In seiner Transzendentalphilosophie postulierte Kant, dass eine Erkenntnis der "Dinge an sich" prinzipiell nicht möglich sei, da wir sie nur durch die Brille unserer Erkenntnis-Kategorien betrachten könnten, aber keinen Zugriff auf die reale Welt hätten. Die Kategorien unserer Wahrnehmung seien "apriori" vor jeder Erfahrung da und beeinflussten konstitutiv unsere Sicht der Dinge. Unter dieser Prämisse formulierte er die Möglichkeiten einer Naturwissenschaft neu: „In der Erkenntnis schreiben wir der Natur ihre Gesetze vor.“
Dagegen meint Konrad Lorenz, dass die reale Welt unsere
Wahrnehmungs-Kategorien erst geformt habe und deshalb adäquat in unserer
Vorstellung abgebildet werden müsse. Kants Postulate seien durch die neuere
Entwicklung der Naturwissenschaft als Voraussetzung für diese teilweise in
Frage gestellt worden. So werde z.B. im Bereich der Wahrnehmungspsychologie
durch die Theorie der ganzheitlichen Gestaltwahrnehmung eine Anschauung von
Gegenständen vorausgesetzt, die sich nicht
als Summe von Teilwahrnehmungen konstituiere, wie Kant es in seiner transzendentalen
Analytik dargestellt habe.
Die nicht-euklidsche Geometrie gehe von gekrümmten Räumen aus,
und in der Relativitätstheorie werde die Zeit als abhängig von der
Geschwindigkeit der Objekte ermittelt. Ein gekrümmter Raum und eine relative
Zeit seien aber nicht mehr anschaulich und ließen auf eine von der menschlichen
Erkenntnisfähigkeit unabhängige Existenz des Raumes und der Zeit schließen. Sie
seien damit nicht mehr ausschließlich als denknotwendige Anschauungsformen a
priori aufzufassen, sondern würden zu Gegenständen der Physik, die eine
denk-unabhängige Realität voraussetze.
Lorenz geht stellvertretend für die neuen Sichtweisen auf
eine spezielle Theorie ein, die sich nicht als Kritik, sondern als Erweiterung
des transzendentalen Konzepts betrachte: die Evolutionäre Erkenntnistheorie.
Ihr Anliegen sei die Klärung stammesgeschichtlicher Bedingungen des
menschlichen Erkennens und Denkens.
Diese Konzeption sei der biologischen Evolutionstheorie
entsprungen, und demzufolge treffe sie eine Unterscheidung zwischen der Ebene
der philosophischen Erkenntnistheorie, die menschliches Erkennen bereits voraussetze, und der Ebene einer
Biologie der Erkenntnis, die diese Voraussetzungen untersuche. In diesem Sinne
suche sie das apriorische Erkenntnisvermögen als ein evolutives, in der
Stammesgeschichte unserer Spezies herausgebildetes Aposteriori zu erklären.
Darwins Gedanke, dass die heutigen Lebewesen einschließlich
des Menschen von früheren Lebensformen abgeleitet werden könnten, sei
inzwischen zum wissenschaftlichen Bestandteil biologischer Lehrbücher geworden.
Darwin habe darüber hinaus vermutet, dass auch die „Vernunftqualitäten“ des
Menschen als Ergebnisse der Evolution anzusehen seien. Aus dieser evolutionären
Betrachtung psychischer und geistiger Aktivitäten ergebe sich heute die These,
dass mentales Erleben nicht auf den Menschen beschränkt und das Denken ein
körperlicher Prozess sei, der als biologische Funktion der Evolution
unterworfen sei.
Der Evolutionstheoretiker Wuketits unterscheidet darüber
hinaus zwischen psychischen und geistigen Fähigkeiten, indem er feststellt,
dass psychische Phänomene allen Organismen eigen seien, doch allein der Mensch
durch das Vermögen eines selbstreflexiven Bewusstseins geistige Leistungen
vollbringen könne. Diese Funktionen seien jedoch nur auf der Grundlage
biologischer Strukturentwicklungen möglich, und die Bio-Evolution sei die
unabdingbare Voraussetzung für die psychische und geistige Evolution.
