Jochum, Uwe: Kleine BIBLIOTHEKSGESCHICHTE
In seiner "kleinen Bibliotheksgeschichte"
beschreibt Uwe Jochum sehr anschaulich die Entwicklung der Literatur (und damit
die Verschriftlichung menschlichen Wissens) seit ihren Anfängen vor mehreren
tausend Jahren, wie sie zahlreichen Manipulationen durch verschiedene
Machthaber ausgesetzt war, und ihren schwierigen Demokratisierungsprozess.
Seit Leibniz und Schopenhauer spreche man zwar
achtungsvoll von den Bibliotheken als dem “Gedächtnis der Menschheit“, ohne sich
jedoch sonderlich um dieses Gedächtnis zu kümmern. Dieser Verdrängung
korrespondiere die Vorstellung vom lebendigen (gesprochenen) Wort und dem toten
Buchstaben, die der Schrift nur die Eigenschaft eines externen Gedächtnisspeichers
zuerkenne. Da aber nach dem Tod der Sprechenden die Schriften erhalten blieben,
seien sie mehr als das. Sie zu lesen bedeute, sie zu deuten. Nicht, indem man
die Stimmen der Verstorbenen vernehme, sondern indem man den Zeichen einen
eigenen Sinn gebe.
Neben ihrer Eigenschaft, Sinnfragen aufzuwerfen,
benötigten die Schriften vor allem Speicherplatz. Dieser Speicherplatz sei die
Bibliothek, ganz gleich ob der Schriftträger aus Tontafeln, Papyrusrollen,
Büchern oder CD-ROMs bestehe. Es sei ein gängiger Irrtum anzunehmen, die Bibliothek
sei ein Museum, das Bücher sammele. Sie halte das gegenwärtige Wissen der
Menschheit bereit, damit es neu interpretiert und weiter verknüpft werden
könne.
Schreiben sei im alten Ägypten eine Maßnahme gegen
den Tod gewesen: Schrift habe das Andenken der Verstorbenen erhalten, die
dadurch im kollektiven Gedächtnis weiterleben konnten. Die Schreibkundigkeit
sei fast ausschließlich der Priesterkaste vorbehalten gewesen, und durch die
Zusammengehörigkeit von Kultstätte, Bibliothek und Administration habe sich
eine enge Verknüpfung von Schrift und Herrschaft ergeben. Im antiken
Griechenland dagegen habe sich die Schrift von Kult, politischer Repräsentation
und wirtschaftlicher Organisation getrennt und sich in den Dienst der Tragiker,
der philosophischen Schulen und ihrer Lehrhäupter gestellt.
Dort seien private Bibliotheken von wohlhabenden
Bürgern sowie Philosophenschulen entstanden, die später von den Römern als
Kriegsbeute mit nach Hause gebracht worden seien. Der erste Plan zum Bau einer
öffentlichen Bibliothek habe von Julius Cäsar gestammt, nachdem er die
ägyptische Bibliothek in Alexandrien kennen gelernt habe, bevor (er?) sie
abbrannte. Im römischen Reich seien die Bibliotheken wieder zum Ausdruck
staatlicher Macht geworden, wogegen heute nur die von staatlicher Macht
emanzipierte Schrift als “Kultur“ bezeichnet werde.
Daneben seien christliche Bibliotheken entstanden,
deren Schwerpunkt auf den Büchern des Neuen und Alten Testaments gelegen habe.
Während die griechische und römische Bildung den Zweck verfolgt habe, den
jungen Bürger für das Gemeinwesen, die Polis, zu bilden, sei das Ziel der
christlichen Bildung die Vorbereitung auf das Leben nach dem Tod gewesen. Die
Bibliotheken hätten sich nun auf Klosterschulen beschränkt, deren Literatur
asketisch auf den christlichen Kanon reduziert war. Die Bindung der Schrift an
den Diskurs der Macht habe das Christentum jedoch von den Römern übernommen.
Die Kirche sei für Jahrhunderte die einzige Institution geworden, die Lese- und
Schreibfertigkeit tradierte.
Die Reformen Karls des Großen hätten sich an der
Idee des Augustinischen Gottesstaates orientiert und eine Theokratie
beabsichtigt, die durch Missionierung der heidnischen Germanen die
merowingische Herrschaft spirituell abzusichern suchte, wobei die mündliche
germanische an die schriftliche christliche Kultur angepasst worden sei. Erst
im Spätmittelalter sei die Schrift wieder in weltliche Bereiche vorgedrungen,
hauptsächlich in Verbindung mit den entstehenden Universitäten.
