie sich völlig mit Tüchern bedecken, um keine Gelüste bei anderen Männern hervorzurufen. Das Ganze ist so lächerlich, dass wir lauthals lachen könnten, wenn wir nicht so geschunden wären.

 

Doch konnten sie nicht alle Frauen einsperren. Einige von uns flohen auf die Inseln oder an das große schwarze Meer. Dort organisierten sie sich zu weiblichen Kampftruppen und überfallen regelmäßig besonders tyrannische Despoten, die sie gnadenlos hinrichten. Die Frauen der Inseln töten alle Männer, die an ihren Küsten landen, und opfern sie der Großen Göttin. Die Amazonen besuchen uns manchmal heimlich und raten uns, unsere Männer ebenfalls zu töten. Das ist aber schwierig in unserem Status der Gefangenschaft, und so denken wir uns andere Methoden aus.

 

Statt der liebevollen Muttergöttin antworten jetzt andere Göttinnen auf unsere Gebete: Es sind Rachegöttinnen. Die Erinnyen erscheinen in der Nacht und zeigen uns, wie wir uns gegen die brutale Männerherrschaft zur Wehr setzen können. Wir müssen die Männer dort treffen, wo es ihnen weh tut, sagen sie. Körperlich haben wir keine Chance gegen die Männer. Aber was tut ihnen wirklich weh? Das einzige, was sie noch von uns wollen, ist Sex und viele Nachkommen.

 

Also versuchten wir, unseren Männern den Liebesakt zu verweigern und wendeten allerlei Tricks an, um uns ihnen zu entziehen. Damit hatten wir aber nicht viel Erfolg, da die meisten gewalttätig sind und sich rücksichtslos nehmen, was sie brauchen. Außerdem müssen wir zu unserer Schande gestehen, dass es uns selbst schwer fiel, auf die Liebe zu verzichten. Es war immerhin die einzige Situation, in der sie noch zärtlich zu uns waren.

 

In ihrer Verzweiflung über die Aussichtslosigkeit des Kampfes gingen einige von uns so weit, ihre eigenen Kinder zu töten, nur um ihren Männer weh zu tun. Es sind schreckliche Dinge geschehen, und wir sind wirklich nicht stolz darauf. Aber wir waren besessen von dem Gedanken, ihnen um jeden Preis Schmerzen zufügen, auch wenn wir selbst viel mehr darunter leiden als sie. Die Erinnyen und Furien heizten unsere Rachegelüste an und unterstützten unsere nächtliche Raserei, indem sie ihrerseits die Männer heimsuchten.

 

Doch es nützte alles nichts. Es waren die Kinder, die am meisten unter diesen Zuständen litten und sogar mit ihrem Leben dafür bezahlten. Das konnten wir nicht länger hinnehmen, und schließlich gaben wir den Kampf auf, um das Elend zu beenden. Manche Frauen begannen sogar, sich mit dem passiven Lebenswandel anzufreunden und sich den Männern anzudienen.

 

***

 

Ich steige die Wendeltreppe empor zu meinem Schlafgemach. Der Donjon ist der südwestliche Turm unseres Herrensitzes, von ihm aus führen mehrere Türen zu den beheizten Gemächern. An den unteren Steinwänden hängen kunstvoll bestickte Gobelins mit religiösen Motiven, hell erleuchtet von zahlreichen Fackeln. Die Steinstufen sind von bequemer Breite und mit roten Teppichen belegt. Trotzdem fällt mir jeder Schritt schwer.

 

Er hat es tatsächlich getan! Schlimm genug, dass sich mein Gemahl für mehrere Jahre verabschiedete, um an dem ausgerufenen Kreuzzug gegen das Osmanische Reich teilzunehmen. Mühsam hatte ich mich mit der Einsamkeit und Ungewissheit abgefunden, die mich für lange Zeit erwarteten. Als er mir jedoch am Morgen nach unserer letzten Nacht dieses Gerät anlegte, war ich so perplex, dass ich ihn widerstandslos gewähren ließ.