Eine Hauptleistung des evolutionären Ansatzes besteht nach
Lorenz in der „Ent-anthropomorphisierung“ menschlicher Weltvorstellungen. Die
Evolutionäre Erkenntnistheorie werde aber nicht als ein Konkurrenzunternehmen
zur philosophischen Erkenntnistheorie verstanden, sondern sie wolle durch eine
Relativierung des Erkenntnisbegriffs eine breitere Basis für eine „reine“
Erkenntnistheorie schaffen.
Lorenz weist den Weg zu einer solchen Relativierung, indem
er die Aprioris (angeboren) menschlicher Erkenntnis als Aposterioris (erworben)
der Evolution zu erklären versucht. Er setzt dabei voraus, dass alle Lebewesen
mit angeborenen Strukturen ausgestattet sind als Dispositionen, die erst
individuelle Lernleistungen ermöglichen, und dass diese angeborenen Strukturen
ihrerseits Produkte der Evolution sind, Ergebnisse einer natürlichen Auslese.
Diese angeborenen Dispositionen seien für jeden
individuellen Organismus zwar a priori gegeben, aber sie hätten sich in der
jeweiligen Gattung erst allmählich als ein Selektionsvorteil entwickelt. Damit
werde die biologische Bedingtheit des Geistigen einer dynamischen
Betrachtungsweise zugänglich.
In seinem Aufsatz „Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte
gegenwärtiger Biologie“ kritisiert Lorenz, dass die Anschauungsformen des
Raumes und der Zeit sowie die Kategorie der Kausalität und die anderen
Kategorien durch Kant ausschließlich als apriorische Gegebenheiten ausgewiesen
würden, die Erfahrung erst möglich machten. Die Gültigkeit der
Vernunftprinzipien sei für Kant eine absolute, die völlig unabhängig von den
Gesetzlichkeiten der realen, hinter den Erscheinungen stehenden, an sich
existierenden Natur zu denken sei und auf keine Weise mit dieser in Verbindung
gebracht werden könne.
Das Ding an sich sei deshalb grundsätzlich unerkennbar, weil
es allein durch die rein idealen Anschauungsformen und Kategorien bestimmt
werde, die jedoch nicht dazu geeignet seien, eine Beziehung zu seinem inneren Wesen
und zu jener Form herzustellen, in der es unsere Sinnlichkeit affiziere
(berühre). Das einzige, was nach Kant vom Ding an sich ausgesagt werden könne,
sei die Realität seiner Existenz.
Gegen diese idealistische Auffassung stellt Lorenz den
Entwicklungsgedanken, der die menschliche Vernunft mit ihren Anschauungsformen
und Kategorien ebenso wie das menschliche Gehirn als etwas Organisches
betrachte, das in dauernder Wechselwirkung mit der umgebenden Natur entstanden
sei. Aus diesem Grund hänge unser Denkapparat, der in äonenlanger
Auseinandersetzung mit den Gesetzen der Natur herausdifferenziert worden sei,
eng mit diesen Gesetzlichkeiten zusammen.
Deshalb dürfe die Lehre von den empirischen Erscheinungen
nicht unabhängig von der Lehre des An-sich-Seienden betrieben werden, und
Lorenz unternimmt eine Gegenüberstellung von transzendentalem Idealismus und
dem biologischen Standpunkt in der „Aprioritätslehre“.
Bei seiner Suche nach einer natürlichen Erklärung für die
apriorischen Denkformen, die er nicht anzweifelt, kommt Lorenz zu der
Hypothese, dass das Apriorische auf stammesgeschichtlich gewordenen, erblichen
Differenzierungen des Zentralnervensystems beruhe, die gattungsmäßig erworben
seien und die erblichen Dispositionen, in gewissen Formen zu denken,
bestimmten.
Diese Auffassung des Apriorischen als eines Organs zerstöre
allerdings seinen Begriff, da es jetzt a posteriori entstanden sei, wenn auch
auf einem anderen Weg als dem der Abstraktion oder der Deduktion aus vorangegangener
Erfahrung. Aus dieser begrifflichen Umprägung des Transzendentalen und des
An-sich-Seienden sei eine Kluft zwischen Naturforschern und Kant-Philosophen
entstanden. Die Grenze des Transzendenten habe ihren festen Ort verloren, seit
der „apriorische Apparat“ mit all seinen Anschauungsformen und Kategorien als
etwas angesehen werde, das innerhalb der Natur, die er widerspiegele, in
engster Wechselwirkung mit ihren Gesetzlichkeiten entstanden sei.