Nach der Einführung des Buchdrucks auf Papier seien
die klösterlichen oder universitären Schreibbüros, in denen handschriftliche
Kopien meist theologischer Schriften angefertigt wurden, durch die kalkulierte
Massenproduktion auch weltlicher Texte ersetzt worden. Abnehmer seien jetzt
auch Fürstenhöfe gewesen, die Kataloge über ihre umfangreichen Buchbestände
führten und damit eine Signatur der Literatur benötigten, um ihren Standort zu
bezeichnen. Die Bücher hätten ein Titelblatt erhalten und seien jetzt
überwiegend über den Autorennamen identifiziert worden. Dahinter habe sich die
Idee der Individualität verborgen, die mit dem Beginn der Neuzeit eng verknüpft
sei.
Nach dem Fall Konstantinopels an das Osmanische
Reich seien viele Griechisch sprechende Gelehrte nach Florenz geflohen und
hätten dort eine Wiederentdeckung der klassischen Texte bewirkt. Aus Italien
habe sich die Renaissance des griechischen Humanismus über ganz Europa
verbreitet. Das Bild der Bibliotheken habe sich wieder am antiken Vorbild des
wissenschaftlichen Museions orientiert, das der Öffentlichkeit zugänglich war.
Auch die Reformation habe von der Möglichkeit einer
öffentlichen Verbreitung von Texten profitiert, indem Luther seine Thesen nicht
nur einem kleinen Kreis akademisch gebildeter Theologen zugänglich machte,
sondern eine breite Masse zur Disputation darüber eingeladen habe. Das
Scheitern der Kirche beim Versuch, diese Bewegung auszuschalten, gründete
letztlich im neuen Distributionsmittel des Druckes, das gleichzeitig verhindert
habe, dass eine abweichende Meinung durch die physische Vernichtung des
Häretikers ausgelöscht werden konnte.
In den Ländern, die zum protestantischen Glauben
übergingen, seien die ersten Gemeinde- und Stadtbibliotheken in der Nachfolge
der Klosterbibliotheken entstanden, deren Bestände integriert und einer
literarischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden seien. Das Modell der
privatisierten Lektüre sei ergänzt worden durch zahlreiche Gemeindeschulen, die
an die Stelle der alten Kloster- und Domschulen getreten seien und das Erlernen
der Schrift erstmalig der Bevölkerung ermöglichten.
Zur Zeit des Barock habe der Aspekt des „Sammelns“
von Büchern vor dem inhaltlichen Interesse dominiert. Wenn sich der
Besitzwunsch mit genügend Kapital paarte, wie es zumeist an den Fürstenhöfen
der Fall war, seien große Bibliotheken entstanden. Doch die oft gerühmten
bibliothekarischen Verbesserungen von Leibniz in Hannover hätten weniger auf
eine Öffnung der Hofbibliothek für ein größeres Publikum gezielt als auf eine
Dienstbarmachung der Bibliothek für die Zwecke des Staates. Die Wissenschaft
sei als ein Kanon ewig gültiger Erkenntnisse betrachtet worden, die es als
Kuriosum aufzubewahren galt. Als sich sein Nachfolger Lessing in Wolfenbüttel
wieder mehr der gelehrten Arbeit zuwandte, habe ihm das den Vorwurf eines
schlechten Bibliothekars eingebracht.
Verwaltung, Gelehrtendasein und Kunst hätten dann
begonnen, sich voneinander zu trennen, und die Aufgabe der Bibliothekare habe
sich zunehmend auf das Verzeichnis von Schriften der an den Universitäten
arbeitenden Gelehrten und die Aufbewahrung von Romanen der Schriftsteller
beschränkt. Wissen und Gelehrsamkeit hätten ihren Platz in den Universitäten
gefunden. Als Konsequenz der Aufklärung habe sich die Universitäts-Bibliothek
Göttingen als erste von der Idee der Sammlung gelöst und sich als moderne
wissenschaftliche Gebrauchsbibliothek betrachtet. Gleichzeitig habe die
Staatsverwaltung immer mehr schreib- und lesefähige Beamte benötigt, um die
immer komplexer werdenden Verwaltungsvorgänge zu beherrschen.