 

Erst als er den Keuschheitsgürtel abschloss und den Schlüssel in seinem Wams verstaute, begann ich aufzubegehren, doch da war es schon zu spät. Er erinnerte mich an meine Gehorsamspflicht, und mir blieb nichts anderes übrig, als sittsam die Augen niederzuschlagen, um keine Bestrafung zu provozieren. Zuerst war ich abgelenkt durch den herzzerreißenden Abschied von meinem geliebten Mann. Er versprach, mich bei seiner Rückkehr mit Gold und Edelsteinen zu überhäufen, und ich winkte weinend mit dem Taschentuch hinter ihm und seinen Mannen her.

 

Dann merkte ich, dass das Ding nicht richtig saß und bei jedem Schritt scheuerte. Nach kurzer Zeit war meine Haut wund, und ich konnte kaum noch laufen. Was sollte ich tun? Dem alten Oheim, der zu meiner Bewachung zurückgeblieben war, konnte ich mich nicht anvertrauen. Vor unserem Hausapotheker, dem verdrießlichen Juden, fürchtete ich mich. Schließlich sprach ich die zahnlose Küchenmagd an, die mir schon allerlei Dienste geleistet hatte, und der ich vertrauen konnte.

 

Die treue Dienerin hatte mein Unwohlsein schon bemerkt und war gleich bereit, mir zu helfen. Sie schickte nach einer Hebamme, die am Rande des nahegelegenen Dorfes wohnte und bekannt dafür war, bei Frauenleiden aller Art zu helfen. Erst war ich dagegen und lehnte das Angebot entschieden ab. Als die Schmerzen unerträglich wurden, stimmte ich schließlich zu und traf die weise Frau am Tor des Kräutergartens, durch das ich früher so oft heimlich zu einem Spaziergang oder Ausritt verschwunden war.

 

Es war mir äußerst unangenehm, mich mit einer Frau des gemeinen Volkes zu treffen, der ich an Bildung und guter Erziehung weit überlegen war. Ich erwartete eine plumpe, alte, schlecht riechende Bauersfrau, die womöglich noch schwerhörig oder begriffsstutzig war, so dass ich ihr die Peinlichkeit laut und umständlich erklären musste. Umso erstaunter war ich, als eine Frau mittleren Alters mit klugem Gesichtsausdruck erschien, die mein Problem sofort erkannte.

 

Sie gab mir Kräuterspülungen für die Haut und einen Trank für die Seele. Ich entlohnte sie großzügig und empfand plötzlich heftige Neidgefühle auf die freien Frauen des Volkes, die völlig selbständig leben konnten, von keinem Mann bevormundet wurden oder abgeschlossen in einem Turmzimmer zurückgelassen wurden. Die Heilerin tröstete mich sehr freundlich, sprach ein paar Heilformeln, die ich nicht verstand, und flößte mir etwas von dem Trank ein.

 

Jetzt bin ich ziemlich benebelt, während ich die Tür zu meinem Schlafgemach erreiche, aber die Schmerzen lassen schon nach. Einer plötzlichen Eingebung folgend gehe ich an meiner Tür vorbei und steige weiter die Treppen empor. Mein einsames Schlafzimmer erscheint mir plötzlich so unattraktiv, dass ich es noch nicht betreten mag. Vorbei an weiteren Türen zu unbenutzten Kammern steige ich den Donjon empor und gelange in Bereiche, die ich noch nie betreten habe.

 

Die Rundung der Wände wird immer enger, die Stufen immer steiler, hier gibt es keine Türen, und hier brennen auch keine Fackeln mehr. Die letzte nehme ich von der Wand und klettere weiter die nackten Steinstufen hinauf, immer höher und höher, und immer im Kreis herum. Durch die Schießscharten kann ich weit in die dämmrige Landschaft schauen, die tief unter mir liegt. Auf halber Höhe gelange ich an eine Außentür. Ich öffne sie ohne zu zögern und trete ins Freie auf eine ausladende Terrasse. Im Halbdunkel kann ich eckige Zinnen in einiger Entfernung erkennen.

