Der Biochemiker Rupert Sheldrake hat die Theorie
"morphogenetischer Felder" entwickelt, die der universellen
Kreativität zugrunde liegen. Nach seiner Auffassung prägen und steuern sie die
gesamte belebte wie unbelebte Schöpfung. Im Gegensatz zu dem mechanistischen
Paradigma, das in der Wissenschaft seit langer Zeit bestimmend sei, schlägt er
vor, das Universum als einen Organismus zu betrachten, der sich weiter entwickelt.
Seiner Hypothese der formbildenden Verursachung zufolge könnten wir die
Naturgesetze eher als Gewohnheiten auffassen statt sie für festgelegt und
unwandelbar zu halten.
Seine Theorie nimmt ihren Ausgangspunkt in der Biologie,
impliziert aber auch die Aussagen vieler anderer Gebiete, u.a. der Parapsychologie.
Es geht um das Problem zu verstehen, wie Tiere und Pflanzen eigentlich ihre
Form bzw. Gestalt annehmen. Die Entstehung von Form werde in der Biologie
„Morphogenese“ genannt. Sheldrake meint, wir wüssten zwar, dass aus Samen Bäume
oder Blumen entstehen, aber der Vorgang selbst werde wissenschaftlich überhaupt
nicht verstanden.
Unter dem herrschenden Paradigma der mechanistischen Theorie
des Lebens werde der Versuch gemacht, den Prozess der Entstehung von Form auf
der Ebene der Moleküle zu erklären. Die DNS sei in all unseren Körperzellen die
gleiche. Wir hätten identische Kopien des gesamten genetischen Materials jeder
einzelnen Zelle. Trotzdem sei die Form unserer Glieder oder Körperorgane
verschieden voneinander. Es entstünden also mit der gleichen chemischen
Zusammensetzung, den gleichen Proteinen, verschiedene Formen.
Die chemische Substanz allein könne die Form nicht erklären,
wie auch die Form eines Gebäudes nicht durch eine Analyse seiner Ziegel, Mörtel
oder Holz verstanden werden könne. Die Form könne grundsätzlich nicht durch die
Substanz erklärt werden. Deshalb sei von Biologen das Konzept der
morphogenetischen Felder entwickelt worden, das 1922 das erste Mal formuliert
worden sei. Es besage, dass ein Organismus bei seinem Wachstum von formgebenden
Feldern beeinflusst werde.
Die Vorstellung sei in Analogie zum magnetischen Feld
entstanden, das man weder sehen noch berühren oder hören könne. Aber seine
Existenz werde offenkundig, wenn wir Eisenspäne um den Magneten herum streuten.
Dann sähen wir ein Muster, das uns etwas über das Magnetfeld verrate.
Organismen besäßen ähnliche unsichtbare Felder, die ihre Entwicklung steuerten
und ihre Form bestimmten, wie eine unsichtbare Gussform.
Jeder kenne das Phänomen der Regeneration bei Pflanzen. Wir
könnten einen kleinen Teil einer Pflanze abschneiden, ihn in die Erde geben,
und er würde zu einer neuen Pflanze werden. In diesem Fall könne also der Teil
ein neues Ganzes hervorbringen. Das Ganze sei deshalb mehr als die Summe seiner
Teile, weil wir einen Teil entfernen könnten, und das Ganze bliebe erhalten.
Und aus den Teilen könne selbst wieder ein Ganzes werden.
Der Grundgedanke bei der Annahme von morphogenetischen
Feldern liege darin, dass jedes Feld einem bestimmten System zugehörig sei, und
dass man mit dem System (Organismus) auch das entsprechende Feld beschädige.
Die Regeneration sei deswegen möglich, weil das Feld immer noch ganz sei und
das System zu seiner eigentlichen Form führen könne, obwohl man einen Teil
davon weggenommen hat. Wenn man einen Magneten in zwei Hälften schneide,
erhalte man nicht zwei halbe Magneten, sondern zwei ganze. Man könne nicht eine
Scheibe aus dem Feld herausschneiden. Das Feld sei eine Ganzheit, und deshalb
seien auch die morphogenetischen Felder formgebende Ganzheiten.
