Lorenz, Konrad: Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie (Biologisches APRIORI)

 

In seiner Transzendentalphilosophie postulierte Kant, dass eine Erkenntnis der "Dinge an sich" prinzipiell nicht möglich sei, da wir sie nur durch die Brille unserer Erkenntnis-Kategorien betrachten könnten, aber keinen Zugriff auf die reale Welt hätten. Die Kategorien unserer Wahrnehmung seien "apriori" vor jeder Erfahrung da und beeinflussten konstitutiv unsere Sicht der Dinge. Unter dieser Prämisse formulierte er die Möglichkeiten einer Naturwissenschaft neu: „In der Erkenntnis schreiben wir der Natur ihre Gesetze vor.“

 

Dagegen meint Konrad Lorenz, dass die reale Welt unsere Wahrnehmungs-Kategorien erst geformt habe und deshalb adäquat in unserer Vorstellung abgebildet werden müsse. Kants Postulate seien durch die neuere Entwicklung der Naturwissenschaft als Voraussetzung für diese teilweise in Frage gestellt worden. So werde z.B. im Bereich der Wahrnehmungspsychologie durch die Theorie der ganzheitlichen Gestaltwahrnehmung eine Anschauung von Gegenständen vorausgesetzt, die sich nicht als Summe von Teilwahrnehmungen konstituiere, wie Kant es in seiner transzendentalen Analytik dargestellt habe.

 

Die nicht-euklidsche Geometrie gehe von gekrümmten Räumen aus, und in der Relativitätstheorie werde die Zeit als abhängig von der Geschwindigkeit der Objekte ermittelt. Ein gekrümmter Raum und eine relative Zeit seien aber nicht mehr anschaulich und ließen auf eine von der menschlichen Erkenntnisfähigkeit unabhängige Existenz des Raumes und der Zeit schließen. Sie seien damit nicht mehr ausschließlich als denknotwendige Anschauungsformen a priori aufzufassen, sondern würden zu Gegenständen der Physik, die eine denk-unabhängige Realität voraussetze.

 

Lorenz geht stellvertretend für die neuen Sichtweisen auf eine spezielle Theorie ein, die sich nicht als Kritik, sondern als Erweiterung des transzendentalen Konzepts betrachte: die Evolutionäre Erkenntnistheorie. Ihr Anliegen sei die Klärung stammesgeschichtlicher Bedingungen des menschlichen Erkennens und Denkens.

 

Diese Konzeption sei der biologischen Evolutionstheorie entsprungen, und demzufolge treffe sie eine Unterscheidung zwischen der Ebene der philosophischen Erkenntnistheorie, die menschliches Erkennen bereits voraussetze, und der Ebene einer Biologie der Erkenntnis, die diese Voraussetzungen untersuche. In diesem Sinne suche sie das apriorische Erkenntnisvermögen als ein evolutives, in der Stammesgeschichte unserer Spezies herausgebildetes Aposteriori zu erklären.

 

Darwins Gedanke, dass die heutigen Lebewesen einschließlich des Menschen von früheren Lebensformen abgeleitet werden könnten, sei inzwischen zum wissenschaftlichen Bestandteil biologischer Lehrbücher geworden. Darwin habe darüber hinaus vermutet, dass auch die „Vernunftqualitäten“ des Menschen als Ergebnisse der Evolution anzusehen seien. Aus dieser evolutionären Betrachtung psychischer und geistiger Aktivitäten ergebe sich heute die These, dass mentales Erleben nicht auf den Menschen beschränkt und das Denken ein körperlicher Prozess sei, der als biologische Funktion der Evolution unterworfen sei.

 

Der Evolutionstheoretiker Wuketits unterscheidet darüber hinaus zwischen psychischen und geistigen Fähigkeiten, indem er feststellt, dass psychische Phänomene allen Organismen eigen seien, doch allein der Mensch durch das Vermögen eines selbstreflexiven Bewusstseins geistige Leistungen vollbringen könne. Diese Funktionen seien jedoch nur auf der Grundlage biologischer Strukturentwicklungen möglich, und die Bio-Evolution sei die unabdingbare Voraussetzung für die psychische und geistige Evolution.