Durch den Entwicklungsgedanken ändere sich auch einiges an
der Definition von jenem Ding an sich, das hinter den Erscheinungen stecke.
Kant habe es als grundsätzlich unerkennbar definiert, da er in seiner völlig
statischen Betrachtungsweise nur von einem erwachsenen Kulturmenschen innerhalb
eines unveränderlichen, gottgeschaffenen Systems ausgegangen sei.
Lorenz dagegen kommt aufgrund seiner vergleichenden
Verhaltensforschung bei Tieren zu dem Ergebnis, dass jene Grenze, die das Erfahrbare
vom Transzendenten (hinter der Wahrnehmungsgrenze liegenden) abschließe, für
jedes Lebewesen eine andere sei. Obwohl auch er sich völlig klar darüber sei,
dass das absolut Existente immer nur bis an jene Grenze erkennbar sein werde,
die durch die Notwendigkeit kategorialer Denk-Geformtheiten gesetzt sei,
bedeute doch die Einbeziehung des rein zufälligen heutigen Ortes dieser Grenze
bei der Spezies Mensch in die Definition des An-sich-Seienden einen nicht zu
rechtfertigenden Anthropomorphismus (= der Mensch ist das Maß aller Dinge).
Wolle man angesichts der evolutiven Veränderlichkeit unseres
Erfahrungsapparates das An-sich-Existente weiterhin als das Unerkennbare
definieren, so würde hierdurch die Definition des Absoluten relativ gefasst.
Vielmehr bedürfe die Naturforschung notwendig eines Begriffs vom absolut
Wirklichen, der möglichst wenig anthropomorph und unabhängig von zufälligen
heutigen menschlichen Erfahrbarkeitsgrenzen sei.
Das absolut Wirkliche könne nicht von der Frage betroffen
werden, inwieweit es sich im Hirn eines Lebewesens widerspiegele. Andererseits
sei diese Art der Widerspiegelung jedoch Gegenstand der vergleichenden
Naturforschung und verspreche die Gewinnung von Anhaltspunkten über
Funktionsweise und historisches Entstehen der menschlichen Erkenntnisformen.
Das reale Verhältnis zwischen dem Ding an sich und den
Formungen unserer Sinnlichkeit müsse vorausgesetzt werden, da diese Formen in
der Jahrzehntausende währenden Entwicklungsgeschichte der Menschheit in der
Auseinandersetzung mit den täglich begegnenden Gesetzlichkeiten des
An-sich-Seienden als eine Anpassung an diese entstanden seien, die unserem
Denken angeborenermaßen eine der Realität der Außenwelt weitgehend
entsprechende Strukturierung verliehen hätten.
Die Anschauungsformen und Kategorien „passten“ so auf das
real Existierende wie die Flosse eines Fisches ins Wasser, weil das Apriori die
Funktion eines Organes sei, das die Erscheinungsformen der realen Dinge in
unserer Welt bestimme. Es beruhe auf zentralnervösen Apparaten, die ebenso real
seien wie die Dinge der an sich existierenden Außenwelt, deren Erscheinungsform
sie für uns bestimmten. Diese zentralnervöse Apparatur schreibe jedoch
keineswegs der Natur ihre Gesetze vor, genauso wenig wie der Huf des Pferdes
dem Erdboden seine Form vorschreibe. Und ebenso habe sie ihre arterhaltend
zweckmäßige Form in äonenlangem stammesgeschichtlichem Werden durch die
Auseinandersetzung von Realem mit Realem gewonnen.
Die Auffassung des Verstandes als Organfunktion beantworte
auch die Frage Kants, ob nicht die Anschauungsformen von Raum und Zeit, die wir
von keiner Erfahrung entlehnten, sondern die in unserer Vorstellung a priori
lägen, nicht bloße selbstgemachte Hirngespinste wären, denen gar kein
Gegenstand adäquat korrespondierte (Prolegomena 1. Anm. 3).
Ganz selbstverständlich seien es irgendwelche Eigenschaften,
die dem Ding, das hinter der Erscheinung „Wasser“ stecke, an sich zukämen, die
zu der speziellen Anpassungsform der Flossen geführt hätten, die von Fischen,
Reptilien, Vögeln, Säugern, Krebsen usw. unabhängig voneinander
herausdifferenziert worden seien, und die gleiche Selbstverständlichkeit müsse
man für die Struktur und Funktionsweise des Gehirns und ihrer Beziehung zu
Eigenschaften der Außenwelt annehmen.