Die endgültige Trennung von Bibliothek und
Fürstenhaus sei im Zuge der Aufhebung der geburtsständischen Gliederung der
Gesellschaft nach der Französischen Revolution erfolgt. Der Beamtenapparat,
unkündbar und vom Staat durch eine Pension abgesichert, sei nicht mehr aus den
Adligen rekrutiert worden, sondern aus dem Bürgertum. Der Bibliothekarsberuf
habe sich als eigenständiges, vom Staat finanziertes Amt etabliert, von dem
allerdings durch einen rigiden Voraussetzungskatalog Frauen, Realschulabiturienten
und die Söhne der Mittelschicht ausgeschlossen waren.
Durch neue Drucktechniken sei die deutsche
Buchproduktion 1885 auf 16.000 Exemplare gestiegen; auf der qualitativen Seite
habe der Anteil theologischer Werke kontinuierlich ab- und der Anteil der
„Realien“ (Landwirtschaft, Technik, Handel und Gewerbe) zugenommen. Der Gedanke
einer „universellen“ Bibliothek, die alles Wissen enthielt, sei aufgegeben
worden. Die Bestände seien jetzt nach Sachbereichen geordnet worden, da das
alphabetische System allein nicht mehr ausreichte, die gesuchte Literatur
schnell aufzufinden. Die Buchaufstellung sei jetzt nicht mehr mit dem Katalog
identisch gewesen, sondern repräsentierte die Vielfalt der Wissenschaften.
Selbständige Fachbibliotheken hätten sich aus den
Handbibliotheken der Professoren entwickelt, während die zentrale
Universitätsbibliothek sich auf das Allgemeine konzentrierte und für
Spezialisten immer unattraktiver geworden sei. Mit der Differenzierung der
Institutsbibliotheken habe eine Spezialisierung wissenschaftlicher Forschung
korrespondiert, die von der Industrie gefördert worden sei und schließlich zur
Einrichtung technischer Hochschulen geführt habe.
Die Flut von Neuerscheinungen und die wachsende
Zahl wissenschaftlicher Disziplinen habe eine ständige Neuorientierung in der
Katalogsystematik erfordert. Ein Preußischer Nationalkatalog sei 1897 als
Gesamtkatalog begonnen worden, doch sei man 1931 erst zum Buchstaben B gelangt.
Zu der Zeit sei er schon veraltet gewesen und durch zahlreiche Anhänge ergänzt
worden. Der zweite Weltkrieg habe die weitere Produktion verhindert, an der
inzwischen 102 Bibliotheken mitarbeiteten. Erst die moderne Datenverarbeitung
habe zu einer Ordnung geführt, die nicht aus zusätzlichen Büchern bestand und
stets aktuell gehalten werden konnte.
Im 19. Jahrhundert sei im Bürgertum das Interesse
an Bildung gewachsen, weil man davon einen höheren Wohlstand erwartete. Die
ökonomischen Transaktionen hätten eine breite Lese- und Schreibfertigkeit
erfordert, so dass mit den Gemeindeschulen „geistiges Kapital“ in die Zukunft
investiert worden sei. Die öffentliche Erziehung im Rahmen einer
Staatspädagogik habe nach Kant eine physische, ästhetische, intellektuelle und
praktische (moralische) Erziehung unterschieden, die für den Staatsbürger in
Schulen, Kirchen und Bibliotheken stattfand.
Vor diesem neuen Bildungshintergrund habe sich ein
neuer Bibliothekstyp etabliert: Die Stadtbibliothek sei zum Zwecke des
„Wohlseyns der physischen und moralischen Natur des Menschen“ entstanden, das
aus den Urbestandteilen Sittlichkeit und Glückseligkeit resultierte. Ihr
Anliegen sei nicht die wertfreie Bereitstellung von Literatur gewesen, sondern
im Sinne der Aufklärung die Leser mit „guten“ Büchern zu versorgen. So sollte
die Jugend „von der Leserei schaaler und unsittlicher Romane“ durch das Angebot
erhabener Werke abgehalten werden, die jedoch eigentlich auf das Wohl des
Staates abzielten. Die Stadtbibliotheken seien bald in einen politischen
Interessenkonflikt geraten, als sich die Trennung zwischen der Arbeiterbewegung
einerseits und Bürgertum/Kirche/Staat andererseits verschärfte.