Einige Wissenschaftler verträten den Standpunkt, dass es
sich dabei um platonische Ideen oder Archetypen handele, um metaphysische
Realitäten, um die idealen, zeitlosen Formen aller Lebewesen. Sheldrakes
Theorie ist davon sehr verschieden. Er nimmt an, dass diese Felder wirklich
existieren, dass es sich dabei aber um eine neue Art von Feldern handelt, die
von der Wissenschaft bisher noch nicht in Betracht gezogen worden sei. Diese
Felder müssten eine bestimmte Form haben, das Feld einer Rose müsse sozusagen
rosenförmig sein. Und es müsse sehr viele verschiedene Felder geben, für jede
Spezies eines.
Das Feld erhalte seine Struktur aus der tatsächlichen Form
früherer Mitglieder der Spezies. Das Feld, das etwa einer Katze ihre Form gebe,
sei sozusagen das katzen-morphogenetische Feld. Es stelle eine Art
Zusammenfassung der tatsächlichen Formen früherer Katzen dar. Deren Form
beeinflusse die sich entwickelnde Katze durch Fernwirkung über Zeit und Raum
hinweg, nicht dadurch, dass sie in der DNS verschlüsselt sei. Das Feld sei so
etwas wie das Gedächtnis der Art, ein kollektives Gedächtnis. Jedes Mitglied
werde durch das spezifische morphogenetische Feld seiner Art geformt. Umgekehrt
beeinflusse aber die individuelle Form das Feld, wirke auf es zurück und forme
dadurch zukünftige Mitglieder derselben Art.
Der Einfluss solcher Felder baue sich über die Zeit auf, er
werde kumulativ stärker, weil immer mehr vergangene Formen die neue Form
prägten. Wenn die Zahl der Mitglieder einer Spezies wachse, werde das
morphogenetische Feld immer stärker, es werde durch Wiederholung intensiviert.
Je öfter etwas Bestimmtes passiere, desto wahrscheinlicher werde es wieder
passieren.
Da aber die Mitglieder einer Spezies einander nicht völlig
gleichen, sondern nur ähnlich seien, werde das morphogenetische Feld eine
Zusammenfassung der früheren Mitglieder der Spezies sein. Es stelle eine
Wahrscheinlichkeitsstruktur dar, ähnlich der „kumulativen Fotografien“, die vor
einiger Zeit Aufsehen erregt hätten. Hier seien z.B. 45 männliche Forscher auf
denselben Film aufgenommen worden, jeder mit einem fünfundvierzigstel der Belichtungszeit.
Auf dem anschließend sich zeigenden Bild des „Durchschnittsforschers“ hätten
sich die individuellen Unterschiede aufgehoben, die gemeinsamen Züge seien
verstärkt hervorgetreten. Die Form dieses „Durchschnittsgesichts“ sei durch die
Wahrscheinlichkeitsverteilung bestimmt worden.
Wenn man morphogenetische Felder sehen könnte, müssten sie
nach Sheldrake ebenso aussehen: Sie hätten unscharfe Ränder, und die Konturen
wären nicht klar abgegrenzt. Sie wirkten im Sinne von Wahrscheinlichkeit, nicht
exakter Kausalität. Und das sei wichtig, weil er glaubt, dass die Felder
letztlich probalistische Prozesse auf der Quantenebene beeinflussen, wie sie
die moderne Physik beschreibt. Sie wirkten auf Systeme dadurch ein, dass sie
die Wahrscheinlichkeit der Ereignisse auf den niedrigeren Organisationsniveaus
beeinflussten.
Die Theorie betreffe nicht nur Lebewesen, sondern auch die
Formen von Kristallen, Molekülen und Atomen. Wenn ein neuer Stoff hergestellt
werde, den es bisher noch nie gegeben habe, z.B. in der chemischen Industrie,
werde zunächst kein morphogenetisches Feld für die Kristallstruktur existieren.