 

Eine Hauptleistung des evolutionären Ansatzes besteht nach Lorenz in der „Ent-anthropomorphisierung“ menschlicher Weltvorstellungen. Die Evolutionäre Erkenntnistheorie werde aber nicht als ein Konkurrenzunternehmen zur philosophischen Erkenntnistheorie verstanden, sondern sie wolle durch eine Relativierung des Erkenntnisbegriffs eine breitere Basis für eine „reine“ Erkenntnistheorie schaffen.

 

Lorenz weist den Weg zu einer solchen Relativierung, indem er die Aprioris (angeboren) menschlicher Erkenntnis als Aposterioris (erworben) der Evolution zu erklären versucht. Er setzt dabei voraus, dass alle Lebewesen mit angeborenen Strukturen ausgestattet sind als Dispositionen, die erst individuelle Lernleistungen ermöglichen, und dass diese angeborenen Strukturen ihrerseits Produkte der Evolution sind, Ergebnisse einer natürlichen Auslese.

 

Diese angeborenen Dispositionen seien für jeden individuellen Organismus zwar a priori gegeben, aber sie hätten sich in der jeweiligen Gattung erst allmählich als ein Selektionsvorteil entwickelt. Damit werde die biologische Bedingtheit des Geistigen einer dynamischen Betrachtungsweise zugänglich.

 

In seinem Aufsatz „Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie“ kritisiert Lorenz, dass die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit sowie die Kategorie der Kausalität und die anderen Kategorien durch Kant ausschließlich als apriorische Gegebenheiten ausgewiesen würden, die Erfahrung erst möglich machten. Die Gültigkeit der Vernunftprinzipien sei für Kant eine absolute, die völlig unabhängig von den Gesetzlichkeiten der realen, hinter den Erscheinungen stehenden, an sich existierenden Natur zu denken sei und auf keine Weise mit dieser in Verbindung gebracht werden könne.

 

Das Ding an sich sei deshalb grundsätzlich unerkennbar, weil es allein durch die rein idealen Anschauungsformen und Kategorien bestimmt werde, die jedoch nicht dazu geeignet seien, eine Beziehung zu seinem inneren Wesen und zu jener Form herzustellen, in der es unsere Sinnlichkeit affiziere (berühre). Das einzige, was nach Kant vom Ding an sich ausgesagt werden könne, sei die Realität seiner Existenz.

 

Gegen diese idealistische Auffassung stellt Lorenz den Entwicklungsgedanken, der die menschliche Vernunft mit ihren Anschauungsformen und Kategorien ebenso wie das menschliche Gehirn als etwas Organisches betrachte, das in dauernder Wechselwirkung mit der umgebenden Natur entstanden sei. Aus diesem Grund hänge unser Denkapparat, der in äonenlanger Auseinandersetzung mit den Gesetzen der Natur herausdifferenziert worden sei, eng mit diesen Gesetzlichkeiten zusammen.

 

Deshalb dürfe die Lehre von den empirischen Erscheinungen nicht unabhängig von der Lehre des An-sich-Seienden betrieben werden, und Lorenz unternimmt eine Gegenüberstellung von transzendentalem Idealismus und dem biologischen Standpunkt in der „Aprioritätslehre“.

 

Bei seiner Suche nach einer natürlichen Erklärung für die apriorischen Denkformen, die er nicht anzweifelt, kommt Lorenz zu der Hypothese, dass das Apriorische auf stammesgeschichtlich gewordenen, erblichen Differenzierungen des Zentralnervensystems beruhe, die gattungsmäßig erworben seien und die erblichen Dispositionen, in gewissen Formen zu denken, bestimmten.

 

Diese Auffassung des Apriorischen als eines Organs zerstöre allerdings seinen Begriff, da es jetzt a posteriori entstanden sei, wenn auch auf einem anderen Weg als dem der Abstraktion oder der Deduktion aus vorangegangener Erfahrung. Aus dieser begrifflichen Umprägung des Transzendentalen und des An-sich-Seienden sei eine Kluft zwischen Naturforschern und Kant-Philosophen entstanden. Die Grenze des Transzendenten habe ihren festen Ort verloren, seit der „apriorische Apparat“ mit all seinen Anschauungsformen und Kategorien als etwas angesehen werde, das innerhalb der Natur, die er widerspiegele, in engster Wechselwirkung mit ihren Gesetzlichkeiten entstanden sei.

