C.G. Jung: Die ARCHETYPEN (Urbilder im kollektiven Unbewussten)

 

C.G. Jung hat ein Bewusstseins-Modell entwickelt, das wie ein Eisberg aussieht, dessen Spitze aus dem Wasser ragt. Es ist in fünf Schichten unterteilt: Ganz unten befinde sich das biologische Bewusstsein, das auf biochemischen Prozessen beruhe und nur selten vom Bewusstsein registriert würde. Darüber liege das kollektive Unbewusste, dessen Bilder als Sinn oder Bedeutung ins Bewusstsein gelangen könnten: die Archetypen. Sie erschienen im Traum oder als grundlegende Emotionen. Das persönliche Unbewusste sei die Schicht darüber, sie enthalte persönlich Vergessenes und Verdrängtes. Das Bewusstsein trete in der nächsten Schicht auf, und nur die Spitze des Eisbergs enthalte das reflektierende Ich.

 

Das kollektive Unbewusste, in dem die Archetypen nach C.G. Jung angesiedelt sind, sei nicht individueller, sondern allgemeiner Natur. Im Gegensatz zur persönlichen Psyche enthalte es Inhalte und Verhaltensweisen, die überall und in allen Individuen die gleichen seien. Es bilde eine in jedermann vorhandene, allgemeine seelische Grundlage überpersönlicher Natur, während die Inhalte des persönlichen Unbewussten die gefühlsbetonten Komplexe seien, welche die Intimität des seelischen Lebens ausmachten.

 

Der Ausdruck "Archetypus" bedeute eine erklärende Umschreibung der platonischen "Ideen". Es handele sich um urtümliche Typen, seit alters her vorhandene allgemeine Bilder, zu vergleichen auch mit den "représentations collectives", mit denen Lévy-Bruhl die symbolischen Figuren primitiver Weltanschauungen bezeichne. Ein anderer Ausdruck der Archetypen seien der Mythos und das Märchen. Es handele sich um spezifisch geprägte Formen, durch lange Zeiträume entstanden und übermittelt.

 

Archetypen bezeichneten jene psychischen Inhalte, die noch keiner bewussten Bearbeitung unterworfen waren, mithin eine noch unmittelbare seelische Gegebenheit darstellten. Ihre unvermittelte Erscheinung trete uns in Träumen und Visionen entgegen, viel unverständlicher oder naiver als im Mythos. Mythen seien aus psychologischer Sicht psychische Manifestationen, welche das Wesen der Seele darstellten.

 

Der Archetypus werde durch seine Bewusstwerdung verändert, und zwar im Sinne des jeweiligen individuellen Bewusstseins, in dem er auftauche. Der ursprüngliche Archetypus stelle eine hypothetische, unanschauliche Vorlage dar, ähnlich wie das in der Biologie bekannte "pattern of behaviour" (Verhaltensmuster).

 

Die unbewusste Seele der Primitiven habe ein unüberwindliches Bedürfnis, äußere Sinneserfahrungen an seelisches Geschehen zu binden. Es genüge nicht, die Sonne auf- und untergehen zu sehen, sondern die Sonne müsse in ihrer Wandlung das Schicksal eines Gottes oder Helden darstellen, der eigentlich nirgends anders wohne als in der Seele des Menschen. Alle mythisierten Naturvorgänge wie Jahreszeiten, Mondwechsel usw. seien symbolische Ausdrücke für das innere und unbewusste Drama der Seele, welches auf dem Wege der Projektion, das heiße gespiegelt in den Naturereignissen, dem menschlichen Bewusstsein fassbar werde.

 

Die Projektion sei dermaßen gründlich, dass es einiger Jahrtausende Kultur bedurft habe, um sie auch nur einigermaßen vom äußeren Objekt abzutrennen. Im Falle der Astrologie habe man es bis heute nicht fertig gebracht, die psychologische Charakterologie von den Sternen abzutrennen. In der Unbewusstheit des Seelenvorgangs liege der Grund, warum man zur Erklärung des Mythos nicht an die Seele gedacht habe. Man habe einfach nicht gewusst, dass die Seele alle jene Bilder enthalte, aus denen die Mythen entstanden seien, und dass unser Unbewusstes ein handelndes und erleidendes Subjekt sei, dessen Drama der primitive Mensch in allen großen und kleinen Naturvorgängen analogisch wiederfinde.

 

Alte Stammeslehren seien heilig-gefährlich. Alle Geheimlehren suchten das unsichtbare Geschehen der Seele zu erfassen, und alle beanspruchten für sich höchste Autorität. Was für diese primitiven Lehren wahr sei, gelte in noch höherem Maße von den herrschenden Weltreligionen. Sie enthielten ursprünglich geheimes Offenbarungswissen und hätten die Geheimnisse der Seele in herrlichen Bildern ausgedrückt. Diese Bilder seien aus dem Urstoff der Offenbarung geschaffen und bildeten die jeweils erstmalige Begegnung mit der Gottheit ab.

 

Vor der christlichen Kirche habe es antike Mysterien gegeben, welche sich bis in die graue Vorzeit des Neolithikums (Steinzeit) erstreckten. Nie habe es der Menschheit an kräftigen Bildern gemangelt, welche magischen Schutz verliehen gegen das unheimlich Lebendige der Seelentiefe. Immer hätten die Gestalten des Unbewussten hinausgewiesen in den kosmischen, außerseelischen Raum. Heute ersetze das kirchliche Dogma das kollektive Unbewusste, indem es dieses formuliere.

 

Der Bildersturm der Reformation habe eine Bresche in den Schutzwall der heiligen Bilder geschlagen, und seitdem bröckele eines nach dem anderen ab, denn sie kollidierten mit der erwachenden Vernunft. Zudem habe man schon längst zuvor vergessen, was sie meinten. Archetypische Bilder seien nämlich so bedeutungsvoll, dass man nie danach frage, was sie eigentlich meinen könnten.

 

Darum stürben auch von Zeit zu Zeit die Götter, weil man plötzlich entdecke, dass sie nichts bedeuteten, dass sie von Menschenhand gemachte Nichtsnutzigkeiten seien. Wenn der Mensch anfange, über seine Bilder nachzudenken, tue er es mithilfe dessen, was er Vernunft nenne, was aber in Wirklichkeit nichts anderes sei als die Summe seiner Voreingenommenheiten und Kurzsichtigkeiten.

 

Der protestantische Mensch sei in eine Schutzlosigkeit hinausgestoßen, vor der es dem natürlichen Menschen grauen könne. Das aufgeklärte Bewusstsein wolle allerdings davon nichts wissen, suche aber anderswo, was in Europa verloren gegangen sei, und finde die Schätze des Ostens. Dagegen sei an sich nichts einzuwenden. Hätte den germanischen Völkern das sogenannte artfremde Christentum nicht gepasst, so hätten sie es leicht wieder abstoßen können. Es sei aber geblieben, denn es entspreche der vorhandenen archetypischen Vorlage.

 

Die Götter von Hellas und Rom seien an der gleichen Krankheit zugrunde gegangen wie unsere christlichen Symbole: Damals wie heute hätten die Menschen entdeckt, dass sie sich nichts darunter gedacht hatten. Die Götter der Fremden hingegen hätten noch unverbrauchtes Mana, seien ahnungsreich dunkel. Die asiatischen Symbole verstehe man wenigstens nicht, deshalb seien sie nicht banal wie die altgewohnten Götter.

 

Alles, worüber man sich nichts gedacht habe und was dadurch eines sinngemäßen Zusammenhangs mit dem sich weiterentwickelnden Bewusstsein ermangele, sei verlorengegangen. C.G. Jung erscheint es besser, sich entschlossen zur geistlichen Armut der Symbollosigkeit zu bekennen, statt sich ein Besitztum vorzutäuschen, dessen legitime Erben wir nicht seien. Doch sei es auch gefährlich, sich zur geistlichen Armut zu bekennen, denn wer arm sei , begehre, und wer begehre, ziehe ein Schicksal auf sich. Und wo Gott am nächsten, sei die Gefahr am größten.

 

Die geistliche Armut entsage den falschen Reichtümern des Geistes, um sich zurückzuziehen von den Lockungen des Exotischen. Sie kehre bei sich ein, wo im kalten Lichte des Bewusstseins sich die Kahlheit der Welt bis zu den Gestirnen weite. Unser Intellekt habe Ungeheures geleistet, derweil unser geistliches Haus zerfallen sei. Der Intellekt habe sich des Sitzes, auf dem der Geist einst thronte, bemächtigt. Doch nur der Geist dürfe sich die Herrschaft über die Seele anmaßen, nicht der erdgeborene Intellekt, der ein Schwert oder ein Hammer des Menschen sei, kein Schöpfer geistiger Welten, kein Vater der Seele.

 

Der Weg der Seele, die wie Sophia den verlorenen Vater suche, führe darum zum Wasser. Zu jenem dunklen Spiegel, der in ihrem eigenen Grunde ruhe. Dieses Wasser sei kein metaphorisches Gerede, sondern ein lebendiges Symbol für die dunkle Psyche. Der Geisteshauch, der im Traum über das dunkle Wasser husche, sei unheimlich wie alles, dessen Ursache man nicht kenne. Es werde damit eine unsichtbare Präsenz angedeutet, die aus sich heraus lebe, und ein Schauer überfalle den Menschen, dem Geist nur das gewesen sei, was man selber macht.

 

Wenn es aber spontan (von selbst) geschehe, sei es ein Spuk, und primitive Angst erfasse den naiven Verstand. Wie bei einem afrikanischen Pan, der in der gespenstischen Mittagsstunde im Schilf flötenblasend umgehe und die Hirten erschrecke. Den Weg des Wassers, das immer nach unten fließe, müsse man wohl gehen, wenn man den Schatz, das kostbare Erbe des Vaters, wieder heben wolle.

 

Das Wasser sei das geläufigste Symbol für das Unbewusste. Der Abstieg in die Tiefe scheine dem Aufstieg immer voranzugehen. Wasser stehe darum psychologisch für Geist, der unbewusst geworden sei. Das Unbewusste sei jene Psyche, die aus der Tageshelle eines geistig und sittlich klaren Bewusstseins hinunter reiche in jenes Nervensystem, das als Sympathikus bezeichnet werde und nicht, wie das Zerebrospinalsystem, Wahrnehmung und Muskeltätigkeit unterhalte und damit den umgebenden Raum beherrsche.