Es könne das erste Mal schwierig sein, die Substanz zu kristallisieren. Man
müsse warten, bis ein morphogenetisches Feld entstanden sei. Beim zweiten Mal
sei es schon ein wenig leichter, weil der Vorgang vom morphogenetischen Feld
des ersten Kristalls beeinflusst werde. Bei dritten Mal noch leichter, weil er
von zwei Feldern beeinflusst werde, und so weiter. Überall auf der Welt müsse
es mit der Zeit leichter sein, diese Substanz zu kristallisieren. Dass es
tatsächlich so sei, sei unzählige Male beobachtet worden und unter Chemikern
eine allgemein akzeptierte Tatsache.
Dieselben Prinzipien, die gleichen formativen Felder,
beeinflussten auch das ererbte Verhalten von Tieren. Ihre Instinkte kämen durch
die gleiche Art von Einfluss aus der Vergangenheit zustande, nämlich durch den
Prozess der Einwirkung von Gleichem auf Gleiches, den Sheldrake „morphische
Resonanz“ nennt. Wenn man in einem Teil der Welt Tieren beibringe, etwas Neues
zu tun, sollte es dadurch überall in der Welt für Tiere dieser Art leichter werden,
die gleiche Sache schneller zu lernen.
Tatsächlich sei das überprüft worden in Experimenten mit
Ratten. McDougall, ein Psychologieprofessor in Harvard, habe Ratten
beigebracht, aus einem Wasser-Labyrinth zu entkommen. Die erste Generation von
Ratten habe sehr langsam gelernt. Bei einem Fehler hätten sie
unglücklicherweise einen elektrischen Schock bekommen - das sei in dieser Art
von Experimenten leider üblich. Viele von ihnen hätten Hunderte von
elektrischen Schocks erhalten, bis sie lernten, dass sie den falschen Ausgang benutzten.
Ihre Nachkommen hätten schneller gelernt. Die nächste
Generation noch schneller. Die erste Generation habe durchschnittlich 250
Fehler gemacht, bevor sie lernte, den richtigen Ausgang zu benutzen. Die 22.
Generation habe nur noch 25 Fehler im Durchschnitt gemacht. Das bedeute ein
zehnfache Steigerung der Lerngeschwindigkeit. McDougall habe das als Beweis für
Lamarcks Theorie der Vererbung von erworbenen Eigenschaften gehalten. Anschließende
Kritiker hätten ungewollt noch bessere Ergebnisse erzielt und dann aufgegeben,
als manche Ratten schon beim ersten Mal den Ausgang fanden.
Sheldrake hält die Ergebnisse für eine Unterstützung seiner
Hypothese der morphischen Resonanz. Seine Theorie führe auch zu einer neuen
Sicht der Vererbung. Nach der üblichen Ansicht hänge Vererbung völlig von der
Information ab, die in der DNS der Gene verschlüsselt sei. Darin sollten alle
Informationen enthalten sein, die für die Herausbildung eines Organismus und
für die Instinkte, das ererbte Verhalten eines Tieres, notwendig seien.
Sheldrake behauptet dagegen, dass die Form der Organismen direkt von früheren
Mitgliedern der eigenen Spezies ererbt werde, und zwar auf dem Wege der
morphischen Resonanz.
Diese beiden Ansichten schienen miteinander in Konflikt zu
stehen. Bei näherer Betrachtung sehe man aber, dass sie komplementäre, einander
ergänzende Sichtweisen zum Verständnis der Vererbung darstellten. Zum Beispiel
sehe man bei einem Fernseher Bilder, die das Ergebnis komplizierter
Interaktionen zwischen den einzelnen Teilen des Apparates seien, den Transistoren,
Drähten oder Kondensatoren. Diese Teile seien wichtig, aber ebenso wichtig
seien die Sendungen, auf die das Gerät eingestellt sei, die unsichtbaren
Felder, die es empfange.
Was seiner Meinung nach bei der Vererbung geschehe, sei
folgendes: Das befruchtete Ei habe bereits eine Struktur, die von seinen Genen
abhänge, und welche Arten von Proteinen es in seiner Entwicklung produziere,
hänge ebenfalls von seiner Erbmasse ab. Diese Proteine und die DNS seien wie
die Drähte und Transistoren im Fernsehempfänger, nämlich seine Bauteile. Wenn
man eine Drahtverbindung ändere, verändere sich auch das Bild auf dem Schirm.