Die großartige und grundsätzlich neue Entdeckung Kants
bestehe darin, dass das Anschauen und das Denken des Menschen vor jeder
individuellen Erfahrung bestimmte funktionale Strukturen besitze. Doch er habe
nicht daran gedacht, dass es auch andere Entstehungsweisen einer formalen
Passung zwischen Denkform und Wirklichkeit geben könne als die durch
Abstraktion aus vorangegangener Erfahrung.
Dagegen glaubt Lorenz eine enge funktionelle und ursächliche
Verwandtschaft zwischen tierischen und menschlichen Aprioris aufzeigen zu können.
Er ist mit Kant der Ansicht, dass eine reine, von jeder Erfahrung unabhängige
Wissenschaft von den angeborenen Denkformen des Menschen möglich sei. Diese
„reine“ Wissenschaft werde aber nur ein sehr einseitiges Verständnis für das
eigentliche Wesen apriorischer Denkformen vermitteln können, weil sie den
Organcharakter dieser Strukturen vernachlässige und die konstituierende
biologische Frage nach ihrem arterhaltenden Sinn gar nicht stelle.
Doch wir lebten
ja von den Gesetzlichkeiten unseres Verstandes und der Vernunft, deshalb
könnten wir ihren eigentlichen Sinn nur bei Inbetrachtziehung ihrer Funktion
einsehen, die aus der Auseinandersetzung mit dem An-Sich der Dinge zu ihrer
relativen Vollkommenheit gelange.
Andererseits affiziere nicht nur das Ding an sich unsere
Rezeptoren (Aufnahmeorgane), sondern ebenso wirkten unsere „Effektoren“ ihrerseits
auf die absolute Realität. Was wir als Erfahrung erlebten, sei stets eine
Auseinandersetzung von Realem in uns mit Realem außer uns. Das Verhältnis sei
das gleiche wie das zwischen Bild und Gegenstand, zwischen Modell und
wirklichem Sachverhalt: eine Analogie.
Der Grad dieser Analogie sei grundsätzlich erforschbar und
Aussagen darüber möglich, ob die Entsprechung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit
von Lebewesen zu Lebewesen genauer oder ungenauer sei. Die Beziehung zwischen
der Erscheinungswelt und dem An-Sich der Dinge sei also nicht durch ideale Formgesetze in grundsätzlich unerforschbarer
Weise festgelegt, noch weniger komme den aufgrund dieser „Denknotwendigkeiten“
gefällten Urteilen eine absolute Gültigkeit zu.
Vielmehr seien alle unsere Anschauungsformen und Kategorien
natürliche und stammesgeschichtlich gewordene Gefäße zur Aufnahme und
rückwirkenden Verarbeitung jener gesetzmäßigen Auswirkungen des
An-sich-Seienden, mit denen wir uns auseinandersetzen müssten, wenn wir leben
bleiben und unsere Art erhalten wollten.
Lorenz gibt zu, dass Naturwissenschaftler in gewissem Sinne
naive Realisten seien, doch hielten sie keineswegs die Erscheinung für das Ding
an sich und die empirische Realität für das absolut Existente. Denn die Gesetze
der „reinen Vernunft“ verwickelten sich in die schwersten Widersprüche, sobald
die Forschung eine größere Genauigkeit erfordere, wie es in der Atomphysik und
-chemie der Fall sei. Hier versage nicht nur die Anschauungsform des Raumes,
sondern auch die Kategorien der Kausalität und der Substantialität.
Aus diesem Grund möchte er die Kategorien trotz ihrer
ungefähren und relativen Gültigkeit als Arbeitshypothesen betrachten, die sich
in der Auseinandersetzung unserer Art mit der absoluten Realität ihres Lebensraumes
bewährt hätten. Obwohl sie in der modernen Wissenschaft versagten, hätten sie
doch in den biologisch-praktischen Belangen des Arterhaltungskampfes durchaus
ihre Berechtigung.