 

Das Unbewusste erhalte ohne Sinnesorgane das Gleichgewicht des Lebens und vermittle auf geheimnisvollen Wegen (durch Miterregung) nicht nur Kunde vom innersten Wesen anderen Lebens, sondern strahle auch eine innere Wirkung auf dieses Leben aus. Es sei ein kollektives System, die eigentliche Grundlage aller Mystik, während die zerebrospinale Funktion in der Absonderung der Ich-Bestimmtheit gipfele und durch das Medium des Raumes stets nur Oberflächen und Äußerlichkeiten erfasse. Diese erlebe alles als Außen, jenes aber alles als Innen.

 

Das Unbewusste repräsentiere eine gewisse abgekapselte Intimität, das, was die Bibel als Herz bezeichne. In den Kammern des Herzens wohnten die schlimmen Blutgeister, rascher Zorn und sinnliche Schwäche. So sehe das Unbewusste aus, wenn es vom Bewusstsein betrachtet werde. Das Bewusstsein scheine aber wesentlich eine Angelegenheit des Großhirns zu sein, das alles zertrenne und in Vereinzelung sehe.

 

Der Spiegel des Wassers schmeichele nicht. Er zeige getreu, was in ihn hinein schaue, nämlich jenes Gesicht, das wir der Welt nie zeigten, weil wir es durch die Persona, die Maske des Schauspielers, verhüllten. Der Spiegel aber liege hinter der Maske und zeige das wahre Gesicht. Dies sei die erste Mutprobe auf dem inneren Weg. Sie genüge, um die meisten abzuschrecken, denn die Begegnung mit sich selber gehöre zu den unangenehmen Dingen, denen man lieber entgehe, solange man alles Negative auf die Umgebung projizieren könne.

 

Sei man imstande, den eigenen Schatten (1. Archetyp) zu sehen und das Wissen um ihn zu ertragen, so sei ein kleiner Teil der Aufgabe gelöst: Man habe wenigstens das persönliche Unbewusste aufgehoben. Ein solches Eingeständnis habe den Vorteil der Ehrlichkeit, der Wahrheit und der Wirklichkeit, und damit sei der Weg geebnet für eine kompensatorische Reaktion des kollektiven Unbewussten.

 

Man sei jetzt geneigt, einem hilfreichen Einfall Gehör zu schenken oder Gedanken wahrzunehmen, die man vorher nicht zu Worte kommen ließ. Man werde vielleicht auf Träume achten, die sich in solchen Momenten einstellten, oder gewisse Ereignisse bedenken, die sich gerade zu dieser Zeit abspielten. Habe man eine derartige Einstellung erreicht, könnten hilfreiche Kräfte, die in der tieferen Natur des Menschen schlummerten, erwachen. Die Reaktion des kollektiven Unbewussten drücke sich in archetypisch geformten Vorstellungen aus.

 

Die Begegnung mit sich selber bedeute zunächst die Begegnung mit dem eigenen Schatten. Der Schatten sei ein Engpass, ein schmales Tor, dessen peinliche Enge keinem, der in den tiefen Brunnen hinuntersteige, erspart bleibe. Man müsse sich aber selber kennen lernen, damit man wisse, wer man sei, denn das, was nach dem Tode komme, sei unerwarteterweise eine grenzenlose Weite voll unerhörter Unbestimmtheit. Es sei die Welt des Wassers, in der alles Lebendige suspendiert schwebe, wo das Reich des Sympathikus, der Seele alles Lebendigen, beginne.

 

Das kollektive Unbewusste sei kein abgekapseltes, persönliches System, es sei weltweite Objektivität. "Ich bin das Objekt aller Subjekte, in völliger Umkehrung des gewöhnlichen Bewusstseins, wo ich stets Subjekt bin, welches Objekte hat". Dieses Selbst aber sei die Welt. Darum müsse man wissen, wer man sei. Kaum berühre einen nämlich das Unbewusste, so sei man es schon, indem man seiner selbst unbewusst werde. Das sei die Urgefahr, die dem primitiven Menschen, der ja noch so nahe an diesem Abgrund stehe, instinktmäßig bekannt und ein Gegenstand des Schreckens sei.

 

Die Bewusstheit des Primitiven sei noch unsicher und stehe auf schwankenden Füßen. Sie sei noch kindlich, eben aufgetaucht aus den Urwassern. Leicht könne eine Woge des Unbewussten über sie hinweg schwappen und der Mensch vergessen, wer er gewesen sei, und Dinge tun, in denen er sich selbst nicht mehr kenne. Deshalb scheuten Primitive unbeherrschte Affekte, weil in solchen allzu leicht das Bewusstsein untergehe und der Besessenheit Raum gebe. Alles Trachten der Menschheit gehe daher nach Befestigung des Bewusstseins. Diesem Zweck hätten die Riten und Dogmen gedient, sie seien Dämme und Mauern gewesen, errichtet gegen die Gefahren des Unbewussten.

 

Diese Mauern seien später zu den Fundamenten der Kirche geworden. Ob primitiv oder nicht, die Menschheit stehe immer an den Grenzen jener Dinge, die sie selbst tun und doch nicht beherrschen. Alle Welt wolle den Frieden, doch alle Welt rüste zum Kriege. Die Menschheit vermöge nichts gegen die Menschheit auszurichten, und die Schicksalswege würden ihr von Götter gewiesen. Wir nennten diese Götter heute "Faktoren"; diese Macher stünden hinter den Kulissen des Welttheaters. Im Bewusstsein seien wir unsere eigenen Herren, die Faktoren selber. Schritten wir aber durch das Tor des Schattens, so würden wir mit Schrecken inne, dass wir nur Objekte von Faktoren seien.

 

Die größte Gefahr, die uns bedrohe, stamme aus der Unabsehbarkeit der psychischen Reaktion. Wirklich daseinsbedrohende Gefahren seien die politisch-sozialen Wahnbildungen, die als Entscheidungen des Unbewussten aufzufassen seien. Alle Zeiten vor uns hätten noch an Götter geglaubt. Es habe einer beispiellosen Verarmung an Symbolik bedurft, um die Götter als psychische Faktoren, nämlich als Archetypen des Unbewussten wieder zu entdecken und mit ihnen die Selbsttätigkeit des Geistes über den Wassern zu erfahren.

 

Symbole seien Geist von oben. Unser Unbewusstes aber berge belebtes Wasser, das heiße naturhaft gewordenen Geist. Der Himmel sei uns physikalischer Weltraum geworden, aber geheime Unruhe benage die Wurzeln unseres Seins. Die Beschäftigung mit dem Unbewussten sei eine Lebensfrage. Es handele sich um geistiges Sein oder Nichtsein. Alle Menschen, denen eine im Traum angedeutete Erfahrung zugestoßen sei, wüssten, dass der Schatz in der Wassertiefe ruhe. Da sie aber nie vergessen dürften, wer sie seien, dürften sie ihr Bewusstsein unter keinen Umständen verlieren. Sie würden deshalb zu Fischern, welche mit Angel und Netz das fingen, was im Wasser schwimme.

 

Wer ins Wasser schaue, sehe zwar sein eigenes Bild, aber dahinter tauchten bald lebendige Wesen auf. Die Nixe sei die instinktive Vorstufe eines zauberischen weiblichen Wesens, welches wir als Anima bezeichneten (2. Archetyp). Es könnten auch Sirenen, Melusinen, Waldfrauen, Huldinnen oder Erlkönigstöcher sein, welche Jünglinge betörten und ihnen das Leben aussaugten. Sie stammten aus einer Zeit, da das dämmernde menschliche Bewusstsein noch ganz naturgebunden gewesen sei und Geister in Wald, Feld und Wasserläufen gewohnt hätten.

 

Anima heiße Seele und bezeichne etwas Wunderbares und Unsterbliches. Seele sei das Lebendige im Menschen. Wäre sie nicht schillernd und bewegt, würde der Mensch in seiner größten Leidenschaft, der Trägheit, zum Stillstand kommen. Die Seele sei innerhalb des Dogmas mit einseitigen Strafen und Segnungen bedroht, die weit über menschenmögliches Verdienst hinausgingen. Himmel und Hölle seien Schicksale der Seele.

 

Die Anima sei kein philosophischer Begriff, sondern ein natürlicher Archetypus, der alle Aussagen des Unbewussten, des primitiven Geistes, zur Religionsgeschichte mache. Man könne die Seele nicht machen, sondern sie sei immer das Apriori von Stimmungen, Reaktionen und Impulsen. Sie sei das Leben hinter dem Bewusstsein, das aus ihr hervorgehe. Sie werde von Männern als weiblich empfunden, weil das, was nicht zum männlichen Ich gehöre, weiblich sein müsse. Es werde als außerhalb empfunden.

 

Jedem Geschlecht wohne das Gegengeschlecht bis zu einem gewissen Teil inne. Die größere Anzahl von Genen gebe zwar den Ausschlag bei der Wahl des Geschlechts, die kleinere Anzahl der Gene des anderen Geschlechts scheine jedoch einen eigenen Charakter zu bilden, welcher infolge seiner Unterlegenheit gewöhnlich unbewusst bleibe.

 

Mit dem Archetypus der Anima beträten wird das Reich der Götter bzw. der Metaphysik. Was sie berühre, werde numinos, gefährlich, tabuiert, magisch. Sie sei die Schlange im Paradies der guten Vorsätze, die moralische Hemmungen zerstöre und Mächte entfessele, die man besser im Unbewussten gelassen hätte. Indem die Anima das Leben wolle, wolle sie Gutes und Böses zugleich, doch in ihrem Bereich gebe es diese Kategorien nicht. Das Leben komme ohne die konventionelle Moral oft viel besser aus und bleibe gesünder.

 

Die Anima glaube allerdings an das Gute und Schöne. Sie erscheine gern in historischem Gewand, mit besonderer Vorliebe für Griechenland und Ägypten, als Venus oder Helena. Die Anima könne die Himmelskönigin und das naive Gänschen sein, Madonna und die Mutter allen Unsinns. Sie könne auch als ein Engel des Lichts erscheinen und zum höchsten Sinne führen. Der Mensch stehe mit seinem heilsamen Tierinstinkt im Kampf mit seiner Seele und deren Dämonie.

 

Für den Sohn stecke in der Übermacht der Mutter die Anima (sagt C.G. Jung), dem antiken Menschen sei sie als Göttin oder Hexe erschienen, im Mittelalter sei die Göttin durch die Mutter Kirche ersetzt worden. Bevorzugt finde sie sich in der Projektion auf das andere Geschlecht, wodurch magisch komplizierte Beziehungen entstünden. Deshalb sei die Psychotherapie entstanden. Freud habe die Sexualität für die Grundlage aller Störungen gehalten und damit Ursache und Wirkung verwechselt. Denn die sexuelle Störung sei eine pathologische Wirkung, die von einer verminderten Anpassung des Bewusstseins an die Urbilder ausgehe, wenn die Welt sich geändert habe.