Während die selbst organisierten Leihbüchereien der
Arbeiter oft verboten worden seien, hätten die von Bürgertum, Kirche und Staat
unterstützten Einrichtungen hauptsächlich Literatur enthalten, die der
Pädagogisierung und staatlichen Integration der kritischen Masse diente.
Aufgrund der immensen Kosten habe eine Bibliothek jedoch von öffentlicher Hand
betrieben werden müssen. Das liberale Bürgertum habe den Bildungsstand des
Volkes heben wollen, doch die konservativen Bürger hätten eine „Befestigung von
Sitte, Glauben und Unterthanentreue“ intendiert. Sie hätten das Lesen als
anarchischen Akt betrachtet, der die Leser in die Arme der Sozialdemokratie
triebe.
Das Vorbild der USA und Großbritanniens habe
schließlich zum Durchbruch der staatlichen Volksbildung geführt, indem sie
zeigten, dass „in den Volksbibliotheken fortgebildete Arbeiter rascher fassen
und geschickter arbeiten“, dass „zahllose technische Fortschritte und Erfahrungen
der dort stattfindenden Anregung und Belehrung zu danken sind“, und dass „bei
einem Zusammenstoß der Mächte das intelligente Heer siegen“ würde. Bildung sei
damit zur Staatsräson geworden und habe der politischen Stabilisierung des 1871
entstandenen Reiches gedient.
In „Einheitsbüchereien“ sei die Trennung von Volks-
und Universitätsbibliotheken aufgehoben worden. Sie seien für alle Schichten
des Volkes zugänglich gewesen, und die neuen „Bücherhallen“ hätten Lesesäle
enthalten, in denen man Bücher lesen konnte, ohne sie auszuleihen. Doch erst
1912 sei die Idee der Volkspädagogik im deutschen Bibliothekswesen in Frage
gestellt und ihr der Gedanke des Dienstleistungsunternehmens gegenübergestellt
worden. Im sog. Richtungsstreit seien beide Positionen kontrovers diskutiert
und bald von völkischer Ideologie überlagert worden.
Die „Neue Richtung“ habe das Volk erst zur
„Volkheit“ bilden wollen und sich besonders gegen die „vermasste“ westliche
Zivilisation der USA gewandt. Im Zuge der nationalistischen Tendenzen habe sich
eine anti-intellektuelle Haltung entwickelt, die im dritten Reich zu den
Säuberungen der Bibliotheksbestände zugunsten deutschen Kulturguts führte. Der
von den öffentlichen Bibliotheken entwickelte Ansatz, durch ihre pädagogische Bildungsarbeit
einen Beitrag zur „kulturellen Selbstbehauptung des eigenen Volkes“ zu leisten,
habe sich während des dritten Reiches mühelos zu einer nationalsozialistischen
Lenkung der Leser umfunktionieren lassen.
Allerdings habe das Dritte Reich indirekt den
Übergang der öffentlichen Bibliotheken zu einem Dienstleistungsunternehmen
beschleunigt, indem die Bibliothekare mit der Freihandaufstellung begannen und
den freien Zugang zum Buch ermöglichten. Eine falsche Leserberatung im
ideologischen Sinn habe nämlich leicht zur Denunziation führen können. Die an
den öffentlichen Bibliotheken als zersetzend ausgesonderten Bücher seien an den
Universitätsbibliotheken in den Bestand eingearbeitet worden. Diese hätten erst
mit der zunehmenden Devisenknappheit Beschränkungen in ihrem Bestandsaufbau
erfahren und sich gezwungen gesehen, ausländische Literatur nur begrenzt zu
kaufen.
Nach dem totalen Zusammenbruch der
Literaturbeschaffung und der völligen Zerstörung vieler Bibliotheken im zweiten
Weltkrieg und nach der Instrumentalisierung des ostdeutschen Bibliothekswesens
für das Ziel einer sozialistischen Gesellschaft sowie der Gründung einer
westdeutschen Nationalbibliographie in Frankfurt sei die Zersplitterung des
deutschen Bibliothekswesens verfestigt gewesen. Doch sei bei einigen
Neugründungen die überkommene Thekenbücherei mit pädagogischer Betreuung der
Leser im Sinne des humanistischen deutschen Bibliotheksmodells wieder aufgenommen
worden. Aus den USA seien in den sechziger Jahren die Bestrebungen gekommen, auch
die Bestände der Universitätsbibliotheken im Freihandsystem anzubieten.