Gerade die unvermeidliche Unvollkommenheit dieses
natürlichen Systems sei aber „die Tür, durch die das An-Sich der Dinge in
unsere Erscheinungswelt hereinlugt, die Tür, durch die der Weg der Erkenntnis
weiterführt: Wirklichkeit!“ (Wuketits). Alles sei Arbeitshypothese, nicht nur
die Naturgesetze, die wir durch individuell-menschliche Abstraktion a
posteriori aus den Tatsachen unserer Erfahrung gewännen, sondern auch die
Gesetzlichkeiten der reinen Vernunft. Aber wenn auch nichts absolut wahr sei,
so sei doch jede Erkenntnis ein Schritt vorwärts: Das absolut Existente werde
durch sie stets von einer neuen Seite her gefasst.
Die Auffassung der apriorischen Anschauungs- und Denkformen
als ererbte Arbeitshypothesen vernichte zwar den Glauben an die absolute
Wahrheit eines a priori denknotwendigen Satzes, sie verleihe aber andererseits
die Überzeugung, dass jeder Erscheinung unserer Welt etwas Wirkliches adäquat
korrespondiere.
Sie seien das Spiegelbild einer realen Gegebenheit und
grundsätzlich der Forschung zugänglich, wenn wir auch das An-Sich der Dinge
nicht anders als durch diese unvollkommenen „Schachteln“ erfassen könnten. Doch
die Erfassbarkeit der Gesetzlichkeiten des Instruments machten durch es
hindurch auch das An-sich-Seiende relativ erfahrbar.
Bei der Erforschung des Apriorischen bei untermenschlichen
Organismen, deren Entsprechung zu den an sich zukommenden Eigenschaften der
Dinge geringer sei als die des Menschen, liege die Grenze ihrer Leistung noch
innerhalb des Messbereichs der eigenen menschlichen Aufnahmeapparatur und müsse
durch geduldige, empirische Forschungsarbeit erhellt werden.
Durch eine solche vergleichende Forschung der hinter den
Erscheinungen steckenden, allen Organismen gleichermaßen zugeordneten einzigen
und wirklichen Welt könne eine Annäherung an diese erreicht werden, da
unterschiedliche apriorische Geformtheiten möglichen Reagierens und somit
möglicher Erfahrung dieselbe Gesetzlichkeit des real Existenten erfahrbar
machten und arterhaltend beherrschten.
Die Kategorie der Kausalität könnten wir heute nur
erkenntnistheoretisch untersuchen, da wir von ihren physiologischen Grundlagen
keine Ahnung hätten. Das kausale Denken sei jedoch wie die Disposition zum
Assoziieren nur ein Organ zur Auseinandersetzung mit derselben realen
Gegebenheit. Der Organismus lerne, dass ein bestimmter Reiz, wie etwa das
Erscheinen des Pflegers, einem biologisch relevanten Erlebnis, etwa der
Fütterung, immer vorangehe. Er assoziiere diese beiden Ereignisse, als ob das
erste ein Signal für das sichere Eintreten des zweiten wäre.
In der Natur komme aber ein gesetzmäßiges zeitliches Nacheinander
von verschiedenen Geschehnissen immer nur dort vor, wo ein bestimmtes
Energiequantum durch Kraftverwandlung hintereinander in verschiedenen
Erscheinungsformen auftrete. Lorenz führt den Begriff von Ursache und Wirkung
auf die Feststellung zurück, dass die Wirkung von der Ursache her in irgend
einer Form Energie beziehe. Ursache und Wirkung seien aufeinanderfolgende
Glieder in der unendlichen Kette von Erscheinungsformen, welche die Energie im
Laufe ihrer unvergänglichen Existenz annehme.
Nähme man die Kategorie der Kausalität als eine sekundäre
Abstraktion aus vorangegangener Erfahrung, gelangte man immer nur zu der Definition
eines „regelmäßigen post hoc“, nie jedoch zu jener hoch spezifischen Qualität,
die wesenhaft in der „Warum-Frage“ stecke. Deshalb sei Kausalität tatsächlich a
priori etwas anderes als die Aufeinanderfolge zweier Geschehnisse, und unser
kausales Denken sei dazu da, dem realen Zusammenhang der Dinge um einen Schritt
näher zu kommen, da die heutige Menschheit von dieser angeborenen Funktion
lebe.
