Prigogine, Ilya: Vom Sein zum Werden (Die CHAOSTHEORIE)

(Fraktale: gleiche Strukturen in materiellen und geistigen Systemen)

 

Der Chemiker Ilya Prigogine entdeckte Entstehungsprinzpien im chemischen Milieu, die sich auf lebendige Systeme und Bewusstseinsbildung übertragen ließen. In allen offenen Systemen, vom Wetter über die Evolution bis hin zur wissenschaftlichen Theoriebildung, scheint die Entwicklung nach ähnlichen Mustern abzulaufen, die er Fraktale nennt. Die Entstehung von Ordnung sieht Prigogine als eine physikalische Notwendigkeit an.

 

In der Physik besagt der zweite Hauptsatz der Thermodynamik: Die Entropie (Unordnung) eines abgeschlossenen Systems nimmt mit der Zeit zu. Nach diesem physikalischen Prinzip müsste die universelle Organisation notwendigerweise mehr und mehr zusammenbrechen. Sie müsste sich im passiven Chaos verlieren und im Wärmetod zugrunde gehen. Doch die Evolution zeige, im Gegenteil, eine Zunahme an Komplexität im Universum, wodurch sich Leben und Geist entwickle. Fazit: Bei der Evolution handele es sich um ein offenes System.

 

Alle offenen Systeme besäßen eine fraktale Natur (Selbstähnlichkeiten). Auf verschiedenen Schalen der Wirklichkeit fänden sich nicht nur ähnliche Strukturen, sondern sogar ähnliche Formen (z.B. die Wolkenbildung in der Atmosphäre und das Emulgieren von Milch im Kaffee). In psychischen Systemen (Menschen) bedeute Offenheit Kommunikation; und die Energiezufuhr bestehe im Empfang neuer Informationen.

 

Die bestehenden Systeme seien nicht völlig stabil, sondern unterlägen winzigen Schwankungen. Durch Energiezufuhr bzw. Informationen steigerten sich die Schwankungen zu Fluktuationen (Schwingungen), bis das passive Chaos (Stagnation) über die Instabilitätsschwelle ins aktive Chaos umkippe, wobei neue Muster mit ähnlichen Strukturen entstünden. Durch Selbstverstärkungen und Rückkopplungen werde dann die neue Ordnung bestätigt und gefestigt.

 

Zwischen Singularitäten (Erstmaligkeiten wie Urknall und Schwarze Löcher) und aktivem Chaos entwickele sich stets etwas Neues. Kreativität wirke immer zwischen den beiden Extremen Chaos und Ordnung. Die höchste Wirkung der Kreativität liege in der Mitte zwischen der Erstmaligkeit (Chaos) und der Bestätigung (Ordnung). Die Bestätigung könne als absolutes Gleichgewicht aufgefasst werden, sie sei gleichzeitig das passive Chaos eines neuen Systems. Absolute Bestätigung bedeute den Tod für das alte System. Doch könne durch Energiezufuhr wieder ein neues System entstehen. Systeme, die ständig zwischen Chaos und Ordnung oszillierten, zeigten die höchste Wirkung.

 

Chaotische Bedingungen seien sehr aktiv. Die Kreativität bilde einen Kreis oder eine Spirale in der Abfolge: Passives Chaos, Ordnung, Aktives Chaos, Neue Struktur. Diese Ordnungsprinzipien seien aufgrund von Fluktuationen im chemischen Milieu zu entdecken und könnten auf das psychische Milieu übertragen werden, von der Wahrnehmung über die Soziologie bis hin zur Theologie. Daraus folge, dass unsere Zukunft nicht radikal anders sein könne als die Gegenwart, sondern ähnliche Strukturen aufweisen werde.

 

Die Evolution sei ein Mechanismus des Ver-Gleichens (ähnliche Formen würden sich auf allen Ebenen durchsetzen). Erkenntnis sei im Prinzip ebenfalls ein Ver-Gleichen und Gleich-Machen. Deshalb bestehe eine Strukturgleichheit zwischen unserem Denken und dem Universum. Wir filterten das heraus, was implizit im Universum enthalten sei. Bewusstsein sei ein Spiegel des Universums. Im universellen Gesamt-Zusammenhang gebe es kein Richtig oder Falsch, sondern nur ein Sowohl-als-auch. Menschen seien ebenso paradox wie die Zustände der Welt und enthielten alle Extreme gleichzeitig in sich.

 

In der Erkenntnis würden Erstmaligkeiten schnell gebannt, indem sich unsere Wahrnehmungsmuster an diese anpassten. Beim Erkennen von Neuem bestehe die psychische Abfolge analog zur universellen Kreativität in den Zuständen Stagnation, Krise, Bruch, Neue Struktur.