Gleichzeitig habe man nicht wieder in den Fehler verfallen wollen, Universitäts-
und Institutsbibliotheken zu trennen.
Auch die Universitätsbibliotheken sollten nun
„nicht mehr in der bloßen Sammlung und Hortung geistigen Kapitals bestehen,
sondern darin, dieses Kapital (möglichst effektiv) arbeiten zu lassen“. Das
habe jedoch nicht unmittelbar den erhofften gesellschaftlichen Fortschritt
gebracht, sondern zunächst einmal den Zugriff des Staates auf die
Informationsressourcen zur Sicherung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.
Die systematische Freihandaufstellung in den neugegründeten Bibliotheken habe
jetzt nicht mehr den Kosmos des Wissens repräsentiert, sondern einer größeren Benutzerfreundlichkeit
gedient.
Nach dem Schritt in die Moderne während der 60er
und 70er Jahre sei die Bundesrepublik vorübergehend führend geworden durch ihre
Anwendung der EDV für Bibliothekszwecke in Frankfurt. Damit sei zugleich der
Keim für eine umfassende Vernetzung gelegt worden, auch für den internationalen
Austausch von Katalogstandards, der zu allgemeinen Regeln für die alphabetische
Katalogisierung geführt habe. Im Zuge des internationalen Datenaustausches
seien gemeinsame bibliographische Datenbanken entstanden. Bibliotheksintern sei
mit Hilfe der EDV festgestellt worden, dass ein großer Teil der angeschafften
Literatur niemals gelesen wurde und damit überflüssig war.
Andererseits drohte die EDV mit der Schaffung neuer
Medien „das Ende des Buches“ und damit das Ende aller Bibliotheken
anzukündigen. Um ihrer Antiquiertheit zu entgehen, müsste die zukünftige
Bibliothek ihre Rolle neu überdenken und sich allgemein als
„Informationsvermittlerin“ definieren. Diese Prophezeiung habe sich allerdings nicht
erfüllt, denn das Buch sei als Informationsspeicher allein unzureichend
definiert. Zwar sei die Zeit vorbei, in der Bücher die einzigen Medien der
Schriftspeicherung waren, doch träten die neuen elektronischen Medien
überwiegend im elektronischen Herstellungsprozess auf, im Satz und
Datentransfer, an deren Ende immer noch ein Buch stehe.
Die neuen Medien speicherten allerdings keine
Buchstabenschrift mehr, sondern dekodierten elektromagnetische Markierungen zu
akustischen und visuellen Signalen. Doch könne für diese Art der Zeichensetzung
auch im weitesten Sinne der Terminus „Schrift“ verwendet werden, wie die neue
französische Philosophie es nahe lege. Der Begriff „Information“ sage aus, dass
Sprache ein Mittel sei, das Aussagen über uns und unsere Umwelt erlaube, ein
Instrument der Mitteilung von Gedanken. Dementsprechend sei „Schrift“ ein
Instrument der Notation von Sprache in einem festen Medium. Die Gesamtheit der
sprachlichen und schriftlichen Mitteilungen gelte als „Information“ eines
Autoren an andere Menschen.
Diese Auffassung berücksichtige jedoch nicht den
Aspekt der sozialen Interaktion von Sprache, in deren Interpretation wir unsere
Welt überhaupt erst schafften. Die Bedeutung der Worte ergebe sich aus ihrem
Bezug zu all dem anderen Gesagten und Ungesagten sowie in der Übersetzung von
einem Medium in ein anderes. Das Ende des Buches sei also nicht nur das Ende
einer bestimmten Produktionsweise von Büchern, sondern vor allem das Ende der
Auffassung, in Büchern stehe nur eine Bedeutung,
die es zu finden gelte, und das sei die allgemeingültige Interpretation, die
als Information verbreitet werden könne.