 

Als sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt haben, bemerke ich eine Gestalt am Ende der Terrasse. Sie kauert am Boden, den Kopf gesenkt und das Gesicht von mir abgewandt. Als ich näher trete, sehe ich, das es eine junge Frau ist, die völlig nackt vor den Zinnen hockt. Sie sieht traurig aus. Um sie zu trösten, bücke ich mich und schaue ihr ins Gesicht. Mein Gott, sie sieht ja genauso aus wie ich! Nicht in meiner heutigen Gestalt, sondern als graziles junges Mädchen. Und dann erkenne ich fassungslos, dass sie völlig schwarz ist!

 

Nicht so schwarz wie fetter Marmor, sondern viel zarter, eher wie schwarzes Elfenbein, wenn es das gäbe. Der anmutige Kopf ist durch eine verfilzte rote Perücke verunstaltet. Warum ist sie so traurig? Weint sie, oder ist sie nur so tief in sich selbst versunken, dass sie mich nicht bemerkt? Ihre abgewandte Haltung signalisiert eine unendliche Einsamkeit und Verletztheit. Während ich sie unschlüssig anstarre, beginne ich mit ihr zu verschmelzen, und jetzt bin ich es, die auf dem kalten Boden der Burgterrasse kniet.

 

Plötzlich bricht eine Welle der Verzweiflung über mich herein. Der Schmerz ist so unerträglich, dass ich vor Pein laut aufschreie. Ich schluchze hemmungslos und kann nicht mehr aufhören zu schreien. Das ganze Elend aller Frauen der Welt manifestiert sich in mir. Alle Sehnsucht, alle unerfüllten Wünsche, das Betrogensein, die Ohnmacht und das bittere Unrecht, das uns seit so langer Zeit zugefügt wurde, verschlägt mir den Atem. Ich kauere auf der Burgterrasse und schreie, schreie, schreie.

 

***

 

Allmählich komme ich zu mir. Als erstes fallen die Schmerzen über mich her. Wo bin ich? Ich hänge in meinen Fesseln, der Körper scheint merkwürdig verdreht, und alle Glieder drohen zu zerreißen. Ich spüre einen brennenden Durst. Langsam öffne ich die Augen, und das Bewusstsein kehrt schlagartig zurück. Ich stehe auf dem Scheiterhaufen, und der Henkersknecht zündet gerade mit der ölgetränkten Fackel die unteren trockenen Reiser an. Ein dünner Rauchfaden steigt zu mir hoch.

 

Panik erfasst mich, mein Körper richtet sich auf und rüttelt an den Hand- und Fußschellen. Sie geben nicht nach und binden mich fest an den Holzpfahl hinter mir. Mein Gedanken rasen: Was kann ich tun? Alles, nur das nicht! Nur nicht brennen! Wenn ich doch nur wieder ohnmächtig würde! Ich halte die Luft an und versuche, zu ersticken. Es geht nicht, ich bin viel zu aufgeregt und schnappe gleich wieder nach Luft. Mein Hemd ist unten herum nass. Das Volk vor mir glotzt und grinst, aber das ist mir egal.

 

Die Holzscheite fangen an zu qualmen. Der Rauch steigt mir in die Nase und reizt mich zum Husten. Ein Hoffnungsschimmer: Vielleicht bekomme ich eine Rauchvergiftung und ersticke, bevor ich brenne? Ich flehe zu Gott, aber er ist nicht da. Der Wind treibt den Qualm an mir vorbei. Irgend jemand in meiner Nähe stößt ununterbrochen heisere Laute aus. Bin ich das etwa? Ich will es nicht einsehen, aber ein Teil von mir ist ganz ruhig und weiß, dass der grausame Tod unmittelbar bevorsteht und durch nichts aufzuhalten ist.

 

Während mein Körper sich windet und bebt, denke ich an die Ereignisse der letzten Tage. Mein Mann hat mich verraten. Mein geliebter und verehrter, gehasster und verachteter Gefährte hat mich den Kirchenmännern ausgeliefert. Der Glaube an ihre Autorität war stärker als seine Verbundenheit mit mir. Dabei kann ich gar kein Vieh verhexen, und schon gar keine Männer. Ich kann ihnen nur in die Augen schauen, und manchmal scheinen sie sich dabei erbärmlich zu fühlen und wenden ihren Blick ab.