Ebenso würden Veränderungen im genetischen Material den Organismus
beeinflussen.
Aber die Bilder selbst seien in dieser Information nicht
enthalten. Vielmehr diene die DNS zum Aufbau des Empfangssystems, und die Form
oder das Verhalten komme durch morphische Resonanz zustande, durch das
kollektive Gedächtnis der Spezies. Die DNS steuere die Sequenz von Aminosäuren
und Proteinen. Die Erscheinungen würden jedoch von den morphogenetischen
Feldern bestimmt.
Dies führe auch zu einer neuen Sicht der Evolution. Denn die
gängige Theorie der Evolution baue auf der Mendel'schen Vererbungslehre auf.
Wenn aber Vererbung mit einem kollektiven Gedächtnis zu tun habe, dann
existiere auch die Möglichkeit der Vererbung von erworbenen Eigenschaften,
nicht nur auf die Nachkommen von Eltern, die etwas Neues gelernt haben, sondern
potenziell auch auf alle Mitglieder der Spezies.
Diese Theorie gehe weiter als die Vererbungslehre von
Lamarck. Sie lasse auch Verbindungen zwischen verschiedenen Arten möglich
erscheinen. Es sei denkbar, dass eine Spezies in einem Teil der Welt die
morphogenetischen Felder einer anderen Art in einem anderen Teil der Welt
aufnehme und dadurch ähnliche Strukturen in sehr verschiedenen Organismen
auftauchten, die vielleicht durch große Entfernungen oder durch ein sehr langes
Zeitintervall voneinander getrennt seien. Selbst die Kennzeichen von bereits
ausgestorbenen Arten könnten dann wieder auftauchen. Solche Vorgänge seien aus
dem Studium der fossilen Geschichte bekannt, man spreche dann von „Atavismen“.
Am radikalsten verändere die Theorie unsere Auffassung vom
Gedächtnis. Wenn Organismen aus der Vergangenheit beeinflusst würden und diese
Wirkung umso größer sei, je ähnlicher diese Organismen einander seien, könnten
wir fragen: Welchem Organismus der Vergangenheit ähnelt ein Organismus am
meisten? Wer war mir ähnlicher als jeder andere Organismus? Die Antwort laute:
Ich selbst. Die direkteste Einwirkung durch morphische Resonanz sei die aus der
eigenen unmittelbaren Vergangenheit.
Dies erkläre seiner Meinung nach, warum die Form eines
Systems über die Zeit stabil bleibe, obwohl seine materiellen Bestandteile
ständig wechselten. Die Materie unseres Körpers sei einem dauernden Austausch
unterworfen, wir nähmen jeden Tag neue Substanz auf und verlören andere oder
schieden sie aus. Trotzdem bleibe unsere Form mehr oder weniger die gleiche.
Der Prozess der Selbstresonanz helfe, die Form zu bewahren und die Gestalt aufrecht
zu erhalten.
Auf der Verhaltensebene bedeute diese Selbst-Resonanz einen
direkten Einfluss vergangener Zustände auf den gegenwärtigen. Wenn man früher
etwas gelernt habe, dann beeinflusse dies die Art, wie man es jetzt tue. Und
die Erinnerung dieser Fertigkeit müsse nicht im Gehirn gespeichert werden, sie
könne direkt aus der Vergangenheit durch morphische Resonanz wirken.
Sheldrake ist nicht der Ansicht, dass Erinnerungen im Gehirn
gespeichert sein müssten. Unser Gehirn könne eher wie ein Empfänger als wie ein
Speicher funktionieren. Wenn wir nach einer Gehirnverletzung bestimmte Erinnerungen
verlören, so beweise das noch nicht, dass diese Erinnerung in dem Teil des
Gehirns gespeichert gewesen sei, der verletzt wurde. Die Tatsache, dass andere
Gehirnteile die Funktion des verletzten Teils nach und nach ersetzen könnten,
spreche eher für seine Theorie der morphischen Felder.