 

Doch nütze es nichts, Archetypen wie den Schatten oder die Anima begrifflich zu durchdringen, denn sie seien Erlebniskomplexe, die schicksalsmäßig einträten. Den Psychologen stünde als Ärzten ihr somato-psychologisches Denken im Wege, welches glaube, psychologische Vorgänge durch intellektuelle oder biologische Begriffe ausdrücken zu können. Psychologie sei aber rein das Wissen um die Seele.

 

Die Anima sei chaotischer Lebensdrang, aber daneben hafte ihr etwas seltsam Bedeutendes an, wie geheimes Wissen oder verborgene Weisheit, im merkwürdigen Gegensatz zu ihrer sonst irrationalen Natur. Die erste Begegnung mit ihr lasse auf alles andere eher schließen als auf Weisheit. Doch werde man zunehmend erkennen, dass hinter all dem grausamen Spiel mit menschlichem Schicksal etwas stecke wie geheime Absicht, die einer überlegenen Kenntnis der Lebensgesetze zu entsprechen scheine. Gerade das zunächst Chaotische enthülle tiefen Sinn.

 

Das Sinnvolle scheide sich vom Sinnlosen, damit entstünde ein neuer Kosmos der uralten Wahrheit. Weisheit und Narrheit seien eines und dasselbe, solange sie durch die Anima dargestellt würden. Das Leben sei närrisch und bedeutend, und wenn nicht drüber nachgedacht werde, sei es banal. Als es noch keine denkenden Menschen gegeben habe, sei niemand da gewesen, der die Erscheinungen gedeutet habe. Doch nur dem müsse gedeutet werden, der nicht verstehe. Bedeutung habe nur das Unverständliche.

 

Die Anima und das Leben seien insofern bedeutungslos, als sie keine Deutung anböten. Doch lasse ihre chaotische Willkür eine geheime Ordnung ahnen, Sinn und Absicht. Bei dieser Suche helfe einem keine Wissenschaft und Philosophie. Man sei in zielloses Erleben verstrickt, und das Urteil mit allen seinen Kategorien erweise sich als machtlos. Es sei ein Moment des Zusammenbruchs: Man versinke in eine Tiefe und unterliege einem erzwungenen Verzicht auf eigenes Können und Wissen. Es sei eine völlige unmissverständliche Niederlage des Ich, gekrönt von der panischen Angst der Demoralisierung.

 

Erst wenn alle Stützen gebrochen seien und nicht die leiseste Deckung in Sicht, sei die Möglichkeit gegeben zum Erlebnis eines Archetypus, der sich bisher in der bedeutungsschweren Sinnlosigkeit der Anima verborgen gehalten habe: Es sei der Archetypus des Sinnes (3. Archetypus). Der Sinn scheine uns immer das jüngere Ereignis zu sein, weil wir annähmen, dass wir ihn selber gäben, und weil wir glaubten, die Welt könne nicht bestehen, ohne gedeutet zu sein.

 

Doch beruhe die Sinngebung letztlich auf sprachlichen Matrizen, die ihrerseits von urtümlichen Bilder abstammten. Jede Sprach- und Motivgeschichte führe unweigerlich in die primitive Wunderwelt zurück. Beispielsweise gehe das Wort "Idee" auf Platon zurück, bei dem die ewigen Ideen Urbilder seien und an überhimmlischem Ort als transzendente ewige Formen aufbewahrt würden. Das Auge des Sehers erschaue sie, ihm erschienen sie als Bilder des Traumes oder der offenbarenden Vision.

 

Der Begriff der Energie weise heute auf physikalisches Geschehen hin. Früher sei es das geheimnisvolle Feuer der Alchemisten gewesen, welches schon ganz nahe an der primitiven Anschauung einer allgemein verbreiteten lebendigen Kraft stehe, einer Wachstums- und magischen Heilkraft, die gewöhnlich als Mana bezeichnet werde. Allen Anschauungen lägen archetypische Urformen zugrunde, deren Anschaulichkeit in einer Zeit entstanden sei, in der das Bewusstsein noch nicht gedacht, sondern wahrgenommen habe.

 

Der Gedanke sei ein Objekt der inneren Wahrnehmung gewesen. Als Erscheinung empfunden, sei er gesehen oder gehört worden. Das Denken gehe dem primitiven Ich-Bewusstsein voraus und benutze es als Objekt (Heidegger: "Das Denken benutzt den Menschen." Descartes müsste sagen: "Es denkt mich", statt: "Ich denke"). Das Unbewusste denke in Symbolen, seine Lösungsstrategien seien dem Bewusstsein oft unverständlich.

 

Der Archetypus des Sinnes erscheine meist in Gestalt des alten Weisen (3. Archetypus), als überlegener Meister und Lehrer. Es sei ein Archetypus des Geistes, welcher den präexistenten, im chaotischen Leben verborgenen Sinn darstelle. Er sei der Vater der Seele, die doch wunderbarerweise seine Jungfrau-Mutter sei, weshalb er von den Alchemisten als der "uralte Sohn der Mutter" bezeichnet worden sei. Der "alte Weise" sei synonym mit dem Magier, der seinerseits auf die Gestalt des Medizinmannes zurückgehe. Er sei ein unsterblicher Dämon, welcher die chaotischen Dunkelheiten des Lebens mit dem Licht des Sinnes durchdringe.

 

Wie alle Archetypen habe auch der alte Mann einen positiven und einen negativen Aspekt. Er sei Luzifer und der Erleuchtende, Greis und Jüngling zugleich. Der Schatten, die Anima und der alte Weise seien Archetypen, die in unmittelbarer Erfahrung personifiziert erschienen. Im Verlauf des Erfahrungsprozesses träten die Archetypen als handelnde Persönlichkeiten in Träumen und Phantasien auf. Der Prozess selber stelle sich wieder in einer anderen Art von Archetypen dar: in der Wandlung. Sie bezeichne typische Situationen, Orte oder Mittel, welche die Art der Veränderung symbolisierten.

 

Die Grundprinzipien des Unbewussten seien wegen ihres Beziehungsreichtums unbeschreibbar, trotz ihrer Erkennbarkeit. Das intellektuelle Urteil suche immer ihre Eindeutigkeit festzustellen und gehe damit am Wesentlichen vorbei. Das einzige ihrer Natur Entsprechende sei ihre Vieldeutigkeit. Außerdem seien sie prinzipiell paradox. Wenn man sich vom symbolischen Prozess der Wandlung ein Bild machen wolle, seien das tantrische Chakrensystem, das mystische Nervensystem des Yoga oder die Bildserien des Tarot hilfreich.

 

Es sei ein Erleben im Bild und stelle einen Rhythmus von Negation und Position dar. Sein Anfang sei stets charakterisiert durch eine Sackgasse, sein Ziel sei Erleuchtung oder höhere Bewusstheit. Obschon zunächst alles im Bild, das heiße symbolisch erlebt werde, handele es sich doch um wirkliche Risiken, von denen ein Schicksal abhängen könne. Die Hauptgefahr bestehe in einem Unterliegen unter dem faszinierenden Einfluss der Archetypen, was dann eintrete, wenn man sich die archetypischen Bilder nicht bewusst mache.

 

Die archetypischen Figuren könnten sich von der Bewusstseinskontrolle befreien und Besessenheitsphänomene erzeugen. Sie belebten dann die Delirien des Psychotischen. Deshalb sei die Integration des Unbewussten ins Bewusstsein ein notwendiger Vorgang, den Jung als Individuationsprozess bezeichnet. Dieser Prozess entspreche dem natürlichen Ablauf eines Lebens, in welchem das Individuum zu dem werde, was es immer schon gewesen sei.

 

In einer solchen Entwicklung irre das Bewusstsein immer wieder einmal von der archetypischen Instinktgrundlage ab und gerate zu ihr in Gegensatz. Psychotherapie auf primitiver Stufe finde dann in Form von Wiederherstellungsriten statt. Auch die heutige therapeutische Methode bestehe in einer vollständigen Bewusstmachung der unbewussten Inhalte und in ihrer Synthese mit dem Bewusstsein, und zwar durch den Erkenntnisakt. Allerdings könnten die Archetypen nicht rational integriert werden, sondern verlangten ein dialektisches Verfahren. Diese Auseinandersetzung in Dialogform entspreche der alchemistischen Definition der Meditation als innerem Zwiegespräch mit seinem guten Engel und habe oft einen dramatischen Verlauf.

 

 

Das kollektive Unbewusste

 

Das kollektive Unbewusste sei kein Ergebnis persönlicher Erfahrung. Während das persönliche Unbewusste aus Inhalten bestehe, die aus dem Bewusstsein entschwunden seien, indem sie vergessen oder verdrängt wurden, seien die Inhalte des kollektiven Unbewussten nie im Bewusstsein enthalten gewesen. Sie verdankten ihr Dasein ausschließlich der Vererbung. Auf dieser Ebene seien die Archetypen "Kategorien der Imagination" bzw. Elementar- oder Urgedanken.

 

Im Unterschied zur persönlichen Natur der bewussten Psyche gebe es ein zweites psychisches System von kollektivem, nicht persönlichem Charakter. Instinkte seien ebenfalls solche nicht-persönlichen Faktoren, die häufig so weit vom Rande des Bewusstseins entfernt seien, dass die moderne Psychotherapie den Patienten erst zu ihrer Bewusstwerdung verhelfen müsse. Instinkte seien spezifisch geformte Triebkräfte, die, lange vor jeder Bewusstwerdung, ihre inhärenten Ziele verfolgten. Jung nimmt an, dass die Archetypen die unbewussten Abbilder der Instinkte selbst seien. Sie stellten das Grundmuster instinkthaften Verhaltens dar.

 

Der Begriff des kollektiven Unbewussten sei weder eine spekulative noch philosophische Angelegenheit, sondern eine empirische Tatsache. Im dritten Reich schien eine ganze, große Nation ein archaisches Symbol wieder zu beleben. Immer, wenn in einer großen Anzahl von Individuen Neurosen entstünden, müssten wir die Anwesenheit von Archetypen annehmen. Das Schicksal großer Völker sei letztlich nur die Summierung der psychischen Veränderung von Individuen, und Neurosen seien soziale Erscheinungen. Die Art Archetypus, die der jeweiligen Situation entspreche, sei dann wiederbelebt worden. Als Ergebnis träten explosive und gefährliche Triebkräfte auf, die im Archetypus verborgen gewesen seien.