 

Dafür hat er sich gerächt, das wird mir plötzlich klar. Gleichzeitig registriere ich eine zunehmende Hitze und fange an zu schwitzen. Das Kind in meinem Bauch beginnt zu strampeln und tritt mich heftig in den Magen. Wir wollen nicht sterben! Die Panik nimmt mir den Atem, oder ist es der beißende Qualm? Schnell an etwas anderes denken, die Realität ist unerträglich! Im Kerker war ich anfangs stolz und wollte ihnen nicht den Triumph gönnen, mich zu besiegen. Die Erinnerung an meine Naivität bringt mich fast zum Lachen, aber ich bekomme zu wenig Luft!

 

Weiterdenken! Unter der Streckmaschine verlor ich ganz schnell meine Fassung und schrie alle Namen, die sie von mir hören wollten. Die Schmerzen waren unerträglich, sie mussten einfach sofort aufhören! Aber sie hörten nicht auf, und ich schrie noch weitere Namen, bis ich alle Frauen der Nachbarschaft denunziert hatte. Als ich anfing, meine eigene Familie zu beschuldigen, hörten sie auf, und ich wurde ohnmächtig.

 

Plötzlich schlagen die Flammen hoch und greifen schnell um sich. Es wird heiß! HEISSSSS!!!!! Woran denken??? Die Liebe! Ich liebe meinen Mann! Ich liebe die Liebe! Ich liebe Gott! Doch es hilft nicht, ich kann nichts anderes empfinden als das Feuer, das meinen Körper erreicht hat. Panik und Schmerz schlagen über mir zusammen und ich schreie, schreie, schreie: AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa...

 

***

 

Schon seit einigen Jahren lebe ich in diesem Land, aber ich verstehe die deutschen Frauen nicht. Sie haben doch so nette Männer. Warum sind sie so abweisend? Ich mag Männer. Mein Leben lang war ich immer in irgend jemanden heftig verliebt, wobei die Personen ständig wechselten. Bis mir klar wurde, dass ich nicht einzelne Männer liebte, sondern das Männliche schlechthin, an dem eigentlich jeder Mann teil hat. Mehr oder weniger. Allerdings mag ich keine Muskelprotze, die finde ich langweilig bis lächerlich. Dummdreistigkeit ist auch nicht erotisch.

 

In meinem Land sind die Männer schlank und sehnig, und sie bewegen sich geschmeidig wie Raubtiere. Ein erotischer Mann ist für mich dunkelhaarig, wortkarg und ernst. Wenn er mich unter halb geschlossenen Augenlidern ansieht, mit der Zigarette im Mund, trifft mich sein Blick tief. Seine Ausstrahlung und Stimme finde ich aufregend. Auch Intelligenz, Witz und Esprit imponieren mir. Erotik ist immer mit Geist verbunden.

 

Beim Liebesakt habe ich das Gefühl, dass sich nicht zwei Personen vereinen, sondern das Männliche und das Weibliche an sich, und dass irgendwie die gesamte Menschheit daran teil hat, oder zumindest das kollektive Unbewusste anwesend ist. Die Buddhisten bezeichnen diese Erfahrung als tantrisch. Es ist eine sakrale Handlung, die über uns beide hinausgeht und uns erhöht. Sie ist die größte und auch schönste Energiequelle, die uns Menschen zur Verfügung steht.

 

Überhaupt fühle ich mich mehr zu Männern hingezogen als zu Frauen. Mit ihnen kann ich reden, wir haben die gleiche Denkart. Ich verstehe sie gut und fühle mich mit ihnen verbunden. Sie bringen mir Aufmerksamkeit und Freundschaft entgegen. Wahrscheinlich habe ich ein männliches Selbstverständnis. Leider errege ich immer den Unwillen der deutschen Frauen, wenn ich mich lieber mit ihren Männern als mit ihnen unterhalte.