 

Die menschliche Intuition könne mit chaotischen Bedingungen besser umgehen als das rationale Denken. Die Logik verstehe nur Linearitäten, die seien aber im Universum nicht zu finden. Auch in der Kunst gebe es Schwellenphänomene: Neuheiten würden zunächst oft verteufelt und erst 50 bis 100 Jahre später verstanden und adaptiert. Das konventionelle System empfinde das Neue als fremd und feindlich.

 

Bilder, die über Jahrhunderte wirkten, besäßen eingebaute Instabilitäten. Durch Perfektion würde die Wirkung verloren gehen. Perfektion bedeute absolute Starrheit. Die Kunst sei voller Instabilitäten, im Gegensatz zur Sprache, die eindimensional und rational sei. Schönheit, Humor, Witz ließen sich nicht sprachlogisch erklären (in einer Pointe werde die Erwartung umgekehrt). Kreative Menschen seien nicht harmonisch, sondern paradox.

 

Die Mechanismen fraktaler Entwicklung physikalischer und geistiger Systeme nach Prigogine:

 

Am Anfang evolvierender (nichtlinearer) Systeme steht die Offenheit. Ein Austausch mit der Umgebung findet statt.

 

Zum stagnierenden System kommt etwas hinzu: Energie (Arbeit).

 

Information reichert das System an, indem Einheiten aus den verschiedensten Arealen der Wirklichkeit hinzugefügt werden, geistiger oder materieller Art (Manfred Eigen: Leben ist Information).

 

Das Passive Chaos gerät durch die Schwankungen aus dem Gleichgewicht und fällt ins Ungleichgewicht.

 

Durch weitere Energie- und Informationszufuhr gelangt das System in eine Fluktuation (Schwingung). Gleichmäßige Fluktuation bewirkt Ordnung, indem sie das System in ein Aktives Chaos verwandelt. Es wird instabil und kippt um in eine neue Ordnung.

 

Über die Instabilitätsschwelle wird das System in eine neue Struktur katapultiert. Die Schwelle ist das Ordnungsprinzip.

 

Ein neues Muster entsteht, das jedoch Ähnlichkeiten mit dem alten aufweist. Die neue Struktur ist zunächst fremd.

 

Durch Selbstverstärkungen und Rückkopplungen wird das neue System etabliert und gefestigt.

 

Der Kreative Prozess besteht aus vier Phasen (in Stichworten):

 

Präparation: Offenheit ist die Voraussetzung. Vorbereitung, Informationsaufnahme, Arbeit, Ungleichgewicht (Verbesserungswunsch).

 

Inkubation: Äußerliche Stagnation, Anheizen des Systems, Weitere Energiezufuhr, Fluktuation (Schwingung), Disharmonie.

 

Illumination: Aha-Erlebnis, System kippt über die Stabilitätsschwelle, Neue Struktur, Schöpferisches Produkt, Emotionale Krise.

 

Verifikation: Verwirklichung, Bestätigung, Gleichgewicht (aber nicht absolut, sonst droht der Wärmetod), Totes Wissen.

 

Der Psychologe Jochen Hinz hat die Prinzipien der Chaostheorie auf den Bereich menschlicher Kreativität angewandt und neu definiert: Kreativität sei vor allem Arbeit. Am Anfang stehe das Problem. Man müsse es von verschiedenen Seiten betrachten, Daten sammeln, neue Informationen verarbeiten, dann lasse die Lösung nicht lange auf sich warten. Oder wie Goethe es ausgedrückt habe: Man müsse den Holzscheit nur bereiten, Feuer finge er von selbst. Viele berühmte Forscher hätten beschrieben, wie der Einfall sie plötzlich aus dem Nichts überfallen habe.

 

Woher kommt die Lösung eigentlich, wo war sie vorher? Hinz ist überzeugt, dass die Lösung im Unterbewusstsein schon da sei und nur darauf warte, ins Bewusstsein gehoben zu werden. Das geschehe dann assoziativ in irgend einem unvermuteten Zusammenhang. Offenheit sei die unabdingbare Voraussetzung für Kreativität. Man müsse geistig flexibel sein, Vorurteile über Bord werfen und sich auch mal über die Erziehung hinwegsetzen können.

 

Nach einer Phase der Präparation, in der das Problem auftauche, folge die Inkubation, die Problemlösungs-Strategie, schließlich die Illumination, in der sich die Lösung herauskristallisiere, und zum Schluss die Verifikation, die Verankerung des Neuen im System. Die Evolution arbeite mit den gleichen Mechanismen.

 

 

Birgit Sonnek

 

November 2003

 

 

zurück zur Startseite                                                                                                     

 

                                                                          Hier können Sie sich den gesamten Text kostenlos als pdf-Datei herunterladen.

Impressum