 

Durch den Entwicklungsgedanken ändere sich auch einiges an der Definition von jenem Ding an sich, das hinter den Erscheinungen stecke. Kant habe es als grundsätzlich unerkennbar definiert, da er in seiner völlig statischen Betrachtungsweise nur von einem erwachsenen Kulturmenschen innerhalb eines unveränderlichen, gottgeschaffenen Systems ausgegangen sei.

 

Lorenz dagegen kommt aufgrund seiner vergleichenden Verhaltensforschung bei Tieren zu dem Ergebnis, dass jene Grenze, die das Erfahrbare vom Transzendenten (hinter der Wahrnehmungsgrenze liegenden) abschließe, für jedes Lebewesen eine andere sei. Obwohl auch er sich völlig klar darüber sei, dass das absolut Existente immer nur bis an jene Grenze erkennbar sein werde, die durch die Notwendigkeit kategorialer Denk-Geformtheiten gesetzt sei, bedeute doch die Einbeziehung des rein zufälligen heutigen Ortes dieser Grenze bei der Spezies Mensch in die Definition des An-sich-Seienden einen nicht zu rechtfertigenden Anthropomorphismus (= der Mensch ist das Maß aller Dinge).

 

Wolle man angesichts der evolutiven Veränderlichkeit unseres Erfahrungsapparates das An-sich-Existente weiterhin als das Unerkennbare definieren, so würde hierdurch die Definition des Absoluten relativ gefasst. Vielmehr bedürfe die Naturforschung notwendig eines Begriffs vom absolut Wirklichen, der möglichst wenig anthropomorph und unabhängig von zufälligen heutigen menschlichen Erfahrbarkeitsgrenzen sei.

 

Das absolut Wirkliche könne nicht von der Frage betroffen werden, inwieweit es sich im Hirn eines Lebewesens widerspiegele. Andererseits sei diese Art der Widerspiegelung jedoch Gegenstand der vergleichenden Naturforschung und verspreche die Gewinnung von Anhaltspunkten über Funktionsweise und historisches Entstehen der menschlichen Erkenntnisformen.

 

Das reale Verhältnis zwischen dem Ding an sich und den Formungen unserer Sinnlichkeit müsse vorausgesetzt werden, da diese Formen in der Jahrzehntausende währenden Entwicklungsgeschichte der Menschheit in der Auseinandersetzung mit den täglich begegnenden Gesetzlichkeiten des An-sich-Seienden als eine Anpassung an diese entstanden seien, die unserem Denken angeborenermaßen eine der Realität der Außenwelt weitgehend entsprechende Strukturierung verliehen hätten.

 

Die Anschauungsformen und Kategorien „passten“ so auf das real Existierende wie die Flosse eines Fisches ins Wasser, weil das Apriori die Funktion eines Organes sei, das die Erscheinungsformen der realen Dinge in unserer Welt bestimme. Es beruhe auf zentralnervösen Apparaten, die ebenso real seien wie die Dinge der an sich existierenden Außenwelt, deren Erscheinungsform sie für uns bestimmten. Diese zentralnervöse Apparatur schreibe jedoch keineswegs der Natur ihre Gesetze vor, genauso wenig wie der Huf des Pferdes dem Erdboden seine Form vorschreibe. Und ebenso habe sie ihre arterhaltend zweckmäßige Form in äonenlangem stammesgeschichtlichem Werden durch die Auseinandersetzung von Realem mit Realem gewonnen.

 

Die Auffassung des Verstandes als Organfunktion beantworte auch die Frage Kants, ob nicht die Anschauungsformen von Raum und Zeit, die wir von keiner Erfahrung entlehnten, sondern die in unserer Vorstellung a priori lägen, nicht bloße selbstgemachte Hirngespinste wären, denen gar kein Gegenstand adäquat korrespondierte (Prolegomena 1. Anm. 3).

 

Ganz selbstverständlich seien es irgendwelche Eigenschaften, die dem Ding, das hinter der Erscheinung „Wasser“ stecke, an sich zukämen, die zu der speziellen Anpassungsform der Flossen geführt hätten, die von Fischen, Reptilien, Vögeln, Säugern, Krebsen usw. unabhängig voneinander herausdifferenziert worden seien, und die gleiche Selbstverständlichkeit müsse man für die Struktur und Funktionsweise des Gehirns und ihrer Beziehung zu Eigenschaften der Außenwelt annehmen.