 

In weiblichen Gruppen fühle ich mich unwohl. Ihre Themen interessieren mich nicht, und es erschreckt mich, dass sie in diesem Land immer noch über das Kochen, Backen und Handarbeiten reden, auch in gebildeten Zirkeln. Viele Frauen haben Probleme mit der Erotik und mit der Realität. Anfangs habe ich geglaubt, es sei so eine Art Mode-Masche, absichtlich über völlig uninteressante Dinge zu reden und die falschen Schlüsse zu ziehen, bis ich merkte, dass sie es ernst meinen.

 

Deutsche Frauen lassen sich zu viel gefallen und begehren nicht auf, wenn sie mit ihren Kindern an der Armutsgrenze leben und nicht arbeiten gehen können. Statt dessen setzen sie sich gegenseitig unter Druck mit der Einhaltung von Umweltschutzregeln, gesunder Ernährung und Schminkvorschriften. Und sie erziehen ihre Kinder nicht. Sie setzen ihnen keine Grenzen, sondern lassen sie einfach gewähren, so dass sie zur Landplage werden und ebenso orientierungslos wie ihre Mütter.

 

Manchmal denke ich, die Deutschen sind selbst noch Kinder und nicht in der Lage, Verantwortung zu übernehmen. Außerdem scheinen sie mir ziemlich obrigkeitshörig und mediengläubig. Ihre Probleme sind Rinderwahn, Hühnergrippe und Schweinepest, die sie fanatisch verfolgen und dabei völlig überzogen reagieren. Um das Massensterben in der Welt durch Aids, Hunger und Kriege kümmern sie sich nicht, zumindest tauchen diese Themen in der öffentlichen Diskussion kaum auf. Die Medien sind voll von hysterischem Geschrei um Banalitäten.

 

Den deutschen Frauen kann ich nur raten, ihre Sexualität wieder zu entdecken, sie zu kultivieren und dann einzufordern. Sie ist die Bedingung für ein glückliches, erfülltes Leben und ein Garant gegen Depressionen aller Art. Gemeint ist die tiefe Art von Erfüllung, die nur ein Mann bewirken kann. Es ist ein Geschenk von ihm, das für lange Zeit ein Glücksgefühl verursacht. Wie schon die Hippies erkannten: Liebe verhindert Kriege. Gott erhalte das Testosteron.

 

Dabei wären die meisten Männer sofort bereit, auf diesem Gebiet mit ihren Partnerinnen zu experimentieren, und niemand ist über einen diesbezüglichen Erfolg glücklicher als sie. Leider werden sie hierzulande verkannt und falsch eingeschätzt. Männer sind sensibel genug, um sexuelle Lügen und das Vorspielen von Höhepunkten zu erkennen. Dann sind sie enttäuscht, denn die Sexualität ist ihnen wichtig. Wenn Frauen versuchen, den Akt zu vermeiden, zu verzögern oder alltägliche Zwänge vorschieben, fühlen sich ihre Männer allein gelassen.

 

Es gibt kein größeres Glück für einen Mann, als seine Frau glücklich zu machen. Erst wenn er feststellen muss, dass es keinen Zweck hat, gibt er auf und wendet sich einer anderen zu. In Romanen stellt sich die Verlassene in solchen Fällen die berühmte Frage: Was hat sie, das ich nicht habe? Doch kommt es weniger auf äußerliche Schönheit an, sondern auf erotische Ausstrahlung, Intelligenz und Esprit. Einer solchen Frau ist er treu, entgegen den Einschätzungen aller Frauenzeitschriften.

 

Männer sind bewundernswert. Sie haben einen lebhaften Verstand und bauen gewaltige Brücken, kühne Staudämme und monumentale Bauwerke. Sie konstruieren geniale Maschinen und erforschen den Makro- und Mikrokosmos. Manchmal verlieren sie in ihrem Eifer die Übersicht und erfinden Dinge, die sich zerstörerisch auswirken. Dann müssen wir sie darauf aufmerksam machen und sie in die Schranken weisen. Im Idealfall hören sie auf uns, aber wir müssen es ihnen auch sagen.

 

Allerdings mag ich keine alten Männer, weder hier noch in meinem Land. Sie sind engstirnig, rechthaberisch und zwingen der Familie ihren Willen auf. Verkrustetes Denken und starre Bewegungen sind völlig unerotisch. Sie bevormunden pausenlos ihre Frauen, die sich das in den meisten Fällen auch gefallen lassen. Ihre körperliche Attraktivität nimmt rapide ab, während sich ihre Angriffslust noch steigert.