 

Es gebe so viele Archetypen wie typische Situationen im Leben. Endlose Wiederholung habe diese Erfahrungen in die psychische Konstitution des Menschen eingeprägt, zunächst noch nicht in Form von Bildern, sondern als Formen ohne Inhalte. Sie stellten bloß die Möglichkeit eines bestimmten Typus der Auffassung oder des Handelns dar. Wenn sich im Leben etwas ereigne, was einem Archetypus entspreche, werde dieser aktiviert, und es trete eine Zwanghaftigkeit im Handeln auf, die, wie eine Instinktreaktion, sich wider Vernunft und Willen durchsetze oder einen Konflikt hervorrufe, der pathologisch bis zur Neurose anwachsen könne.

 

Das Material der Archetypen liege hauptsächlich in Träumen, die den Vorteil hätten, vom Willen unabhängige, spontane Erzeugungen der unbewussten Psyche zu sein. Sie seien daher reine, von jeder bewussten Absicht unbeeinflusste Naturprodukte. Eine weitere Quelle seien die aktiven Imaginationen. Das seien jene Serien von Phantasien, die absichtliche Konzentration ins Dasein bringe. Traumquellen seien häufig unterdrückte Instinkte, die den bewussten Verstand beeinflussten. Wichtig sei es, den Kontext und das zugehörige assoziative Material zu betrachten, um den Sinn zu verstehen. Archetypisches Material finde sich auch in den Wahnideen Geisteskranker, in Trancezuständen und in Träumen aus der frühen Kindheit.

 

"Anima" sei ein reiner Erfahrungsbegriff. Die Seele reagiere selbst auf Einflüsse aus allen Gebieten menschlicher Erfahrung. Wenn wir die Seele verstehen wollten, müssten wir die Welt einbeziehen. Zum Beispiel beruhe die Atomtheorie des Demokrit nicht auf dem Gedanken von Atomzertrümmerungen, sondern auf der mythologischen Vorstellung kleinster Teilchen, die als Seelenatome, als belebte kleinste Teilchen schon seit paläolithischen Zeiten bekannt seien.

 

Wir seien überhaupt nicht imstande, jemals anzugeben, wie die Welt an sich überhaupt beschaffen sei, da wir gezwungen seien, das physische Geschehen in einen psychischen Prozess umzusetzen, wenn wir überhaupt von Erkenntnis reden wollten. Wer garantiere aber, dass bei dieser Umsetzung ein "objektives" Weltbild herauskomme? Es sei denn, dass das physische Geschehen ebenfalls ein psychisches sei. Da wir das nicht wüssten, müssten wir uns mit der Annahme begnügen, dass die Seele jene Bilder und Formen liefere, welche die Erkenntnis des Objektes überhaupt erst ermöglichten.

 

Demokrits Atomlehre habe ihren Anfang genommen in archetypischen Vorstellungen, das heiße in Urbildern, welche nicht Abbildungen physikalischer Ereignisse, sondern Eigenprodukte des seelischen Faktors seien. Im Gegenteil übersetze die Seele den physikalischen Vorgang in Bilderfolgen, die häufig mit dem objektiven Vorgang einen kaum noch erkennbaren Zusammenhang hätten. Die materialistische Hypothese, die Seele bloß als einen Abklatsch physikalischer und chemischer Vorgänge zu begreifen, gehe mit metaphysischer Anmaßlichkeit über das Erfahrbare hinaus.

 

Es bestehe kein Anlass, die Psyche als etwas Sekundäres oder als ein Epiphänomen (Begleiterscheinung) zu betrachten statt eines eigenständigen Faktors, bevor erwiesen sei, dass der seelische Prozess auch in der Retorte fabriziert werden könne. Dieser Anspruch der Alchemisten sei allerdings schon im Mittelalter verlacht worden. Bis dahin müsse der seelische Faktor als autonome Wirklichkeit rätselhaften Charakters gelten, weil er von physikalisch-chemischen Vorgängen völlig wesensverschieden erscheine.

 

Seelische Existenz sei der Willkür bewusster Handhabung entzogen. Wenn von Flüchtigkeit, Oberflächlichkeit oder Schattenhaftigkeit die Rede sei, so könne dies nur von den Bewusstseinsinhalten gelten, nicht aber vom Objektiv-Psychischen, dem Unbewussten, welches eine a priori bestehende Bedingung des Bewusstseins und seiner Inhalte darstelle. Vom Unbewussten gingen determinierende Wirkungen aus, welche in jedem Individuum die Ähnlichkeit, sogar Gleichheit der Erfahrung gewährleisteten.

 

Auch in der chinesischen Philosophie werde "Anima" als ein weiblicher und eigenständiger Seelenteil aufgefasst. Es handele sich um einen Erfahrungsbegriff, dem die Gestalt, in der er erscheine, notwendigerweise anhafte, sonst könnte man ihn nicht beschreiben. Eine wissenschaftliche Psychologie müsse jene transzendentalen Anschauungen des menschlichen Geistes als Projektionen auffassen, das heiße als psychische Inhalte, die in einen metaphysischen (vorgestellten) Raum hinaus gesetzt würden.

 

Die Anima begegne uns historisch in den göttlichen Syzygien, den mannweiblichen Götterpaaren. Diese reichten einerseits in die Dunkelheiten primitiver Mythologie hinunter, andererseits in die klassischen Höhen chinesischer Philosophie, wo das kosmologische Begriffspaar als yang (männlich) und yin (weiblich) bezeichnet würden. Die Syzygien seien ebenso universal wie das Vorkommen von Mann und Frau. Offensichtlich sei diese Imagination das Ergebnis der häufigen Veranlassung, immer wieder dasselbe zu projizieren.

 

Die Projektion sei ein unbewusster automatischer Vorgang, durch den sich ein unbewusster Inhalt auf ein Objekt übertrage, das dadurch so erscheine, als ihm der Inhalt zugehörte. Die Projektion höre in dem Augenblick auf, in dem sie bewusst werde, das heiße, wenn der Inhalt als dem Subjekt zugehörig gesehen werde. So könnten beispielsweise die eigenen Eltern nicht projiziert werden, weil sie zu bewusst seien. Doch seien über die Inzestphantasie hinaus hoch emotionale Inhalte mit den Elternbildern verknüpft, auch seien religiöse Vorstellungen mit ihnen assoziiert.

 

Religiöse Vorstellungen seien von höchster suggestiver und emotionaler Kraft, wie alles, was sich auf -ismus reime (Atheismus, Kommunismus). Deren Anhänger seien von einer übergeordneten Idee besessen. Mit diesen Elternimagines seien theistische (religiöse) Vorstellungen assoziiert. Menschen stünden immer unter dem Einfluss dominierender Vorstellungen. Der Archetypus der religiösen Vorstellungen habe, wie jeder Instinkt, seine spezifische Energie, die er nicht verliere, auch wenn das Bewusstsein sie ignoriere.

 

Die kollektiven Bilder hätten eine dominierende Kraft und würden daher mit intensivstem Widerstand unterdrückt. Im Zustand ihres Verdrängtseins verbärgen sie sich hinter jenen Vorstellungen und Gestalten, die aus anderen Gründen bereits problematisch seien, und komplizierten deren Fragwürdigkeit noch. Alles, was man den Eltern zutraue, werde durch diesen heimlichen Zuschuss ins Phantastische übertrieben. Hinter dem Eltern- oder Liebespaar lägen Inhalte höchster Spannung, die im Bewusstsein nicht apperzipiert (wahrgenommen) würden und sich daher nur durch Projektion bemerkbar machen könnten.

 

Im Gegensatz zur traditionellen Glaubenseinstellung würden solche Syzygien seit Urzeiten von Menschen projiziert, und zwar in visionärer, erlebnismäßiger Form, obwohl die Kirche schon seit Jahrtausenden das weibliche Element als häretisch aus der Trinität ausgeschieden habe. Zwar gebe es auch eine größere Anzahl von Visionen, die dem Dogma entsprächen; dabei handele es sich aber um Visualisierungen bewusster Inhalte, hervorgerufen durch Andacht, Auto- und Heterosuggestion. Nur die ursprüngliche Deutung des heiligen Geistes als weiblicher und mütterlicher Sophia stehe in Übereinstimmung mit dem Archetypus des Götterpaares, der Syzygie.

 

Auch in mystischen Visionen sei Gott oft als Lichtvision in einer Dualität aus Substanz (Materie) und Kraft (Energie) erschienen, als Liebe und Wille, als weiblich und männlich, Mutter und Vater. Diese Projektionen seien völlig unabhängig von christlicher Tradition. Die ungemeine Verbreitung und Emotionalität des Motivs bewiesen, dass es sich um eine fundamentale und wichtige Tatsache handele.

 

C.G. Jung hält es für einen großen Irrtum anzunehmen, die Seele des neugeborenen Kindes sei tabula rasa, also völlig leer. Kinder kämen mit einem prädeterminierten (vorgeprägten) individualisierten Gehirn zur Welt und setzten den von außen kommenden Sinnesreizen ganz spezifische Bereitschaften gegenüber, sie besäßen eine individuell gestaltete Apperzeption (Wahrnehmung). Diese Bereitschaften seien nachweisbar vererbte Instinkte und Präformationen (Vorgeformtheiten) bzw. auf Instinkten gründende apriorische und formale Bedingungen der Apperzeption.

 

Zwischen dem ersten und dem vierten Lebensjahr besitze das Bewusstsein noch keine eigentliche Kontinuität, und die Ichbezogenheit sei erst zum Teil vorhanden. Die Zustände des kleinen Kindes seien gekennzeichnet durch eine phantasieerfüllte Apperzeption der Wirklichkeit. Die Phantasiebilder überwögen sogar den Einfluss der von außen kommenden Sinnesreize und gestalteten diese im Sinne der vorgängigen seelischen Bilder.

 

Diese Bilder seien die Archetypen, welche jeder Phantasietätigkeit ihre bestimmte Bahn anwiesen, wobei die Phantasiegebilde kindlicher Träume ebenso wie die Wahngespinste der Schizophrenie erstaunliche mythologische Parallelen hervorbrächten. Es handele sich um vererbte Möglichkeiten (Muster) von Vorstellungen, deren Inhalte nicht individueller, sondern allgemeiner Natur seien, wie aus ihrem universalen Vorkommen in den Archetypen ersehen werden könne.