 

Die großartige und grundsätzlich neue Entdeckung Kants bestehe darin, dass das Anschauen und das Denken des Menschen vor jeder individuellen Erfahrung bestimmte funktionale Strukturen besitze. Doch er habe nicht daran gedacht, dass es auch andere Entstehungsweisen einer formalen Passung zwischen Denkform und Wirklichkeit geben könne als die durch Abstraktion aus vorangegangener Erfahrung.

 

Dagegen glaubt Lorenz eine enge funktionelle und ursächliche Verwandtschaft zwischen tierischen und menschlichen Aprioris aufzeigen zu können. Er ist mit Kant der Ansicht, dass eine reine, von jeder Erfahrung unabhängige Wissenschaft von den angeborenen Denkformen des Menschen möglich sei. Diese „reine“ Wissenschaft werde aber nur ein sehr einseitiges Verständnis für das eigentliche Wesen apriorischer Denkformen vermitteln können, weil sie den Organcharakter dieser Strukturen vernachlässige und die konstituierende biologische Frage nach ihrem arterhaltenden Sinn gar nicht stelle.

 

Doch wir lebten ja von den Gesetzlichkeiten unseres Verstandes und der Vernunft, deshalb könnten wir ihren eigentlichen Sinn nur bei Inbetrachtziehung ihrer Funktion einsehen, die aus der Auseinandersetzung mit dem An-Sich der Dinge zu ihrer relativen Vollkommenheit gelange.

 

Andererseits affiziere nicht nur das Ding an sich unsere Rezeptoren (Aufnahmeorgane), sondern ebenso wirkten unsere „Effektoren“ ihrerseits auf die absolute Realität. Was wir als Erfahrung erlebten, sei stets eine Auseinandersetzung von Realem in uns mit Realem außer uns. Das Verhältnis sei das gleiche wie das zwischen Bild und Gegenstand, zwischen Modell und wirklichem Sachverhalt: eine Analogie.

 

Der Grad dieser Analogie sei grundsätzlich erforschbar und Aussagen darüber möglich, ob die Entsprechung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit von Lebewesen zu Lebewesen genauer oder ungenauer sei. Die Beziehung zwischen der Erscheinungswelt und dem An-Sich der Dinge sei also nicht durch ideale Formgesetze in grundsätzlich unerforschbarer Weise festgelegt, noch weniger komme den aufgrund dieser „Denknotwendigkeiten“ gefällten Urteilen eine absolute Gültigkeit zu.

 

Vielmehr seien alle unsere Anschauungsformen und Kategorien natürliche und stammesgeschichtlich gewordene Gefäße zur Aufnahme und rückwirkenden Verarbeitung jener gesetzmäßigen Auswirkungen des An-sich-Seienden, mit denen wir uns auseinandersetzen müssten, wenn wir leben bleiben und unsere Art erhalten wollten.

 

Lorenz gibt zu, dass Naturwissenschaftler in gewissem Sinne naive Realisten seien, doch hielten sie keineswegs die Erscheinung für das Ding an sich und die empirische Realität für das absolut Existente. Denn die Gesetze der „reinen Vernunft“ verwickelten sich in die schwersten Widersprüche, sobald die Forschung eine größere Genauigkeit erfordere, wie es in der Atomphysik und -chemie der Fall sei. Hier versage nicht nur die Anschauungsform des Raumes, sondern auch die Kategorien der Kausalität und der Substantialität.

 

Aus diesem Grund möchte er die Kategorien trotz ihrer ungefähren und relativen Gültigkeit als Arbeitshypothesen betrachten, die sich in der Auseinandersetzung unserer Art mit der absoluten Realität ihres Lebensraumes bewährt hätten. Obwohl sie in der modernen Wissenschaft versagten, hätten sie doch in den biologisch-praktischen Belangen des Arterhaltungskampfes durchaus ihre Berechtigung.

