Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart (BEWUSSTSEINS-ENTWICKLUNG)

 

Der Kulturphilosoph Jean Gebser beschreibt die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins von der Urzeit bis zur Gegenwart. In seinen Abhandlungen wird deutlich, wie das Bewusstsein zu sich selbst zurückkehrt und dabei die Zeit überwindet. Im heutigen Bewusstsein sind nach Gebser alle früheren Bewusstseinszustände enthalten, deshalb ist es praktisch zeitlos. Die archaischen Bewusstseinsstufen stehen uns uneingeschränkt zur Verfügung. Im Geist ist die Vergangenheit ebenso präsent wie die Gegenwart.

 

Gebser unterscheidet vier aufeinander folgende Bewusstseinsphasen der Menschheit während ihrer Entwicklung: Auf der untersten Ebene der Bewusstseinsentwicklung findet sich das archaische Bewusstsein, danach folgt das magische, dann das mythische und zuletzt das mentale Bewusstsein. In unserer Zeit ereignet sich der Durchbruch in ein neues, integrales Bewusstsein der Zeitfreiheit. Jede der Bewusstseinsstrukturen ermöglicht ein bestimmtes Bewusstsein der Zeit und des Raumes.

 

Der Übergang von einer Bewusstseinsphase in die andere findet durch eine Mutation statt. Bei der Durchsetzung der neuen Bewusstseinsphase bleiben die vorangegangenen Bewusstseinsphasen in verdrängter Form im Unbewussten bestehen. Während Hegel glaubte, in der menschlichen Bewusstseinsgeschichte eine fortschreitende Höherentwicklung zu erkennen, in deren Verlauf frühere Bewusstseinsformen als "Irrtümer" erkannt und durch „bessere“ ersetzt wurden, denkt Gebser ebenso wie Kant, dass die Wirklichkeit vom Bewusstsein erst konstruiert wird.

 

Das archaische Bewusstsein ist ein nulldimensionales Bewusstsein, in dem Zeit und Raum nur unbewusst existieren. Insofern kann es als bewusstlos bezeichnet werden. Unbewusst sein bedeutet jedoch, kein Ich zu besitzen. Die archaische Bewusstseinsphase ist also vor-zeitlich, vor-räumlich und Ichlos.

 

Im magischen Bewusstsein tritt der Mensch aus der Nulldimensionalität heraus in die Eindimensionalität. Raum und Zeit sind zwar weiterhin unbewusst, aber Ich, Welt und Gott werden als energetische Punkte erlebt, die in einer Wechselbeziehung zueinander stehen und austauschbar sind. Das Symbol dieses Bewusstsein ist der Punkt. Es ist ein punktuelles Bewusstsein, in dem eine Größe andere Größen vertreten kann.

 

Der magische Mensch erfährt sein Ich als diffuse Ansammlung von Lichtpunkten. Er organisiert sich als Gruppen-Ich im Clan und sieht sich einer Welt gegenüber, die eine ständige Bedrohung darstellt. In dieser Struktur liegt das Bewusstsein noch nicht im Menschen, sondern ruht in der Welt. Von dort strömt es auf ihn ein und verlagert sich langsam in ihn. Aus seiner Sicht erwacht die Welt, der er gegenübersteht, und muss von ihm bewältigt werden. In jedem Gegenüber liegt aber etwas Feindliches, das er ebenfalls meistern muss.

 

Der Mensch antwortet auf die ihm entgegenströmenden Kräfte mit entsprechenden eigenen Kräften: Er stellt sich gegen die Natur, versucht sie zu bannen und zu lenken. Er versucht, unabhängig von ihr zu werden und entwickelt ein eigenes Wollen. Bann und Beschwörung, Totem und Tabu sind die naturhaften Mittel, mit denen er sich von der Übermacht der Natur zu befreien versucht, mit denen sich die Seele zu verwirklichen und sich ihrer bewusst zu werden versucht.

 

Die Bedrohung wird einmal als konkrete Gefahr in wilden Tieren und fremden Horden erlebt, aber auch in numinosen Kräften in Gestalt von Geistern und Gespenstern, die in Bäumen, Felsen oder Gewässern hausen. Diese Kräfte müssen bekämpft oder zumindest beschwichtigt werden. Damit wird der Mensch zum Macher, zum Magier oder zur Magierin.