 

Diese apriorischen Anschauungsformen könnten mit Kants "Kategorien" verglichen werden, die das Bewusstsein lenkten, selbst aber unbewusst blieben. Die Archetypen hätten als Mythen ein völkergeschichtliches Vorkommen, fänden sich aber gleichzeitig in jedem Individuum und wirkten immer dort am stärksten, das heiße anthropomorphisierten dort die Wirklichkeit am meisten, wo das Bewusstsein am schwächsten sei, und wo daher die Phantasie die Gegebenheiten der Außenwelt überwuchern könne.

 

Scheinbar überlagere jene archetypische Form des Götterpaares zunächst das Bild der wirklichen Eltern, bis schließlich mit wachsendem Bewusstsein die wirkliche Gestalt der Eltern - nicht selten zur Enttäuschung des Kindes - wahrgenommen werde. Psychotherapeuten wüssten, dass die Mythologisierung der Eltern oft bis weit in das erwachsene Alter fortgesetzt und nur mit größtem Widerstand aufgegeben werde.

 

In kindlichen Zeichnungen werde die Mutter zuerst als übermenschliches Wesen dargestellt, nach der enttäuschenden Erfahrung der Wirklichkeit jedoch ihrer Vollkommenheit beraubt und in die Jammergestalt einer gewöhnlichen alten Frau verwandelt. Die vollkommene und übermenschliche Eigenschaft hafte stets dem Archetypus an, nicht dem Menschen. Falls sich das Subjekt mit ihm identifiziere, bewirke der Verlust oft eine verheerende Persönlichkeitsveränderung, meist in Form eines Größen- oder Kleinheitswahnes.

 

Das Bild der Anima, das der Mutter in den Augen des Sohnes übermenschlichen Glanz verleihe, werde durch die Banalität des Alltags allmählich abgestreift und verfalle dem Unbewussten, ohne dadurch seine Energie einzubüßen. Es sei sozusagen sprungbereit und projiziere sich bei der ersten Gelegenheit, wenn ein weibliches Wesen die Alltäglichkeit durchbreche. Dann offenbare sich die Psychologie dieses Archetypus in grenzenloser Faszination, Überschätzung und Verblendung oder als Misogynie (Frauenhass) mit all seinen Stufen und Abarten, die sich aus der wirklichen Natur der jeweiligen Objekte keineswegs erklären ließen.

 

Aus der Assimilation (Angleichung) der Mutter an den präexistenten (vorher existierenden) weiblichen Teil des hermaphroditischen (mannweiblichen) Götterpaares erfolge eine Übertragung auf das weibliche Sexualobjekt. Den gänzlichen Verlust des Archetypus ertrügen die Menschen eigentlich nicht, weil ihnen dann Mutter und Vater fehlten und eine gewisse Kulturverdrossenheit die Folge wäre. Die Religion habe in dieser Hinsicht stets vorgesorgt.

 

Die Anima sei ein Faktor von höchster Wichtigkeit in der Psychologie des Mannes, wo immer Emotionen und Affekte am Werke seien. Sie verstärke, übertreibe, verfälsche und mythologisiere alle emotionalen Beziehungen. Die darunter liegenden Phantasiegespinste seien ihr Werk. Wenn sie verstärkt auftrete, verweichliche sie den Charakter des Mannes und mache ihn empfindlich, reizbar, launisch, eifersüchtig, eitel und unangepasst. Deshalb müsse sich der heranwachsende Jüngling von der Animafaszination der Mutter befreien, sagt Jung.

 

Als Ausnahmefall gälten Künstler. Homosexuelle dagegen seien durch eine Identität mit der Anima gekennzeichnet. Nach der Lebensmitte bedeute der Animaverlust eine zunehmende Einbuße an Lebendigkeit, Flexibilität und Menschlichkeit. Es entstehe frühzeitige Erstarrung, wenn nicht Verkalkung, Stereotypie, fanatische Einseitigkeit, Eigensinnigkeit oder Prinzipienreiterei.

 

 

Der Mutterarchetypus

 

Die Begriffe "Große Mutter" oder "Muttergöttin" seien eigentlich Derivate (Ableitungen) des Mutterarchetypus (4. Archetyp). Wir lebten in einer Zeit, in der es unpopulär geworden sei, die Ideen für etwas anderes als Begriffe zu halten. Frühere Zeiten hätten leicht den Gedanken Platons verstanden, dass aller Phänomenalität (Erscheinung der Dinge) eine Idee präexistent (vorhergehend) und übergeordnet sei. Heute werde die Wesenheit der Idee auf das Gebiet des Glaubens und des Aberglaubens abgeschoben oder mitleidig dem Dichter überlassen. Im Empirismus sei nur das gültig, was von außen komme und daher verifizierbar sei.

 

Doch Kants Kategorienlehre lege nahe: Wenn es schon keine über menschliches Denkvermögen hinaus gehende Metaphysik geben könne, so gebe es auch keine Empirie, die nicht schon durch ein Apriori (Vorhergehen) der Erkenntnisstruktur beschränkt wäre. Die Einsicht setze sich durch, dass Denken, Vernunft und Verstand keine für sich existierenden, nur den ewigen Gesetzen der Logik gehorchenden Vorgänge seien, sondern psychische Funktionen, welche einer Persönlichkeit zugeordnet werden müssten.

 

Es gebe auf allen Wissensgebieten psychologische Prämissen (Voraussetzungen), die in die Auswahl des Stoffes, die Methode der Bearbeitung, die Art der Schlüsse und die Konstruktion von Hypothesen und Theorien einflössen. Philosophen fühlten sich beim Gedanken der persönlichen Prämisse oft geradezu bedroht. Doch gebe es ein Apriori aller menschlichen Tätigkeiten, das sei die angeborene und unbewusste individuelle Struktur der Psyche.

 

Der Mensch besitze, wie jedes Tier, eine präformierte artgemäße Psyche. Deren Funktionsformen seien Urbilder, die der Gattung schlechthin eigentümlich seien. Wenn sie überhaupt je entstanden seien, so falle ihre Entstehung mit dem Beginn der Gattung zusammen. Sie repräsentierten die Menschenart des Menschen, die spezifisch menschliche Form seiner Tätigkeiten.

 

Auch in den Produkten unserer schöpferischen Phantasie würden die Urbilder sichtbar, so dass man auch von "Kategorien der Phantasie" sprechen könne. Archetypen seien keineswegs durch Tradition oder Sprache verbreitet, sondern könnten jederzeit und überall spontan wieder entstehen, ohne Übermittlung von außen. Inhaltlich bestimmbar sei ein Urbild jedoch nur, wenn es bewusst und daher mit dem Material bewusster Erfahrung ausgefüllt sei. Vererbt würden nicht bestimmte Vorstellungen, sondern nur die Formen, welche wiederum den Instinkten entsprächen.

 

Der Mutterarchetypus repräsentiere neben der Mutter, Göttin oder Geliebten auch das Ziel der Erlösungssehnsucht: Paradies, Reich Gottes, Kirche, Universität, Himmel und Erde. Er stehe ebenso für Wald, Meer, Materie, Mond, Acker, Garten, Höhle, Baum, Quelle, Brunnen, Blume, Kochtopf oder Hohlform schlechthin. Alle diese Symbole könnten einen positiven oder negativen Sinn haben.

 

Die Eigenschaften des Mütterlichen seien die magische Autorität des Weiblichen, die Weisheit und geistige Höhe jenseits des Verstandes, das Gütige, Nahrungsspendende, die Wiedergeburt, das Geheime, Verborgene, Finstere, der Abgrund, die Totenwelt, das Verschlingende, Verführende, Vergiftende, Angsterregende und Unentrinnbare. In der männlichen Psychologie sei der Mutterarchetypus stets mit dem Bilde der Anima vermischt (sagt Jung).

 

Die Entstehung von Neurosen könne auf störende Einflüsse von Seiten der Mutter zurückgeführt werden. Doch seien die Inhalte der abnormen Phantasien nur zum Teil auf die persönliche Mutter zu beziehen, insbesondere wenn es sich um mythologische Gebilde handele, wo die Mutter als Tier, Hexe, Gespenst, Menschenfresserin, Hermaphrodit (Mannweib) oder ähnliches erscheine. Die Archetypen gehörten zu den höchsten Werten der menschlichen Seele und bildeten jenen "Schatz im Felde dunkler Vorstellungen", von dem Kant spreche, und von dem die zahllosen Schatzmotive der Folklore reichlich Kunde gäben.

 

Bei infantilen (kindlichen) Neurosen sei die Instinktsphäre des Kindes gestört und damit die Archetypen konstelliert (aktiviert), welche als ein fremdes und angsterregendes Element zwischen Kind und Mutter träten. Die Wirkungen des Mutterkomplexes seien verschieden, je nachdem, ob es sich um Sohn oder Tochter handele. Typische Wirkungen auf den Sohn seien die Homosexualität und der Don-Juanismus, gelegentlich auch die Impotenz (hier spiele aber auch der Vaterkomplex eine erhebliche Rolle).

 

Die Mutter sei das erste weibliche Wesen, das dem zukünftigen Manne begegne und unbewusst auf seine Männlichkeit anspiele, worauf der Sohn instinktiv antworte. So würden beim Sohn die einfachen Beziehungen der Identität oder des sich unterscheidenden Widerstandes ständig durchkreuzt von den Faktoren der erotischen Anziehung oder Abstoßung. - Dagegen sei der Mutterkomplex bei der Tochter ein reiner und unkomplizierter Fall, meint Jung. Hier handele es sich um eine von der Mutter ausgehende Verstärkung oder Abschwächung der weiblichen Instinkte.

 

Während der Mutterkomplex bei der Tochter also den weiblichen Instinkt fördere oder hemme, werde beim Sohn der männliche Instinkt verletzt durch eine "unnatürliche Sexualisierung". In positiver Hinsicht könne sich durch den Mutterkomplex eine Differenzierung des Eros ergeben, eine Entwicklung des Geschmacks und der Ästhetik, "denen ein gewisses feminines Element keineswegs Abbruch tut", des weiteren erzieherischen Qualitäten, "denen ein weibliches Einfühlungsvermögen oft höchste Vollendung gebe", ein historischer Geist, der "konservativ alle Werte der Vergangenheit aufs treueste bewahre", ein Sinn für Freundschaft (sogar zwischen den Geschlechtern), ein Reichtum religiösen Gefühls oder eine hohe geistige Rezeptivität. Was negativ Don-Juanismus (Machismus?) bedeute, könne "positiv kühne, rücksichtslose Männlichkeit hervorbringen, Ehrgeiz nach höchsten Zielen, Gewalttätigkeit gegenüber aller Dummheit und Verbohrtheit".