 

Gerade die unvermeidliche Unvollkommenheit dieses natürlichen Systems sei aber „die Tür, durch die das An-Sich der Dinge in unsere Erscheinungswelt hereinlugt, die Tür, durch die der Weg der Erkenntnis weiterführt: Wirklichkeit!“ (Wuketits). Alles sei Arbeitshypothese, nicht nur die Naturgesetze, die wir durch individuell-menschliche Abstraktion a posteriori aus den Tatsachen unserer Erfahrung gewännen, sondern auch die Gesetzlichkeiten der reinen Vernunft. Aber wenn auch nichts absolut wahr sei, so sei doch jede Erkenntnis ein Schritt vorwärts: Das absolut Existente werde durch sie stets von einer neuen Seite her gefasst.

 

Die Auffassung der apriorischen Anschauungs- und Denkformen als ererbte Arbeitshypothesen vernichte zwar den Glauben an die absolute Wahrheit eines a priori denknotwendigen Satzes, sie verleihe aber andererseits die Überzeugung, dass jeder Erscheinung unserer Welt etwas Wirkliches adäquat korrespondiere.

 

Sie seien das Spiegelbild einer realen Gegebenheit und grundsätzlich der Forschung zugänglich, wenn wir auch das An-Sich der Dinge nicht anders als durch diese unvollkommenen „Schachteln“ erfassen könnten. Doch die Erfassbarkeit der Gesetzlichkeiten des Instruments machten durch es hindurch auch das An-sich-Seiende relativ erfahrbar.

 

Bei der Erforschung des Apriorischen bei untermenschlichen Organismen, deren Entsprechung zu den an sich zukommenden Eigenschaften der Dinge geringer sei als die des Menschen, liege die Grenze ihrer Leistung noch innerhalb des Messbereichs der eigenen menschlichen Aufnahmeapparatur und müsse durch geduldige, empirische Forschungsarbeit erhellt werden.

 

Durch eine solche vergleichende Forschung der hinter den Erscheinungen steckenden, allen Organismen gleichermaßen zugeordneten einzigen und wirklichen Welt könne eine Annäherung an diese erreicht werden, da unterschiedliche apriorische Geformtheiten möglichen Reagierens und somit möglicher Erfahrung dieselbe Gesetzlichkeit des real Existenten erfahrbar machten und arterhaltend beherrschten.

 

Die Kategorie der Kausalität könnten wir heute nur erkenntnistheoretisch untersuchen, da wir von ihren physiologischen Grundlagen keine Ahnung hätten. Das kausale Denken sei jedoch wie die Disposition zum Assoziieren nur ein Organ zur Auseinandersetzung mit derselben realen Gegebenheit. Der Organismus lerne, dass ein bestimmter Reiz, wie etwa das Erscheinen des Pflegers, einem biologisch relevanten Erlebnis, etwa der Fütterung, immer vorangehe. Er assoziiere diese beiden Ereignisse, als ob das erste ein Signal für das sichere Eintreten des zweiten wäre.

 

In der Natur komme aber ein gesetzmäßiges zeitliches Nacheinander von verschiedenen Geschehnissen immer nur dort vor, wo ein bestimmtes Energiequantum durch Kraftverwandlung hintereinander in verschiedenen Erscheinungsformen auftrete. Lorenz führt den Begriff von Ursache und Wirkung auf die Feststellung zurück, dass die Wirkung von der Ursache her in irgend einer Form Energie beziehe. Ursache und Wirkung seien aufeinanderfolgende Glieder in der unendlichen Kette von Erscheinungsformen, welche die Energie im Laufe ihrer unvergänglichen Existenz annehme.

 

Nähme man die Kategorie der Kausalität als eine sekundäre Abstraktion aus vorangegangener Erfahrung, gelangte man immer nur zu der Definition eines „regelmäßigen post hoc“, nie jedoch zu jener hoch spezifischen Qualität, die wesenhaft in der „Warum-Frage“ stecke. Deshalb sei Kausalität tatsächlich a priori etwas anderes als die Aufeinanderfolge zweier Geschehnisse, und unser kausales Denken sei dazu da, dem realen Zusammenhang der Dinge um einen Schritt näher zu kommen, da die heutige Menschheit von dieser angeborenen Funktion lebe.

 

Die Räumlichkeit werde in der primitiveren Wiedergabe der Wasserspitzmaus zum Beispiel nur durch ein perlschnurartiges Aufgefädeltsein der Orte und Bewegungsteile repräsentiert, das anhand der Disposition zum Assoziieren durch ein kinästhetisches Auswendiglernen von Wegen hervorgerufen werde. Auf diese Weise seien Umwege für das Tier unvermeidlich, denn es sei nicht in der Lage, Abkürzungen zu erkennen. Trotzdem spiegele sich auch schon in den primitivsten „Rastern“ organismischer Weltbildapparaturen Wirkliches wider.