 

Der magische Mensch will nicht nur in der Welt sein, sondern die Welt besitzen, und so sucht der magische Macher, die Hexe oder der Zauberer, die Welt zu manipulieren. In ähnlicher Weise bedienen wir uns heute der Mechanik und der Maschine, um die Umwelt zu bewältigen. „Machen“ und „Magie“ stammen nach Gebser aus der gleichen Wortwurzel magh, wie auch "Mechanik" und "Maschine“, unsere heutigen magischen Mittel, die Welt zu beherrschen.

 

Der Übergang vom magischen zum mythischen Bewusstsein zeigt sich durch ein erstes Zeitgefühl, das naturhaften Charakter besitzt. Eng mit diesem Zeitgefühl ist die Seele verbunden. „Zeit“ und „Seele“ sind zwei Ausdrucksformen psychischer Energie und bilden die Vorformen der „Materie“. Während das magische Bewusstsein als die Bewusstwerdung der Natur betrachtet werden konnte, ist das mythische Bewusstsein die Bewusstwerdung der Seele. Das Bewusstsein entdeckt nun die Innenwelt des Menschen.

 

Die mythische Bewusstseinsstruktur erkennt Gebser in den Jahreszeiten-Ritualen, der Astronomie und den Kalenderberechnungen der alten Hochkulturen. Der Rhythmus der Natur wird jetzt als zeitliches Phänomen wahrgenommen. Die einzelnen Punkte des magischen Bewusstseins erhalten nun eine zweidimensionale Struktur, deren Symbol der Kreis ist, der alle Flächen in sich enthält. Der Kreis zeigt sich in der asiatischen Vorstellung des „Rades der Zeit“ und gilt auch als Symbol der Seele. Er umfasst alles Polare und bindet es ausgleichend ineinander.

 

Im ewigen Kreislauf der Jahreszeiten kehren die polaren Erscheinungen Sommer und Winter zu sich zurück. Das mythische Bewusstsein glaubt die Gegenpole in der Natur zu sehen. Dabei setzt es selbst die Sonne als Gegenpol zur Erde und den Himmel als Gegenpol zur Unterwelt, so dass die im magischen Kampf angeeignete Erde umfangen wird von dem unterirdischen Hades und dem überirdischen Olymp, die jedoch nur seelische Wirklichkeiten sind. In der Seele spiegelt sich sowohl die naturhafte Zeit als auch das Ewige, das auf Himmel oder Hölle bezogen ist.

 

Die Götter und Menschen der mythischen Bewusstseinsphase verschließen ihre Sinnesorgane und richten ihren Blick schweigend nach innen. Was sie dort erschauen und erträumen, drücken sie in Worten aus, und das Resultat ist der Mythos. Das Wort ist stets ein Spiegel des Schweigens, wie der Mythos ein Spiegel der Seele ist, erklärt Gebser. Doch erst die blinde Seite des Spiegels ermöglicht das Sehen. Die Seele ist wiederum ein Spiegel des Himmels und der Hölle. So schließt sich der Kreis von Zeit - Seele - Mythos - Himmel - Hölle - Mythos - Seele - Zeit.

 

Das mentale Bewusstsein tritt aus der Geborgenheit des zweidimensionalen Kreises heraus in den dreidimensionalen Raum. Es existiert nicht mehr ganzheitlich in der polaren Einheit, sondern steht dem Fremden in einem Dualismus gegenüber, der durch die denkerische Synthese als Trinität (Dreifaltigkeit) überbrückt werden soll. Zeit wird nicht länger als kreisend, sondern als linear wahrgenommen. An die Stelle des Rades tritt der Zeitpfeil. In der christlichen Lehre ist alles Geschehen „teleologisch“ (zielorientiert) und geht einem „jüngsten Gericht“ entgegen.