 

Bei der Tochter erzeuge der Mutterkomplex eine Verstärkung aller weiblichen Instinkte, in erster Linie des Mutterinstinktes. Den negativen Aspekt davon stelle eine Frau dar, deren einziges Ziel das Gebären sei, wobei der Mann zur Nebensache degradiere. In diesem Fall sei der Eros nur als mütterliche Beziehung entwickelt, als persönliche aber unbewusst. Ein unbewusster Eros äußere sich immer als Macht (!), weshalb dieser Typus bei aller offenkundigen mütterlichen Selbstaufopferung doch kein wirkliches Opfer zu bringen imstande sei, sondern seinen Mutterinstinkt mit oft rücksichtslosem Machtwillen bis zur Vernichtung der Eigenpersönlichkeit der Kinder durchdrücke.

 

Andererseits könne bei der Tochter der Mutterinstinkt vollkommen ausgelöscht werden, dafür trete als Ersatz eine Übersteigerung des Eros ein, welche fast regelmäßig zu einem unbewussten Inzestverhältnis mit dem Vater führe. Eifersucht auf die Mutter und ihre Übertrumpfung würden dann zu Leitmotiven aller Unternehmungen. Schwärmerische und sensationelle Beziehungen entstünden zu verheirateten Männern mit der Absicht, die Ehe zu stören. Sei dieser Zweck erreicht, so verflüchtige sich wegen mangelnden Mutterinstinktes das Interesse, und ein anderer komme an die Reihe, sagt Jung. "Solche Frauen sind geradezu mit Blindheit geschlagen für ihr eigenes Tun und Treiben, welches nicht nur für die Mitbeteiligten, sondern auch für sie selber unvorteilhaft ist."

 

Andererseits könne sich beim weiblichen Mutterkomplex auch eine Identität mit der Mutter und eine Lähmung der eigenen Weiblichkeit ergeben. Es trete eine Projektion der eigenen Persönlichkeit auf die Mutter ein. Solche Töchter bemühten sich, allmählich zum Tyrannen der eigenen Mutter aufzusteigen, allerdings unter der Maske der vollkommenen Ergebenheit. Sie führten ein Schattendasein, oft sichtbar von der Mutter ausgesogen. Solche blassen Jungfrauen stünden allerdings auf dem Heiratsmarkt in hohem Kurs. Vor allem seien sie dermaßen leer, dass ein Mann alles in ihnen vermuten könne.

 

Eine so große weibliche Unbestimmtheit sei das ersehnte Gegenstück zu einer männlichen Eindeutigkeit. Alles Zweideutige könne man dann auf eine entzückende weibliche Unschuld abschieben. Wegen ihrer charakteristischen inneren Teilnahmslosigkeit und wegen ihrer Minderwertigkeitsgefühle, die ständig eine gekränkte Unschuld vortäuschten, falle dem Mann die vorteilhafte Rolle zu, in überlegener, nachsichtiger und ritterliche Weise die bekannten weiblichen Unzulänglichkeiten ertragen zu dürfen. Dass diese zum guten Teil aus seinen eigenen Projektionen bestünden, bleibe ihm glücklicherweise verborgen.

 

Besonders anziehend wirke die notorische Hilflosigkeit eines Mädchens. Sie könne so hilfsbedürftig sein, dass selbst der sanfteste Schäfer zum kühnen Frauenräuber werde, der einer liebenden Mutter die Tochter stehle. Diese immense Chance, auch einmal ein Tausendsassa sein zu können, passiere ihm nicht alle Tage.

 

Eine andere Facette des weiblichen Mutterkomplexes bestehe in der Abwehr gegen die Übermacht der Mutter. Daraus ergebe sich gelegentlich eine spontane Entwicklung des Verstandes zur Herstellung einer Sphäre, in der die Mutter nicht vorkomme. Diese Entwicklung solle dazu dienen, die Macht der Mutter durch intellektuelle Kritik und überlegenes Wissen zu brechen, oder um ihr alle Dummheiten, logischen Fehler und Bildungslücken vorrechnen zu können. Hand in Hand mit der Verstandesentwicklung gehe immer ein gewisses Hervortreten männlicher Eigentümlichkeiten.

 

Positiver Aspekt einer Übersteigerung des Mutterinstinktes sei jenes Bild der Mutterliebe, die zu den rührendsten und unvergesslichsten Erinnerungen des erwachsenen Alters gehöre. Innigst bekannt und fremd wie die Natur, liebevoll zärtlich und schicksalhaft grausam - eine lustvolle Spenderin des Lebens, eine Schmerzensmutter und die dunkle antwortlose Pforte, die sich hinter den Toten schließe.

 

Man löse jedoch keinen Mutterkomplex dadurch, dass man die Mutter einseitig auf menschliches Maß reduziere, gewissermaßen berichtige. Dabei laufe man Gefahr, auch das Erlebnis "Mutter" in Atome aufzulösen und einen höchsten Wert zu zerstören, den goldenen Schlüssel wegzuwerfen, den uns eine gütige Fee in die Wiege gelegt habe.

 

Archetypen seien zunächst weniger ein wissenschaftliches Problem als eine unmittelbare Frage der seelischen Hygiene. Wenn es sie nicht gäbe, müssten wir sie erfinden, um unsere höchsten und natürlichsten Werte nicht ins Unbewusste versinken zu lassen. Damit wäre nämlich die ganze elementare Kraft ursprünglicher Erlebnisse entschwunden.

 

Wenn das Mutterbild erst zurecht vernünftelt worden sei, so seien wir ganz und gar an die menschliche Ratio (Verstand) gebunden und dazu verurteilt, ausschließlich an das Vernünftige zu glauben. Das sei eine große Beschränkung und Verarmung, denn man nähere sich damit der Öde des Doktrinarismus (Denkregelung) und der Aufklärung. Diese verbreiteten ein trügerisches Licht, welches nur das beleuchte, was man schon wisse, aber all jenes mit Dunkelheit bedecke, was bewusst zu machen wichtig wäre. Je selbständiger sich die Vernunft gebärde, desto mehr werde sie zu reinem Intellekt, welcher Lehrmeinungen an die Stelle der Wirklichkeit setze und vor allem nicht den Menschen, wie er ist, sondern ein Trugbild desselben vor Augen habe.

 

Die Welt der Archetypen müsse dem Menschen bewusst bleiben. In ihr sei er noch Natur und mit seinen Wurzeln verbunden. Blieben die Urbilder bewusst, so könne die Energie, die ihnen entspreche, dem Menschen zufließen. Wenn es aber nicht gelinge, den Zusammenhang mit ihnen aufrecht zu erhalten, falle die Energie, die sich in jenen Bildern ausdrücke, zurück ans Unbewusste. Damit erhalte dieses eine Ladung, welche sich jeder Anschauung oder Idee andiene, die der Verstand als verlockendes Ziel vorhalte. Auf diese Weise verfalle der Mensch rettungslos seinem Bewusstsein und dessen rationalen Begriffen von richtig und unrichtig.

 

Damit solle das höchste menschliche Vermögen, die Vernunft, nicht entwertet werden. Aber als Alleinherrscherin habe sie keinen Sinn, so wenig wie Licht in einer Welt, in der ihm das Dunkle nicht gegenüber stehe. Der weise Rat der Mutter ziele auf das Gesetz der natürlichen Beschränkung. Die Welt bestehe darum, weil sich ihre Gegensätze die Waage hielten. So sei auch das Rationale durch das Irrationale und das Bezweckte durch das Gegebene aufgewogen. Die Mutter sei die erste Welt des Kindes und die letzte Welt des Erwachsenen. In den Mantel dieser größten Isis seien wir als ihre Kinder alle gehüllt.

 

So habe auch der zweite, "wenig einladende" Typus des weiblichen Mutterkomplexes mit seiner Übersteigerung des Eros einen positiven Aspekt. Auch in der skrupellosen Ehezerstörerin erblickt Jung eine sinnvolle Anordnung der Natur. Dieser Typus gehe häufig aus einer Gegenwirkung auf eine bloß naturhafte, rein instinktive und darum alles verschlingende Mutter hervor. Dieser Muttertypus ist ein Anachronismus, ein "Rückfall in ein düsteres Matriarchat, wo der Mann als bloßer Befruchter und Höriger des Ackers sein Dasein fristete".

 

Eine solche Frau werde sich überall dort instinktiv dazwischen stellen, wo sie durch die Unbewusstheit ihres Partners provoziert werde. Sie störe die der männlichen Persönlichkeit so gefährliche Bequemlichkeit, die er gern als Treue ansehe. Diese Bequemlichkeit führe aber zur Unbewusstheit der eigenen Persönlichkeit und zur Erniedrigung beider Partner. Die Frau richte den heißen Strahl ihres Eros auf einen Mann und errege damit "einen moralischen Konflikt". Ohne diesen gebe es aber keine Bewusstheit.

 

Nun könne die Frage gestellt werden, warum der Mensch eigentlich zu höherer Bewusstheit gelangen solle. C.G. Jung glaubt, dass in den Tausenden von Millionen Jahren endlich jemand wissen sollte, dass diese wundersame Welt der Berge, Meere, Sonnen und Monde existiert. In der Anfangsstille habe die Welt nicht gewusst, dass sie war. In dem Moment, als das erste Wesen erkannt habe, dass dies alles ist, sei die Welt geworden, und ohne diesen Moment wäre sie nie gewesen. Diesen Zweck suche alle Natur und finde ihn erfüllt im Menschen, und zwar nur im bewusstesten Menschen. Jeder kleinste Schritt vorwärts auf dem Pfade der Bewusstwerdung schaffe Welt.

 

Kritik: Trotz seiner großartigen Deutungsmuster scheint C.G. Jung tatsächlich zu behaupten, der Mann sei der Mensch, und die Frau verführe den Menschen durch ihren unmoralischen Eros zur Bewusstheit. Schade.

 

Weiter führt er aus, es gebe keine Bewusstheit ohne Unterscheidung von Gegensätzen. Das sei das Vaterprinzip des Logos, der sich in unendlichem Kampfe der Urwärme und Urfinsternis des mütterlichen Schoßes, eben der Unbewusstheit, entwinde. Keinen Konflikt scheuend strebe die göttliche Neugier nach der Geburt.

 

Unbewusstheit sei die Ursünde, das Böse schlechthin für den Logos. Seine weltschöpferische Befreiungstat aber sei Muttermord, und der Geist, der sich in alle Höhen und Tiefen gewagt habe, müsse schließlich die göttlichen Strafen erleiden. Denn keines könne sein ohne das andere, weil beide am Anfang Eines gewesen seien und am Ende wiederum Eines sein würden. Bewusstsein könne nur existieren bei steter Anerkennung des Unbewussten, wie alles Leben durch viele Tode hindurchgehen müsse.