Die Suche nach einer solchen kanonischen Bedeutung
von Texten, die sich aus der Überlieferung ergebe, habe zur systematischen
Anordnung der Bibliotheksbestände geführt, die die bedrohliche Vielfalt der
Texte und ihre widersprüchlichen Aussagen domestiziert habe. Erst die neuen
Medien hätten zum Bewusstsein gebracht, dass der aktive Prozess der Deutung
immer neue Schrift hervorbringe. Damit korrespondiere die Aufstellung der
Bücher nach der Reihenfolge ihrer Erwerbung, die das Zeitalter der einen Bedeutung und dogmatischen Systematik
beende.
Seit den 60er und 70er Jahren gebe es in den
Bibliotheken keine Bücherschätze mehr, sondern nur noch ausleihbare
Medieneinheiten. Der Vielfalt von Texten entspreche ein multidimensionaler
Zugriff auf Daten in einem vernetzten Bibliothekssystem. Die „Information“
beziehe sich nur noch auf den Standort eines Buches in den Regalen. Durch die
neuen Speichertechniken hätten die Bibliotheken ihren Nimbus verloren und seien
zu Orten geworden, die den produktiven Anschluss an die Überlieferung
erlaubten. Dieser Anschluss werde jetzt nicht mehr allein durch das Buch
vermittelt, sondern multimedial und in weltweiten Netzen.
Der Vorwurf, Bibliotheken würden zu reinen
„Buchmuseen“ verkommen, sei schon seit dem 19. Jahrhundert überholt, als das
Buch und die allgemeine Alphabetisierung eine Trennung von Museen und
Bibliotheken herbeigeführt hätten. Das Zeitalter von Film und Fernsehen habe
jedoch ein weiteres Kuriosum hervorgebracht: die Bibliothek als Bildschirm, auf
dem sich neben dem Bestandskatalog auch betrachten lasse, was die Welt jenseits
der alphabetischen Zeichen zu bieten hat.
Am Anfang war das gesprochene Wort. Zur mündlichen
Überlieferung trat dreieinhalbtausend Jahre vor Christus die Schrift auf Stein,
Papyrus und schließlich Papier. Damit hatte sich der Mensch ein externes
Gedächtnis geschaffen und konnte sein Wissen konservieren. Die Konserven blieben
allerdings nur wenigen Gelehrten und Mönchen zugänglich und standen für die
Allgemeinheit unerreichbar hinter Palast- und Klostermauern. Erst durch den
Buchdruck büßte die Kaste der Hüter des Herrschaftswissens an Macht und Ansehen
ein.
Insgesamt sind heute etwa eine Milliarde Bände in
kilometerlangen Bücherregalen über den Globus verteilt. Das gespeicherte
Weltwissen verdoppelt sich alle zwei bis drei Jahre - und ist zum Teil ebenso
schnell wieder veraltet. Für Bürger mit informationstechnologischem Know-how
sind die Bildungsgüter an fast jedem Ort der Welt sofort verfügbar. Das Wissen
wird nicht mehr nur in den Köpfen der Gelehrten verarbeitet und in Hörsälen
vermittelt, sondern es befindet sich in einem ständigen Fluss durch globale
Datennetze und wird laufend aktualisiert.
Dadurch wird das traditionelle Lernen von Fakten
zunehmend unwichtiger. Das Lernziel eines ”wandelnden Lexikons” hat sich
zugunsten des kritischen Anwenders verschoben, der jede Information, die er
braucht, sofort zur Hand hat. Neben Lesen, Schreiben und Rechnen wird in den
Schulen der Umgang mit Datennetzen vermittelt (computer literacy), um das neue
Bildungsideal des kritischen Nutzers von Informationen flächendeckend zu
verwirklichen. Der klassische Bildungsbegriff muss neu definiert werden.
Die Erfindung
”Buchdruck” und später die Einrichtung ”Öffentliche Bibliotheken” haben den
Demokratisierungsprozess von Information stark vorangetrieben - und zwar
bereits vor der ”Erfindung” des Internet. Die gegenwärtige Intention der Bibliotheken
besteht darin, die Bevölkerung auf die neue Kulturtechnik vorzubereiten und den
Zugriff auf alle Formen und Medien zu ermöglichen. Damit erfüllt sie eine
wichtige demokratische Funktion, indem sie dem im Artikel 3 des Grundgesetzes
definierten Grundsatz der Chancengleichheit auch bei der Nutzung moderner
Informationstechnologien gerecht wird, der sonst auf eine kleine Subkultur der
sogenannten Early Adopters beschränkt wäre. Das sind diejenigen, die sich schon
frühzeitig mit Neuen Medien auseinandergesetzt haben.