 

In der Naturforschung benutzten Menschen sehr verschieden funktionierende derartige Apparate nebeneinander. Kausalität werde durch Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen und arithmetische Berechnungen ersetzt, so dass aus dem sinnlich-anschaulichen Phänomen des Lichtes beispielsweise völlig unanschauliche Vorstellungen von Wellenvorgängen würden. Deshalb hätten die Fortschritte der Naturforschung immer eine gewisse Tendenz zur Ent-Anthropomorphisierung unseres Weltbildes.

 

Trotzdem komme allen mathematischen Betrachtungen der theoretischen Naturwissenschaft keineswegs ein höherer Grad der Wirklichkeit, also der Annäherung an das An-Sich der Dinge zu, als den naiv anschaulichen. Die primitivere Wiedergabe stehe zum absolut Existenten in einer durchaus ebenso realen Beziehung wie die höhere. Der Fortschritt vom Einfacheren zum Differenzierteren liege nur darin, dass weitere Bestimmungen zu den bereits vorhandenen hinzukämen. Es liege nur ein Standpunktwechsel, nicht aber eine Annäherung an das absolut Existente vor.

 

Lorenz kritisiert an Kants „großartiger Konzeption“ letztlich nur, dass dieser sie an die starr-maschinellen Gesetzlichkeiten der reinen Vernunft gefesselt habe. Er betont jedoch, dass er mit dieser Kritik den Wert seiner Entdeckung ebenso wenig herabsetzen wolle wie den des Entdeckers selbst.

 

Seiner Auffassung nach seien aber gerade das Apriorische und die vorgeformten Denkweisen nicht das spezifisch Menschliche. Spezifisch menschlich sei dagegen der bewusste Drang, sich nicht festzufahren, sondern die jugendliche Weltoffenheit als Dauerzustand zu bewahren und in dauernder Wechselwirkung mit dem wirklich Existenten diesem Wirklichen näher zu kommen.

 

Die Absolutsetzung des Menschen, nach der alle denkbaren vernünftigen Wesen an die Denkgesetze von Homo sapiens gebunden seien, erscheine ihm als eine unbegreifliche Überheblichkeit. Dagegen sei er überzeugt, dass der Mensch in seinem Forschen grundsätzlich fähig sei, über die apriorischen Geformtheiten seines Denkens hinauszuwachsen und grundsätzlich Neues, Nie-Dagewesenes zu schaffen und zu erkennen, wenn er nicht von dem Willen beseelt bleibe, jeden neuen Gedanken von der Hülle der sich um ihn kristallisierenden Gesetze erdrücken zu lassen.

 

Trotz dieser Kritik an Kants erkenntnistheoretischem System werde es von den Evolutionstheoretikern als eines der geschlossensten philosophischen Systeme betrachtet, die je erdacht worden sind, und als Grundlage für ihre empirische Erforschung der „angeborenen“ Erkenntniskategorien angesehen. Mit dem Hinweis auf das historische Gewordensein der von Kant postulierten Kategorien wolle sich die Evolutionäre Erkenntnistheorie auch philosophisch etablieren, indem sie Kants Transzendentalphilosophie, die nur einen augenblicklichen Zustand des Erkenntnisvermögens beschreibe, um den Aspekt seiner Entwicklung vervollständige.

 

Während Lorenz die evolutionäre Erkenntnistheorie auf dem Fundament der vergleichenden Verhaltensforschung zu einem umfassenden Gedankengebäude zusammensetzte, führte Karl Popper gleichzeitig und unabhängig von Lorenz seitens der Wissenschaftstheorie die evolutionäre Betrachtungsweise der Erkenntnis in die Philosophie ein. Durch Popper wird die Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher Hypothesen und Theorien ebenfalls als ein evolutionäres Modell dargelegt, wonach unser Wissen das Resultat von Selektionsprozessen sei und, ähnlich wie in der Evolution der Organismen, gewissen Auswahlprozessen unterliege.

 

 

Birgit Sonnek

 

November 2003

 

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