 

Andererseits muss ich zugeben, dass die Männer der neuen Generation auch im Alter noch eine sinnliche Ausstrahlung haben, ganz im Gegensatz zu ihren jungen Rivalen.

 

***

 

Ich liege auf dem Boden und bin ganz schwer. Meine Arme und Beine ruhen schwer auf dem Untergrund, auch der Rücken wird wie von Gewichten nach unten gezogen. Alle Hektik fällt von mir ab, die Gedanken kommen zur Ruhe. Warme Energie durchströmt mich, sie kribbelt in den Nerven- und Blutbahnen aller Glieder. In jedem einzelnen Organ fühle ich das Blut gleichmäßig pulsieren. Ich bin ganz ruhig, furchtlos und gelassen.

 

Die Atmung geht wie von selbst: Es atmet mich. Ein und Aus. Das Zwerchfell senkt und hebt sich beim Ein- und Ausatmen. Frische Luft strömt in den Körper, verbrauchte Luft strömt heraus. Ein und Aus. Energie rein, Frust raus. Die Energie strömt immer tiefer, bis in die Finger- und Zehenspitzen. Ich bin ein Energiebündel und beginne zu strahlen.

 

Inzwischen bin ich so vollgepumpt mit Luft, dass ich immer leichter werde. Ich spüre die Arme und Beine kaum noch, auch der Rücken hebt sich allmählich von seiner Unterlage, und ich beginne zu schweben. Erst schwebe ich einige Zentimeter über dem Boden, dann drehe ich mich mit dem Kopf nach oben und steige höher. Ich transzendiere die Decke und das Dach und fliege in den Himmel hinein.

 

Die Energie meines Körpers schießt empor und tritt geballt aus dem Kopf heraus. Der Energieball formiert sich zu einem strahlenden Reifen und rotiert über meinem Haupt. Die schwingende Aureole hebt mich immer höher und höher und höher, in rasend schnellem Tempo in den Weltraum. Das Universum ist eine gläserne Pyramide. Sie ist unglaublich hoch und wird immer höher, je weiter ich in ihr hinauf steige.

 

Ich werde immer schneller und rase in dem durchsichtigen Konus empor, seinem Gipfel entgegen, der sich gleichzeitig von mir entfernt. Doch kann ich meine Geschwindigkeit noch weiter erhöhen und stürze nach oben, so lange, bis ich endlich die Spitze der Pyramide erreiche. Hier halte ich an und befinde mich in einem gläsernen Labor in Form eines Zylinders, der oben spitz zuläuft. Eigentlich ist es eher ein Büro als ein Labor, ein Forschungsraum und Arbeitszimmer.

 

Ich bin nicht allein. In einiger Entfernung geht ein alter Mann in weißem Kittel hin und her, seine Hand streicht gedankenverloren um das Kinn. Eigentlich ist er gar nicht alt, sondern bewegt sich geschmeidig und voller Energie. Ein schöner Mann von hoher, schlanker Statur, mit weißem Haar und braungebrannter Haut. Er geht auf und ab und denkt.

 

Plötzlich dreht er sich um und schaut mich an. Seine wissenden schwarzen Augen scheinen mich zu durchbohren. Ich bin erschrocken, fühle mich irgendwie ertappt und fange an zu zittern. Was hat dieser Blick zu bedeuten? Dann beginne ich zu begreifen: Es ist ein prüfender, testender Blick. Ich werde gerade beurteilt und bewertet. Während ich mich innerlich vor Verlegenheit winde, zwinkert mir der Alte plötzlich zu. Mit dieser netten Geste schafft er eine Vertraulichkeit zwischen uns und erscheint mir jetzt gütig und humorvoll. Erleichtert stelle ich fest, dass ich den Test bestanden habe, und fühle mich von dem weisen Vater ausgezeichnet.