 

Die Erregung von Konflikt sei eine luziferische Tugend. Konflikt erzeuge das Feuer der Emotionen. Jedes Feuer habe zwei Aspekte, nämlich den der Verbrennung und den der Lichterzeugung. Die Emotion sei das alchemistische Feuer, dessen Wärme alles zur Erscheinung bringe und dessen Hitze alle Überflüssigkeiten verbrenne. Emotion sei die Hauptquelle aller Bewusstwerdung. Es gebe keine Wandlung von Finsternis ins Licht oder von Trägheit in Bewegung ohne Emotion.

 

Die Frau, deren Schicksal es sei, Störerin zu sein, sei nur in pathologischen (krankhaften) Fällen ausschließlich destruktiv (zerstörend). Im Normalfall sei sie als Störerin selbst von der Störung ergriffen, als Wandlerin werde sie selbst gewandelt. Und vom Schein des Feuers, das sie errege, würden alle Opfer erleuchtet. Was sinnlose Störung schien, werde zum Läuterungsprozess. Bleibe dieser Frau ihre Funktion unbewusst, und wisse sie nicht, dass sie ein Teil sei von jener Kraft, die stets das Böse wolle und stets das Gute schaffe (dem Teufel!), so werde sie durch das Schwert, das sie bringe, auch umkommen. Bewusstheit aber wandele sie zur Erlöserin.

 

Die Frau des dritten Typus, die eine Identität mit der Mutter bei Lähmung ihrer eigenen Instinkte entwickle, brauche keineswegs stets eine hoffnungslose Null zu sein. Allerdings könne sie ohne den Mann nicht zu sich selber kommen, sie müsse der Mutter regelrecht geraubt werden. Solche Frauen könnten jedoch aufopfernde Gattinnen sein, wenn sie mit der Begleitrolle zufrieden seien, da sie ja nur eine Maske darstellten. Dann könne nämlich eine Projektion ihrer eigenen unbewussten Begabung auf den Gatten eintreten, der plötzlich als ein herzlich Unbedeutender zu den höchsten Gipfeln empor schwebe.

 

Auch die Leere sei ein großes weibliches Geheimnis, sagt Jung. Sie sei das dem Manne Urfremde, das Hohle, das abgrundtiefe Andere. "Die mitleiderregende Erbärmlichkeit dieser Nullität ist leider das machtvolle Mysterium der Unfassbarkeit des Weiblichen. Ein solches Weib ist Schicksal schlechthin." Ein Mann könne darüber alles sagen oder nichts und falle am Ende unvernünftig beseligt doch in dieses Loch. Bei dieser Kapitulation könne man ihm sein blödes Glück nicht wegbeweisen, aber auch sein Unglück nicht plausibel machen.

 

Die Frau mit dem negativen Mutterkomplex sei eine unangenehme, anspruchsvolle und wenig befriedigende Gefährtin des Mannes, da ihr ganzes Streben ein Sträuben sei gegen alles, was aus dem natürlichen Urgrund quelle. Sie werde allem Dunklen, Unklaren feind sein, dagegen alles Sichere, Vernünftige pflegen und ihre Schwestern an Sachlichkeit und kühlem Urteil übertreffen. Ihrem Mann könne sie zum Freund und zur urteilsfähigen Beraterin werden. Dazu befähigten sie auch ihre männlichen Aspirationen (Bestrebungen), welche ihr ein menschliches, jenseits aller Erotik liegendes Verständnis für die Individualität des Mannes ermöglichten.

 

Von allen Formen des Mutterkomplexes habe sie die beste Chance, aus ihrer Ehe einen Rekord zu machen, wenn sie die Hölle des Nur-Weiblichen, das Chaos des Mutterschoßes überwunden habe. Diese Frau nähere sich der Welt mit abgewandtem Gesicht. Das Leben gehe wie ein Traum an ihr vorbei und bedeute nur eine lästige Quelle von Illusionen, Enttäuschungen und Irritationen. Andererseits könne ihr diese Umkehr auch Erkenntnis und Entdeckung der Wahrheit eröffnen, welche die Bedingung der Bewusstheit sei. Ein Stück des Lebens ginge verloren, der Sinn des Lebens aber sei ihr gerettet.

 

Die Frau, die den Vater bekämpfe, habe immer noch die Möglichkeit des triebhaft-weiblichen Lebens. Wenn sie aber die Mutter bekämpfe, könne sie zu höherer Bewusstheit gelangen, denn in der Mutter verneine sie auch alle Dunkelheit, Triebhaftigkeit und Unbewusstheit ihres eigenen Wesens. Eine solche Frau sei häufig in wichtigen Stellungen anzutreffen, wo sie mit kühlen Verstand eine segensreiche Wirkung entfalte.

 

Diese seltene Kombination von Weiblichkeit und männlichem Verstand könne als geistige Führerin und Beraterin des Mannes eine einflussreiche Rolle spielen. Das Allzu-Weibliche erschrecke einen gewissen männlichen Typus. Doch vor dieser Frau erschrecke er nicht, weil sie dem männlichen Geist Brücken baue. Ihr artikulierter Verstand flöße dem Mann Vertrauen ein. Der Eros des Mannes führe nämlich nicht nur hinauf, sondern zugleich auch hinunter in jene unheimliche Dunkelwelt, vor der es jedem geistigen Manne graue. Der Verstand dieser Frau werde ihm ein Stern sein im hoffnungslosen Dunkel endloser Irrpfade.

 

Der Mutterkomplex beziehe sich ebenso wie die Aussagen der Mythologie letztlich auf das Unbewusste im Menschen. Objekterfassung gehe nur zum Teil vom objektiven Verhalten der Dinge aus, zum größeren Teil aber von intrapsychischen (innerseelischen) Tatbeständen, welche nur vermöge der Projektion mit den Dingen überhaupt zu tun hätten. Dieses Innen, das moderner Rationalismus so gern vom Außen ableite, habe seine eigene Struktur, die aller bewussten Erfahrung als ein Apriori vorangehe.

 

Ob die seelische Struktur und ihre Elemente, die Archetypen, überhaupt je entstanden seien, sei eine Frage der Metaphysik und nicht schlüssig zu beantworten. Die Struktur sei das jeweils Vorgefundene, die Vorbedingung. Es sei die Mutter, die Form, in die alles Erlebte gefasst werde. Ihr gegenüber repräsentiere der Vater die Dynamik, die Energie. Die Trägerin des Mutterarchetypus sei jedoch in erster Linie die persönliche Mutter, mit der das Kind in unbewusster Identität lebe.

 

Mit dem Erwachen des Ichbewusstseins werde die Symbiose allmählich aufgelöst, das Bewusstsein trete in einen Gegensatz zum Unbewussten. Daraus entstehe die Unterscheidung des Ich von der Mutter, deren persönliche Besonderheit allmählich deutlicher werde. Alle geheimnisvollen Eigenschaften fielen von ihrem Bild ab, denn je weiter der Archetypus vom Bewusstsein entfernt werde, desto klarer werde es. Der Archetypus nehme immer deutlicher eine mythologische Gestalt an.

 

Mit zunehmendem Bewusstsein fielen bei der mythologischen Gestalt der Großen Mutter die Gegensätze auseinander. Es entstünden eine gütige Fee und eine böse Hexe, eine wohlwollende und eine gefährliche Göttin. In den östlichen Kulturen blieben die Gegensätze häufig vereinigt in derselben Gestalt, ohne dass das Bewusstsein diese Paradoxie (Gegensätzlichkeit) als störend empfände. In der westlichen Antike habe die Paradoxie und moralische Zweideutigkeit der Götter schon früh Anstoß erregt und eine entsprechende Kritik verursacht, welche schließlich zu einer Entwertung der olympischen Götterkompanie geführt habe.

 

Am deutlichsten habe sich dies in der christlichen Reformation (Erneuerung) des jüdischen Gottesbegriffes ausgedrückt: Der moralisch zweideutige Jahwe sei zu einem ausschließlich guten Gott geworden, dem gegenüber jetzt der Teufel alles Böse in sich vereinige. Es scheine, als ob eine stärkere Gefühlsentwicklung beim westlichen Menschen diese Entscheidung erzwungen habe. Im Osten habe dagegen die intuitiv-intellektuelle Einstellung den Gefühlswerten kein Entscheidungsrecht eingeräumt, weshalb die Götter ihre moralische Paradoxie ungestört hätten behalten können.

 

So sei Kali für den Osten und die Madonna für den Westen repräsentativ. Die Gottesmutter habe ihren Schatten gänzlich eingebüßt. Er sei in die Vulgärhölle gefallen, wo er ein kaum bemerktes Dasein als "Großmutter des Teufels" führe. Dank der Entwicklung der Gefühlswerte habe sich der Glanz der lichten Gottheit ins Unermessliche erhöht, das Dunkle aber, das durch den Teufel dargestellt werden sollte, habe sich im Menschen lokalisiert.

 

Diese eigentümliche Entwicklung sei hauptsächlich dadurch verursacht worden, dass das Christentum mit aller Macht seinen Monotheismus (Einzelgottheit) zu wahren suchte. Da man aber die Wirklichkeit des Dunklen und Bösen nicht habe leugnen können, sei nichts anderes übrig geblieben, als den Menschen dafür verantwortlich zu machen. Man habe inzwischen den Teufel ganz abgeschafft, wodurch diese metaphysische Gestalt, die früher einen integralen (innerlichen) Teil der Gottheit gebildet habe, in den Menschen introjiziert (eingepflanzt) worden sei.

 

Diese Entwicklung kehre sich in neuer Zeit infernalisch (höllisch) um, indem der Wolf im Schafsgewand herumgehe und überall in die Ohren flüstere, das Böse sei eigentlich nur ein Missverständnis des Guten und ein taugliches Instrument des Fortschritts. Man denke nicht daran, was für eine seelische Vergiftung des Menschen damit in die Wege geleitet sei. Er mache sich ja damit selber zum Teufel, denn dieser bleibe die Hälfte eines Archetypus, dessen unwiderstehliche Macht auch dem ungläubigen Europäer geläufig sei.