 

Das Ich löst sich aus der Natur und der Mensch erwacht zu sich selbst. Mit der Selbsterkenntnis beginnt auch das gerichtete Denken. Damit tritt der Mensch aus dem dämmerhaften mythischen Bewusstsein heraus in eine Welt, in der er das Maß aller Dinge ist. Ihm steht eine materielle Welt der Objekte gegenüber, die er sich messend aneignet. Abstraktionen treten an die Stelle der mythischen Bilder und werden damit selbst zu Göttern: Dualismus, Rationalismus, Materialismus, kurz alle rationalen Komponenten der perspektivischen Welt.

 

Der Mensch gibt sich selber eine Ordnung, indem er Rechte schafft. So vermittelt Moses am Berg Sinai dem Volk das göttliche Gesetz, Lykurg verfasst das spartanische Recht, und Solon das athenische. Das Wort „mental“ bezieht sich auf die Wortwurzel menos und besitzt ursprünglich die Bedeutung von "Absicht, Zorn, Mut, Gedanke, Verstand“.

 

Die Grundlagen für die Mutation ins mentale Bewusstsein sind also Zorn und Denken, die zunächst noch mythisch als Zorn der Götter (Zeus oder Jahwe) erfahren wurden, aber dann auf den Menschen übergingen. Der Zorn wird nicht als blinder, sondern als denkender Zorn gedacht und gibt der Handlung eine Richtung. Er ist rücksichtslos, d.h. er sieht nicht zurück. Er reißt den Menschen aus seiner bisherigen mythischen Eingeschlossenheit und ist vorwärts gerichtet wie die zielende Lanze. Der Zorn vereinzelt den Menschen von der Welt und ermöglicht sein Ich.

 

War das mythische Denken ein imaginäres Bilder-Entwerfen, das im Polaritäten umfassenden Kreis eingeschlossen war, so ist das mentale Denken objektbezogen und auf eine Dualität gerichtet. Der mentale Mensch oder Gott sieht sich als Subjekt einem Objekt gegenüber. Der Mann sieht sich stets einem Nicht-Ich gegenüber, das als weiblich erfahren und unbewusst mit der Großen Mutter alter Zeiten assoziiert wird. Dadurch erhält es für ihn dämonische Züge.

 

Von den Sanskrit-Wurzeln matar, mat und ma lassen sich „Mutter“, „Materie“ und „Mond“ ableiten, aber auch „Meter“ und „Maß“. Diese Begriffe gehören zu einem mentalen System, mit dem das männliche Ich das Mütterliche, die Materie, beherrschen will. Es enthält auch das weibliche Prinzip und erlebt in der heutigen patriarchalen Welt seine Glorifizierung im Materialismus und dem Beherrschtsein des rationalen Menschen durch die Materie. War der Mond für den frühen Menschen der zeitliche Maßstab, so ist die Materie für den heutigen Menschen der räumliche Maßstab.

 

Der Durchbruch des mentalen Bewusstseins begann um 500 v.u.Z., endgültig aber um 1.500 n.u.Z. mit der Bewusstwerdung des Raumes, die sich in der perspektivischen Malerei der Renaissance ausdrückt. Besonders hat sich jedoch das Zeitbewusstsein gewandelt: Die Zeit wird als messbar betrachtet und mit immer präziseren Uhren gemessen. Dennoch bleiben neben der messbaren, linearen Uhrenzeit auch die zyklische Zeit des mythischen Bewusstseins und die Zeitlosigkeit des magischen Bewusstseins als wirkende Realitäten bestehen.

 

Integrales Bewusstsein heißt Ganzwerdung, die Wiederherstellung eines unverletzten ursprünglichen Zustandes unter dem bereichernden Einbezug aller nachfolgenden Bewusstseinsleistungen. Dem integralen Menschen werden die verschiedenen Strukturen ebenso durchsichtig wie ihre Auswirkungen auf sein eigenes Leben. Die mangelhaft gewordenen Komponenten meistert er klarsichtig, bis sie im Gleichgewicht sind und reif für die Konkretisierung. Diese ist eine Voraussetzung für die Integration, denn es kann nur das Konkrete, niemals das Abstrakte integriert werden.