 

***

 

Ich fliege immer höher zur äußersten Spitze der gläsernen Pyramide. Hier wird es eng, und ich fühle mich drangvoll eingezwängt, strebe aber weiter empor. Ich gleite durch einen schwarzen Tunnel, dessen Wände mich einschnüren. Dann sehe ich in der Ferne ein Licht, eine winzige Öffnung in der dunklen Röhre. Das Licht kommt näher, ich zwänge mich mit Gewalt durch das Nadelöhr und explodiere ins Jenseits.

 

Der Himmel reißt vor mir auf, und ich werde von grellem Licht geblendet, so dass ich vor Schmerz die Hände vor die Augen presse. Doch das Licht strahlt durch die Hände hindurch. Gleichzeitig höre ich das Crescendo von Millionen Stimmen, die ekstatisch jubilieren. Erstaunt reiße ich die Augen auf und kann in der gleißenden Weiße zunächst keine Konturen erkennen.

 

Dann konstituiert sich das Bild zu einem bombastischen himmlischen Spektakel: Tausende von Engeln schweben kreisförmig aufgereiht in unermesslicher Höhe, den Blick und die Hände ehrfürchtig betend nach oben gerichtet. Unzählige Menschenseelen jauchzen in himmlischer Freude und schauen ebenfalls nach oben. Dort oben scheinen Weiß und Gold pulsierend zu verschmelzen. Doch dann kann ich es ebenfalls sehen.

 

Gottvater sitzt auf seinem Thron. Er trägt einen nachtblauen Mantel. In den Falten seines Mantels glitzern Myriaden von Sternen. Sie funkeln blendend weiß um die Wette. Seine Haare und sein Bart sind ebenfalls strahlend weiß. Sie hängen lang zu mir herab und überfluten mich mit ihrem Glanz. Das Weiße fließt zu mir herunter. Die Weisheit regnet zu mir herab. Ich lasse mich berieseln.

 

***

 

Die Visionen überschlagen sich, seit ich am Thema „Vater“ arbeite. Im Traum sehe ich einen wunderschönen jungen Mann aus leicht erhöhter Position direkt auf mich zukommen. Er entspricht genau meinem Ideal von einem Mann: Schlank und schwarzhaarig, mit langen Locken. Er trägt Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Seine Augen sind blau und strahlen. Das heißt, sie senden andauernd Lichtblitze aus. Sein freundliches Lächeln signalisiert, dass er mir alles geben will, vor allem sein Wissen.

 

Seltsamerweise bin ich nicht beeindruckt, obwohl man so schöne Männer selten sieht, noch dazu mit so offensichtlichem Interesse an mir. Ist das wieder so ein hinterhältiger Reklametrick, der meine Aufmerksamkeit erzwingen will? Warum lässt mich dieser nette Typ kalt? Ich ahne es: Das ist ein Teil von mir selbst. Wahrscheinlich mein Animus, würde C. G. Jung sagen. Der männliche Teil in mir, der bei der Geschlechtsdifferenzierung unterdrückt wurde.

 

Ich nenne ihn aber nicht Animus, sondern Logos. Er verkörpert für mich die strahlende Intelligenz im Gegensatz zu der schwarzen Anima, die ich auf dem Burghof gesehen habe. Ich will es nicht wahr haben, aber scheinbar versucht mich mein Unterbewusstsein davon zu überzeugen, dass die Logik männlich und die Trauer weiblich ist. Jetzt fällt mir auch auf, dass in allen Visionen die weiblichen Wesen nach innen schauen, während die männlichen mir direkt in die Augen blicken.

 

Noch eine Vision: Der Kosmos schaukelt hin und her. Ein junger Gott, der aussieht wie eine griechische Statue aus schimmernd weißem Marmor, sitzt auf einer Schaukel und schwingt sich durch das Universum. Er ist völlig nackt und sehr lebendig, jeder einzelne Muskel bewegt sich. Der Kosmos wirft die Beine hoch und holt zu mächtigem Schwung aus. Die Hände greifen kraftvoll das Seil, während er nach vorne fliegt. Er schwingt zurück, holt neuen Schwung und rast durch das Weltall. Der Kosmos wirft seinen Kopf in den Nacken und lacht und lacht und lacht und lacht.

 

 

Birgit Sonnek

 

März 2012

 

 

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