In der konventionellen Biologie gebe es viele verschiedene
Theorien des Gedächtnisses. Eine besage, dass Gedächtnisinhalte als Moleküle im
Gehirn gespeichert würden, z.B. als RNS. Diese Theorie komme langsam aus der
Mode. Eine andere nehme über das ganze Gehirn verteilte Veränderungen in den
Enden der Nervenzellen an, eine weitere postuliere Kreisläufe von
nachschwingender elektrischer Aktivität. Die Frage sei von der Biologie bisher
nicht gelöst.
Sheldrake behauptet, das Phänomen des Gedächtnisses sei noch
völlig ungeklärt, es gebe überhaupt keine Beweise dafür, dass Erinnerungen im
Gehirn gespeichert würden. Wir nähmen dies nur an, weil es unseren allgemeinen
materialistischen Grundannahmen entspreche. Aber man könne das durchaus in
Frage stellen, und dies sei auch im Laufe der Jahrhunderte schon von vielen
Philosophen gemacht worden. Das Problem sei mindestens 2000 Jahre alt.
Wenn nun Erinnerungen nicht im Gehirn gespeichert würden,
wenn wir vielmehr Erinnerungen empfingen, indem wir uns auf unsere vergangenen
Zustände einstellten, wieso empfingen wir dann nicht auch die Erinnerungen
anderer Menschen? Zusätzlich zu unseren persönlichen Erinnerungen könnten wir
dann die zusammengefassten Erinnerungen der ganzen Spezies aus einer Art
kollektivem Gedächtnis empfangen.
In diesem kollektiven Gedächtnis würden wir keine
spezifischen Details erwarten, sondern Zusammenfassungen. Die individuellen
Details bestimmter Erfahrungen würden in den Hintergrund treten, während das
allgemeine Erfahrungsmuster verstärkt würde. Wir würden etwas Ähnliches wie die
Archetypen des kollektiven Unbewussten bekommen, von denen C.G. Jung gesprochen
habe. Tatsächlich sei Sheldrakes Betrachtungsweise gut vereinbar mit Jungs
Konzept des kollektiven Unbewussten, das er auch als eine Art Gedächtnis
betrachtet habe.
Wenn Jung z.B. vom Mutterarchetyp gesprochen habe, so habe
er diesen Begriff als Zusammenfassung von zahllosen Einzelerfahrungen mit
Müttern in der Vergangenheit aufgefasst. Ein Archetyp habe Ähnlichkeit mit den
kumulativen Fotografien, bei denen die allgemeinen Charakteristika erhalten
blieben und die individuellen Details herausfielen. Jung habe auch sehr
überzeugende Belege für die Existenz eines kollektiven Unbewussten aus der
Untersuchung von Träumen, Mythen und ähnlichem Material geliefert.
Wenn wir unsere eigenen Erinnerungen aufnehmen könnten, wäre
es auch möglich, dass wir die Erinnerung einer anderen Person empfingen. Wenn
diese Erinnerung aus der unmittelbaren Vergangenheit stamme, also etwa eine
Sekunde alt sei, liefe das auf eine Gedankenübertragung oder Telepathie hinaus,
meint Sheldrake. Es wäre dann auch möglich, Zugang zu Erinnerungen von Menschen
zu haben, die bereits tot seien. Das wäre dann die Erinnerung an ein
vergangenes Leben. Dass so etwas vorkomme, dafür gebe es Beweise aus
Fallstudien von Kindern, und nicht ganz so verlässliche Belege, die durch hypnotische
Regression gewonnen worden seien.
Wenn Gedächtnisinhalte nicht im Gehirn gespeichert würden,
wäre es möglich, über ein Leben nach dem physischen Tod zu nachzudenken. Nach
dem mechanistischen Paradigma würden Erinnerungen im Gehirn gespeichert. Wenn
wir also stürben, zerfalle unser Gehirn, und mit ihm die Erinnerungen. Dieser
Biologie zufolge bestehe überhaupt keine Möglichkeit für ein Leben nach dem
Tode oder für Reinkarnation. Diese Dinge seien aber ein wichtiger Bestandteil
aller Religionen der Welt.
Der eigentliche Grund, warum ein Leben nach dem Tod von
Materialisten und dogmatischen Atheisten für unmöglich gehalten werde, sei die
Annahme, dass Erinnerungen im Gehirn gespeichert würden und daher nicht
überleben könnten. Sheldrake behaupte nicht, dass seine Theorie das bewusste
Überleben des physischen Todes beweisen könne. Aber immerhin räume sie diese
Möglichkeit ein, was die konventionelle Sichtweise nicht tue.