 

Die kreisende Kugel ist das Symbol der integralen Struktur, da sie an die vierte Dimension rührt. Die gleiche Struktur sieht Gebser auch in der klassischen Musik, in der jeder Satz in der gleichen Tonart endet, in der er begann. Unter Leonardo da Vinci wurde zuerst der räumliche Sprung vom mentalen zum integralen Bewusstsein gewagt, indem der dreidimensionale Raum verlassen wurde, um in den erfüllten Kugelraum vorzustoßen. Die Leere des linearen Raumes wurde aufgegeben zugunsten der Dimension des Erfülltseins, die jedoch die latente Präsenz der Zeit voraussetzt.

 

Für Gebser ist unsere Zeit reif, den Übergang vom mentalen zum integralen Bewusstsein auf einer breiten Ebene zu vollziehen. Im integralen Bewusstsein unterscheidet sich die neue Zeitfreiheit, das „Achronon“, von der Zeitlosigkeit des magischem Bewusstseins als ein Weltverständnis, das sich der verschiedenen Zeitformen bewusst ist, über sie verfügt und sich von ihnen befreit. Diese Zeitfreiheit ist die bewusste Form des archaischen, ursprünglich Vorzeithaften. Sie stellt uns in die Nähe des immer gegenwärtigen Ursprungs, der jetzt bewusst realisiert wird.

 

Der Ursprung ist der Zustand vor dem Beginn und insofern zeitfrei, im Gegensatz zum zeitgebundenen Initial-Vorgang des Beginns selbst. Das bedeutet, dass der Ursprung stets gegenwärtig ist. Charakteristisch für ihn sind seine Zeitfreiheit bzw. Vorzeithaftigkeit und seine Zugleich-Struktur. Der Ursprung ist vorzeithaft, da er vor der Zeit liegt. Geschehnisse, die sich in der Zeit beschreiben lassen sowie "datenlose" Geschehnisse entspringen aus der Gegenwart des Ursprungs.

 

Alles, was sich in der Zeit nacheinander entfaltet, ist im Ursprung zugleich enthalten, aber wir müssen es Stück für Stück auswickeln. Mit der Gegenwart des Ursprungs ist nicht die Vorherbestimmtheit gemeint, sondern ein Ursprung, der vom Ganzen und vom Geistigen geprägt ist und vor bzw. jenseits von Raum und Zeit liegt. Mit jeder Bewusstseinsmutation erhält der Ursprung einen bewussteren Gegenwartscharakter, indem er zur zeitfreien Gegenwart wird.

 

Parallel zur Überwindung der Zeit erfolgt mit dem Durchbruch des integralen Bewusstseins auch die Überwindung des Raumes. Mit dem mentalen Bewusstsein wurde der Raum bewusst, und diese Bewusstwerdung ist nicht mehr rückgängig zu machen. Waren die magische und die mythische Welt unperspektivisch, so ist die mentale Welt mit ihrem Raumbewusstsein perspektivisch. Die zukünftige Welt des integralen Bewusstseins wird jedoch eine aperspektivische Welt sein.

 

Die Perspektive ermöglicht eine Bewusstwerdung des Raumes und damit eine Distanzierung von ihm. Für das mentale Bewusstsein wird die Welt zum Gegenüber eines Ich, das sich bewusst von seiner Umgebung abgrenzt und so den Raum verfügbar macht. Deutlich zeigt sich dieser Bewusstseinswandel in der Malerei: Die Bilder des mythischen Bewusstseins kannten noch keine Perspektive, sondern betteten den Menschen in den Hintergrund ein. Er war noch ein Teil der Welt und nicht ihr Gegenüber. Durch die Einführung der Perspektive löste sich der Mensch aus dem Hintergrund und machte die Welt zum beherrschbaren Gegenüber.

 

Das mentale Bewusstsein erlaubte einen gewaltigen schöpferischen Aufschwung, ist aber in unserer Zeit überholt. Die neue Aperspektive wird auch zur Überwindung des Raumes führen. Der Dualismus der perspektivischen Welt wird in einer Welt ohne Gegenüber überwunden und ersetzt durch ein neues Miteinander sowie die bewusste Teilhabe des Einzelnen am Weltganzen, hofft Gebser.

 

 

Birgit Sonnek

 

März 2012

 

 

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