Die Räumlichkeit werde in der primitiveren Wiedergabe der
Wasserspitzmaus zum Beispiel nur durch ein perlschnurartiges Aufgefädeltsein
der Orte und Bewegungsteile repräsentiert, das anhand der Disposition zum
Assoziieren durch ein kinästhetisches Auswendiglernen von Wegen hervorgerufen
werde. Auf diese Weise seien Umwege für das Tier unvermeidlich, denn es sei
nicht in der Lage, Abkürzungen zu erkennen. Trotzdem spiegele sich auch schon
in den primitivsten „Rastern“ organismischer Weltbildapparaturen Wirkliches
wider.
In der Naturforschung benutzten Menschen sehr verschieden
funktionierende derartige Apparate nebeneinander. Kausalität werde durch Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen
und arithmetische Berechnungen ersetzt, so dass aus dem sinnlich-anschaulichen
Phänomen des Lichtes beispielsweise völlig unanschauliche Vorstellungen von
Wellenvorgängen würden. Deshalb hätten die Fortschritte der Naturforschung
immer eine gewisse Tendenz zur Ent-Anthropomorphisierung unseres Weltbildes.
Trotzdem komme allen mathematischen Betrachtungen der
theoretischen Naturwissenschaft keineswegs ein höherer Grad der Wirklichkeit,
also der Annäherung an das An-Sich der Dinge zu, als den naiv anschaulichen.
Die primitivere Wiedergabe stehe zum absolut Existenten in einer durchaus
ebenso realen Beziehung wie die höhere. Der Fortschritt vom Einfacheren zum
Differenzierteren liege nur darin, dass weitere Bestimmungen zu den bereits
vorhandenen hinzukämen. Es liege nur ein Standpunktwechsel, nicht aber eine
Annäherung an das absolut Existente vor.
Lorenz kritisiert an Kants „großartiger Konzeption“
letztlich nur, dass dieser sie an die starr-maschinellen Gesetzlichkeiten der
reinen Vernunft gefesselt habe. Er betont jedoch, dass er mit dieser Kritik den
Wert seiner Entdeckung ebenso wenig herabsetzen wolle wie den des Entdeckers
selbst.
Seiner Auffassung nach seien aber gerade das Apriorische und
die vorgeformten Denkweisen nicht das
spezifisch Menschliche. Spezifisch menschlich sei dagegen der bewusste Drang,
sich nicht festzufahren, sondern die jugendliche Weltoffenheit als Dauerzustand
zu bewahren und in dauernder Wechselwirkung mit dem wirklich Existenten diesem
Wirklichen näher zu kommen.
Die Absolutsetzung des Menschen, nach der alle denkbaren
vernünftigen Wesen an die Denkgesetze von Homo sapiens gebunden seien, erscheine
ihm als eine unbegreifliche Überheblichkeit. Dagegen sei er überzeugt, dass der
Mensch in seinem Forschen grundsätzlich fähig sei, über die apriorischen
Geformtheiten seines Denkens hinauszuwachsen und grundsätzlich Neues,
Nie-Dagewesenes zu schaffen und zu erkennen, wenn er nicht von dem Willen
beseelt bleibe, jeden neuen Gedanken von der Hülle der sich um ihn
kristallisierenden Gesetze erdrücken zu lassen.
Trotz dieser Kritik an Kants erkenntnistheoretischem System
werde es von den Evolutionstheoretikern als eines der geschlossensten philosophischen
Systeme betrachtet, die je erdacht worden sind, und als Grundlage für ihre
empirische Erforschung der „angeborenen“ Erkenntniskategorien angesehen. Mit
dem Hinweis auf das historische Gewordensein der von Kant postulierten
Kategorien wolle sich die Evolutionäre Erkenntnistheorie auch philosophisch
etablieren, indem sie Kants Transzendentalphilosophie, die nur einen
augenblicklichen Zustand des Erkenntnisvermögens beschreibe, um den Aspekt
seiner Entwicklung vervollständige.
Während Lorenz die evolutionäre Erkenntnistheorie auf dem Fundament der vergleichenden Verhaltensforschung zu einem umfassenden Gedankengebäude zusammensetzte, führte Karl Popper gleichzeitig und unabhängig von Lorenz seitens der Wissenschaftstheorie die evolutionäre Betrachtungsweise der Erkenntnis in die Philosophie ein. Durch Popper wird die Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher Hypothesen und Theorien ebenfalls als ein evolutionäres Modell dargelegt, wonach unser Wissen das Resultat von Selektionsprozessen sei und, ähnlich wie in der Evolution der Organismen, gewissen Auswahlprozessen unterliege.
November 2003
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