In der Gesellschaft der Zukunft wird individuelles
Lernen dominieren, ein lebenslanger, selbstgesteuerter Prozess, der
generationsübergreifend stattfindet und demokratisierende Auswirkungen zeigt.
Die erforderliche Medienkompetenz wird in Schulen und Bibliotheken vermittelt.
Die Zahl der geistig mobilen Menschen wird wachsen, die über das prozedurale
Wissen verfügen, sich in diesen Netzen zu bewegen. Parallel dazu wird das
Erfordernis der körperlichen Mobilität abnehmen, um den Lernstoff in
Bibliotheken und Schulen aufzusuchen.
Achtung
Satire!
Die Universitäten planen weltweit die Einführung
eines neuen bio-optisch organisierten Informationsträgers. Es handelt sich um
einen revolutionären Durchbruch im Bereich der Informations-Technologie, der
ohne Drähte, elektrische Schaltkreise oder Batterien auskommt. Nichts mehr, was
verbunden oder getrennt werden könnte, und so einfach zu handhaben, dass ein
Kind damit umgehen kann.
Kompakt und portabel kann das Gerät überall benutzt
werden - sogar in einem Lehnstuhl am Kamin. Dennoch enthält es ebenso viele
Informationen wie eine CD-ROM. Der Datenträger besteht aus aufsteigend
nummerierten Papierbogen (recycelbar), von denen jeder in der Lage ist, Tausende
von Bits an Informationen zu speichern. Die Bogen sind durch einen handelsüblichen
Apparat, genannt Binder, in die richtige Reihenfolge gebracht. Die sogenannte
Opak-Papier-Technologie (OPT) erlaubt es, beide Seiten des undurchsichtigen
Bogens zu benutzen, wodurch die Informationen verdoppelt und die Kosten
halbiert werden.
Die maximale Speicherkapazität wird von Experten
unterschiedlich beurteilt, im Augenblick erfordern zusätzliche Informationen
einfach weitere Seiten. Jeder Bogen ist optimal aufbereitet und überträgt
Informationen direkt in das Gehirn des Nutzers. Durch ein Fingerschnipsen
gelangt man auf die nächste Seite. Die Benutzung kann unmittelbar nach dem
Öffnen der Datei beginnen, wobei das System niemals abstürzt und einen Neustart
erfordert. Doch wie andere Wiedergabegeräte kann es unbrauchbar werden, wenn es
über Bord geht. Die sogenannte Umblätter-Funktion erlaubt es, jedes Blatt
einzeln aufzurufen und darüber hinaus nach Belieben vorwärts oder rückwärts zu
springen. Viele Geräte besitzen ein „Inhalts-Verzeichnis“, das den exakten Ort
aufzeigt, an dem eine bestimmte Information zu finden ist.
Die zusätzliche Option ”Lesezeichen” erlaubt es,
das Programm exakt an der Stelle wieder zu öffnen, wo es in einer früheren
Sitzung verlassen wurde, sogar nachdem es geschlossen worden ist. ”Lesezeichen”
entspricht universellen Design-Standards, folglich kann ein einziges
Lesezeichen für Geräte unterschiedlicher Fabrikate genutzt werden. Andererseits
sind mehrere Lesezeichen in einem Gerät nutzbar, falls der Nutzer verschiedene
Informationen auf einmal zur Verfügung haben möchte. Die Anzahl ist nur durch
die Seitenzahl begrenzt.
Mittels einer zusätzlichen
Programmierungsausstattung, genannt PENCILS (Portable Erasable Nib Cryptic
Intercommunication Language Stylus), können dem Text persönliche Notizen
hinzugefügt werden. Aufgrund ihrer flexiblen Einsatzfähigkeit, Haltbarkeit und
Erschwinglichkeit wird die neue wissenschaftliche Errungenschaft als Vorläufer
einer neuen Unternehmer-Ära gepriesen. Ihre Anziehungskraft scheint so
überzeugend, dass bereits Tausende von Text-Produzenten auf die Schiene gesprungen
sind, und es wird von Scharen von Investoren berichtet, die ein solches Gerät
demnächst herausbringen wollen. Eine Flut neuer Titel wird in Kürze erwartet.
Das Wunderding trägt übrigens den Handelsnamen ”BUCH”.
März 2003
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