Zum Schluss weist Sheldrake darauf hin, dass seine Hypothese
lediglich erkläre, wie sich Ereignisse wiederholten, wenn sie sich einmal
ereignet hätten. Sie bringe uns dazu, die Gesetze der Natur mehr als
Gewohnheiten denn als ewige Wahrheiten zu betrachten. Sie sage, was einmal
geschehen sei, beeinflusse das, was jetzt geschehe, und was jetzt geschehe,
werde die Ereignisse in der Zukunft beeinflussen. Je öfter etwas geschehe,
desto wahrscheinlicher werde es in Zukunft wieder geschehen.
Die Theorie erkläre jedoch nicht das Phänomen der
Kreativität. Sie sage nichts darüber aus, wie das erste Mal zustande komme, wie
der erste Dinosaurier, die erste Symphonie von Mozart entstanden sei.
Schöpferische Akte könne sie nicht erklären, sie handele von der Wiederholung.
Er selbst glaube nicht, dass es überhaupt Aufgabe der Wissenschaft sei, die Kreativität
zu erklären.
Es gebe verschiedene Arten, die Kreativität zu verstehen.
Für den Materialisten sei sie letztlich ein Produkt des Zufalls, denn für ihn
gebe es im Universum nichts als die Materie, die Naturgesetze und den Zufall.
Der Pantheist oder Animist habe die Vorstellung eines kreativen Faktors in der
Natur, einer bestimmenden Intelligenz, die für Kreativität und den
evolutionären Prozess verantwortlich sei. Für den Theisten hänge die
Kreativität in der Natur letzten Endes von ihrem kreativen Urgrund ab, also von
Gott.
Diese Frage könne nicht entschieden werden. Aber obwohl ein
Theist und ein Atheist verschiedene Ansichten über Kreativität hätten, könnten
sie dennoch gemeinsam im Labor arbeiten und untersuchen, wie morphische
Resonanz zustande komme oder nicht. Diese Hypothese könne in sehr verschiedenen
metaphysischen Positionen ihren Platz finden.
Aristoteles habe das Universum als einen Organismus
betrachtet, in dessen Zentrum sich der Geist (Mensch) befinde. In späteren
wissenschaftlichen Modellen sei das Universum zu einer gleichgültigen Maschine
degradiert worden. Geist und Materie stünden sich als Gegensätze gegenüber. In
ihrer analytischen, atomistischen Betrachtungsweise hätten Descartes und Newton
einen Organismus als Mechanismus beschrieben.
In der philosophischen Tradition sei der Raum als bruchloses
Ganzes definiert worden. Sheldrake dagegen beschreibt Felder im Raum, in denen
eine Morphogenese (Entstehung von Formen) stattfindet. Denn schon Einstein habe
gezeigt, dass Zeit, Raum und Masse von einander abhängige Größen, also variabel
seien. Die Relativitätstheorie ermögliche durchaus die Annahme von Raumfeldern.
Ihre sichtbare Oberfläche sei die Form, sie repräsentiere Begrenzung und innere
Struktur zugleich.
Die Morphogenese verlaufe in den verschiedensten Bereichen
nach dem Prinzip der formbildenden Verursachung. In der Biologie entstünden die
Formen dadurch, dass bestimmte Zellen bestimmte Organe bildeten. Deren
Regulation erfolge durch organische Arbeitsteilung. Durch ihr
Regenerationsvermögen seien sie in der Lage, geschädigte Strukturen zu heilen.
Durch Vervielfältigung reproduzierten sich die Organismen selbst.
In geistigen Bereichen äußere sich die Formbildung im
Verhalten der Lebewesen. Als Beispiel nennt Sheldrake die Instinkte der Vögel
bei ihren Vogelzügen sowie der Spinnen bei ihrer Netzbildung, die instinktive
Verhaltenssteuerung bei höher entwickelten Tieren und letztendlich Lernen und
intelligentes Verhalten überhaupt.
November 2003
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