 

Man solle sich nie mit einem Archetypus identifizieren, denn die Folgen seien erschreckend. Der Westen habe sich seelisch dermaßen heruntergewirtschaftet, dass er die Gottheit selbst leugnen müsse, um sich neben dem schon geschluckten Bösen auch noch des Guten zu bemächtigen. Nietzsche habe mit der Leidenschaft eines wirklich religiösen Menschen den Übermenschen dargestellt, dessen Gott tot sei. Dieser Mensch zerbreche daran, dass er die göttliche Paradoxie in das enge Gehäuse des sterblichen Menschen eingesperrt habe.

 

Goethe, der Weise, habe wohl bemerkt, "welch Grauen den Übermenschen fasst". Seine Verklärung der Mutter und Himmelskönigin bedeute höchste Weisheit und eine Strafpredigt für alle Abendländer. Aber sie bleibe ohne Wirkung in einer Zeit, wo selbst die berufenen Vertreter der christlichen Religionen ihre Unfähigkeit, die Grundlagen der religiösen Erfahrung zu begreifen, öffentlich bekundeten.

 

Die Wissenschaft habe schon seit einem Jahrhundert die Labilität des Bewusstseins experimentell bewiesen. Unsere bewussten Intentionen würden beständig durch unbewusste Einfälle durchkreuzt, deren Ursachen uns zunächst fremd seien. Die Psyche sei fern davon, eine Einheit zu sein. Im Gegenteil sei sie ein brodelndes Gemisch widerstreitender Impulse, Hemmungen und Affekte, und ihr Konfliktzustand sei für viele Menschen so unerträglich, dass sie sich die von der Theologie angepriesene Erlösung wünschten.

 

Wer sei denn für unsere Einbildungen verantwortlich? Wir machten sie ja nicht selber, sondern eine uns fremde Macht zwinge sie uns auf. Die geistige Entfernung zu den Besessenen des Neuen Testaments sei nur gering. Ob ich an einen Dämon glaube oder an einen Faktor im Unbewussten, welcher mir einen teuflischen Streich spiele, sei völlig irrelevant. Die Tatsache, dass der Mensch von fremden Mächten bedroht sei, bleibe dieselbe.

 

Das Mutterbild werde geschlechtsspezifisch unterschiedlich interpretiert. Für die Frau sei die Mutter der Typus ihres bewussten, geschlechtsmäßigen Lebens, behauptet Jung. Für den Mann aber sei die Mutter der Typus eines zu erlebenden, fremden Gegenüber, erfüllt mit der Bilderwelt des latenten Unbewussten. Von diesem ausgesprochen symbolischen Charakter her rühre wohl die männliche Tendenz, die Mutter zu idealisieren. Man idealisiere aber dort, wo eine Furcht gebannt werden solle. Das Gefürchtete sei das Unbewusste und dessen magischer Einfluss.

 

Es sei auffallend, dass beim Mann der Typus der Urania stärker hervortrete, während bei der Frau die sogenannte Erdmutter vorwiege. In einer Phase, wo der Archetypus erscheine, finde eine Identität mit dem Urbild statt. Die Frau könne sich unmittelbar mit der Erdmutter identifizieren, der Mann dagegen nicht. In der Mythologie komme die Große Mutter häufig mit ihrer männlichen Entsprechung gepaart vor. Der Mann identifiziere sich mit dem von der Sophia (Göttin der Weisheit) begnadeten Sohn-Geliebten. Der Gefährte der Erdmutter sei aber das gerade Gegenteil, ein phallischer Hermes. Hermes sei auch Offenbarungsgott und der weltschöpferische Nous (Geist) selber.

 

In den Syzygien, den göttlichen Gegensatzpaarungen, sei das eine niemals vom anderen getrennt. Diese Erlebnissphäre führe unmittelbar zur Erfahrung der Individuation, der Selbstwerdung. Worte und Begriffe, selbst Ideen bedeuteten dabei wenig. Sie könnten sogar zu gefährlichen Abwegen werden. In diesem noch dunklen seelischen Erfahrungsgebiet, wo uns der Archetypus unmittelbar gegenübertrete, werde dessen psychische Macht am deutlichsten offenbar. Es sei das reine Erlebnis und könne in keine Formel eingefangen werden. Dem Wissenden werde auch ohne wortreiche Erklärung verständlich, welche Spannung beispielsweise in der erschreckenden Paradoxie des urtümlichen Mutterbildes ausgedrückt werde.

 

Die christliche Gestaltung des Mutterarchetypus sei im zwanzigsten Jahrhundert zur dogmatischen Wahrheit erhoben worden. Die Gottesmutter habe dabei alle olympischen Eigenschaften mit Ausnahme des Lichten, Guten und Ewigen abgestreift, und sogar ihr menschlicher Körper habe sich zu ätherischer Unverweslichkeit gewandelt. Trotzdem habe die Allegorik (Gleichnis) der Madonna einige Beziehungen zu ihren heidnischen Präfigurationen (Vorbildern) in Isis und Semele behalten.

 

Nicht nur Isis und das Horuskind seien vorbildhaft, sondern auch die Himmelfahrt der Semele, der ursprünglich sterblichen Mutter des Dionysos. Auch ihr Sohn sei ein sterbender und auferstehender Gott. Semele selber scheine eine alte Erdgöttin gewesen zu sein, wie auch die Jungfrau Maria die Erde repräsentiere, aus welcher Christus geboren wurde. Doch wohin sei dann die Beziehung des animalischen Menschen mit seiner Triebnatur zur Erde, zum Dunkel und zur Abgründigkeit geraten?

 

Die Deklaration (Verkündigung) des neuen Marien-Dogmas (Denk-Vorschrift) sei in einer Zeit erfolgt, wo die Errungenschaften der Naturwissenschaft und der Technik mit ihrer rationalistischen und materialistischen Weltanschauung die seelischen Güter der Menschheit mit gewaltsamer Vernichtung bedroht hätten. Die Menschen hätten sich mit Angst und Widerwillen zu einem ungeheuren Verbrechen gerüstet: Die Wasserstoffbombe (später die Atombombe) habe bereit gestanden zur "berechtigten" Verteidigung der eigenen Existenz.

 

Zu dieser fatalen Entwicklung der Dinge stehe die in den Himmel erhobene Gottesmutter in strengstem Gegensatz und werde damit zum Gegenzug der materialistischen Entwicklung, die einen Aufstand der chthonischen (unterirdischen) Mächte darstelle. Wie bei dem Erscheinen Christi seinerzeit aus einer himmlischen Gestalt ein Teufel und Gegenspieler Gottes entstanden sei, so habe sich jetzt umgekehrt eine ursprünglich dunkle Gestalt von ihrem erdhaften Bereich abgespalten und nehme jetzt im Himmel ein Gegengewicht zu den entfesselten titanischen Mächten der Erde und der Unterwelt ein.

 

Wie die Gottesmutter aller Eigenschaften der Stofflichkeit entledigt worden sei, so sei gleichzeitig die Materie gründlich entseelt worden, und dies zu einer Zeit, wo gerade die Physik zu Erkenntnissen vordringe, welche die Materie entstofflichten und mit Eigenschaften versähen, die eine Beziehung zur Psyche annehmen ließen. Wie die Entwicklung der Naturwissenschaft zunächst zu einer vorschnellen Entthronung des Geistes und einer ebenso unüberlegten Vergötterung der Materie geführt habe, schicke sich der gleiche wissenschaftliche Erkenntnisdrang heute an, die Kluft zwischen den beiden Weltanschauungen zu überbrücken.

 

Im Marien-Dogma werde die angedeutete Entwicklung symbolisch vorausgenommen. Die Beziehung zur Erde und zur Materie sei aber eine unabdingbare Eigenschaft des Mutterarchetypus. Wenn eine solche Gestalt in den Himmel, das Reich des Geistes, aufgenommen werde, sei damit eine Vereinigung von Erde und Himmel bzw. von Materie und Geist angedeutet. Die naturwissenschaftliche Erkenntnis werde allerdings den umgekehrten Weg einschlagen: Sie werde in der Materie selbst das Äquivalent des Geistes erkennten, wobei das Bild dieses Geistes ebenso aller bisherigen Eigenschaften entledigt werde wie der irdische Stoff, der seinen Einzug in den Himmel gehalten habe.

 

Nichtsdestoweniger werde sich eine Vereinigung der getrennten Prinzipien anbahnen. Doch das vermindere die Spannung zwischen den Gegensätzen keineswegs, sondern treibe sie ins Extrem. Materie sei wegen ihrer pneumatischen Tendenz mit dem Bösen schlechthin identifiziert worden. An sich seien Geist und Materie jedoch neutral oder nur fähig zu dem, was der Mensch gut oder böse nenne. Diesen Bezeichnungen lägen allerdings wirkliche Gegensätze zugrunde, welche zur energetischen Struktur der Natur gehörten, ohne die es kein feststellbares Sein gebe. Es gebe keine Position ohne ihre Negation.

 

In der klassischen chinesischen Philosophie sei "yang" das helle, warme, trockene und männliche Prinzip, es enthalte in sich den Keim des "yin", des dunklen, kalten, feuchten und weiblichen Prinzips, und umgekehrt. In der Materie wäre daher der Keim des Geistes und im Geiste der Keim der Materie zu entdecken. Eine gewisse "Beseeltheit" der Materie stelle die absolute Immaterialität des Geistes in Frage, indem diesem eine Art Substanzhaftigkeit zuerteilt werden müsse.

 

Das kirchliche Marien-Dogma sei ein kompensierendes (ausgleichendes) Symptom, das dem Streben der Naturwissenschaft nach einem einheitlichen Weltbild entspreche. Eigentlich seien beide Entwicklungen von der Alchemie vorausgenommen worden, allerdings nur symbolisch. Das Symbol vermöge widersprechende Faktoren in einem Bild zusammenzufassen. Mit dem Untergang der Alchemie sei die symbolische Einheit von Geist und Stoff zerfallen, infolgedessen finde sich der moderne Mensch entwurzelt und fremd in einer entseelten Natur vor.

 

Die Alchemie habe die Vereinigung der Gegensätze unter dem Symbol des Baumes gesehen. Auch der heutige Mensch könne als Symbol des in dieser Welt wurzelnden und zum Himmel empor wachsenden Weltbaumes betrachtet werden. Überhaupt schildere der Baum den Weg und das Wachstum auf das Ewigseiende hin, welches durch die Vereinigung der Gegensätze entstehe. Der Mensch, der vergeblich seine Existenz suche und daraus eine Philosophie mache, könne nur durch das Erlebnis symbolischer Wirklichkeit, repräsentiert in den Archetypen, den Rückweg in jene Welt finden, in der er kein Fremdling sei.

 

 

Birgit Sonnek

 

März 2003

 

 

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