Riedl, Rupert: Die
stammesgeschichtlichen Grundlagen der Vernunft
(ERKENNTNISBIOLOGIE)
Im Bereich der
vergleichenden Biologie hat Rupert Riedl die biologische Bedingtheit geistiger
Kategorien im einzelnen herausgearbeitet und sie damit einer evolutionären
Erklärung zugänglich gemacht. Darüber hinaus erhebt er den Anspruch, durch
seine vergleichenden Untersuchungen auch gewisse Eigenschaften der "Welt
an sich" herausgefiltert zu haben, so dass ihm Aussagen über objektive
Strukturen der Welt möglich seien, die bei Kant noch unmöglich erschienen.
Riedl beschäftigt sich mit
der von ihm beobachteten weitgehenden Übereinstimmung zwischen Natur- und
Denkmustern. Im Lichte der modernen Systemtheorie erscheint ihm diese partielle
Isomorphie als ein komplexes Netzwerk von
Beziehungen, das hierarchisch organisiert und in verschiedene Stufen von
bestimmter Komplexität aufgeteilt ist. Dabei glaubt er eine dynamische
Verknüpfung der einzelnen Stufen von den Elementarteilchen bis zur Organisation
kultureller Systeme zu erkennen.
Nach seiner Auffassung
hängen alle Strukturen, objektive und subjektive, eng miteinander zusammen und
interagieren miteinander. Diese Wechselbeziehungen manifestierten sich in der
Evolution und erzeugten die von ihm als "Isomorphie"
bezeichneten Strukturähnlichkeiten. Nach diesem Ansatz stellen sich auch unsere
Wahrnehmungen, unser Erkennen und Denken als Teilprozesse im dynamischen Geschehen
der realen Welt dar. Der Mensch sei ein Teil der Welt und damit auch ein Teil
der universellen Evolution, die das menschliche Erkennen und Denken hervorgebracht
habe.
Deshalb könne die reale Welt
nicht ein Produkt unserer Einbildungskraft sein und wir projizierten ihre
Ordnung nicht erst durch unseren Denkapparat, sondern unser Denkapparat sei
eine Konsequenz der Ordnung der realen Welt. Die Denkordnung müsse eine
Nachbildung der Naturordnung sein, und hinter den realen Strukturen und unseren
Erkenntnisstrukturen seien isomorphe Prinzipien zu erwarten, deren Ursachen in
der Evolution zu suchen seien.
Da jeder Organismus in
kontinuierlicher Wechselwirkung mit seiner Umwelt stehe, mit jenen viel älteren
und für uns "objektiv" gegebenen Strukturen der Wirklichkeit, sei die
menschliche Erkenntnis in Anpassung an diese Wirklichkeit entwickelt worden -
im Prozess der Evolution, der als ein Erkenntnis- und Lernvorgang beschrieben
werden könne.
Dieser Erkenntnisapparat
eigne sich jedoch nicht zu einer kompletten Abbildung der "Welt an
sich", weil das Gehirn im Laufe der Evolution nur auf die Abbildung bestimmter
Strukturen der realen Welt selektiert worden sei, und zwar auf solche, deren
Erkenntnis im Bereich des "Mesokosmos" eine
arterhaltende Bedeutung gehabt habe. Trotzdem sei diese Erkenntnis, auch bei
primitiveren Organismen, immer die Abbildung bestimmter Ausschnitte aus der
realen Welt.
Nicht nur ließen sich die
von Riedl beobachteten Isomorphien zwischen unseren
Denkstrukturen und den Strukturen der außersubjektiven Welt aus der Evolution erklären,
sondern darüber hinaus werde sogar aufgrund der partiellen Identität von
kognitiven und realen Strukturen eine "Erkenntnis a priori"
ermöglicht. Es fehle allerdings noch eine Theorie, die den Ursprung der
Naturmuster erkläre.
Riedl versucht aufzuzeigen,
wann und in welcher Reihenfolge unsere heutigen Denkmuster unseren Vorfahren
"eingebaut" worden seien. Als er die Geschichte der Organismen weit
zurück verfolgte, habe er ein grundsätzliches Prinzip im Hinblick auf ihre
Weise der lebenserhaltenden Informationsgewinnung aus dem für sie relevanten
Milieu entdeckt: eine Re-Etablierung des bereits Etablierten. Übersetzt in
unsere Vorstellungswelt entspreche ihm die Erwartung, mit dem einmal
Erfolgreichen wahrscheinlich am ehesten wieder Erfolg haben zu können.
In der Biologie nenne man
dies eine "identische Reduplikation", die Vermehrung durch eine den
Eltern möglichst gleiche Nachkommenschaft. Doch diese Erwartung rechne nur mit
Wahrscheinlichkeiten, mit Erfolgen im Durchschnitt, nicht mit Gewissheiten.
Hierin bilde das Lebendige
bereits zwei grundsätzliche Eigenschaften seiner Welt ab: das Gleichbleiben der
Naturgesetze und die relative Ungewissheit von deren Auftreten. Diese
Ungewissheit werde jedoch dadurch kompensiert, dass sehr viele Nachkommen
erzeugt würden, die mit einer erblichen Appetenz
ausgestattet seien, um die Zufälligkeiten der Nahrungsaufnahme oder des
Wärmeschutzes aktiv auszugleichen.
Die Erwartung, mit
Wahrscheinlichkeiten rechnen zu können, habe sich in der menschlichen Hoffnung
als eine der fundamentalsten der angeborenen Anschauungsformen etabliert. Sie
sei inzwischen als nicht bewusste Entscheidungshilfe ein Teil unseres ratiomorphen Apparates geworden und damit eine der stammesgeschichtlichen
Grundlagen der rationalen oder reflektierenden Vernunft, indem sie einerseits
die Entscheidung steuere, zwischen Zufall und Notwendigkeit zu unterscheiden,
und zum anderen das Interesse an allgemeinen Gesetzlichkeiten und deren Erforschung
aufrecht erhalte.
Eine regelmäßige Bestätigung
unserer Prognosen (Re-Etablierung des Etablierten) lasse uns das Herrschen von
Gesetzlichkeiten erwarten, je öfter, umso gewisser. Diese "Hypothese vom
anscheinend Wahren" enthalte die Erwartung, dass sich gemachte Erfahrungen
unter gleichen Bedingungen wahrscheinlich prognostizieren und bestätigen lassen
werden.
Ein zweites solches
"Erkenntnisprinzip" des Lebendigen beruhe darauf, das Ungleiche im
Ähnlichen wegzulassen. In ihm spiegelten sich zwei weitere Struktureigenschaften
der Welt: dass sich nämlich ihre Zustände und Ereignisse zwar oft und ähnlich,
aber nie völlig identisch wiederholten, seien es Sandkörner, Tannen, Singstrophen
der Meisen oder Menschen Das Weglassen des Ungleichen, das Gleichmachen,
erlebten wir als Abstraktion.
Aller genetischer Lernerfolg
beruhe auf diesem Prinzip, und in entsprechender Weise operiere auch unser
individuelles, unreflektiertes Lernen. Nach einer Waldwanderung mochten
Tausende von Fichten und Buchen auf der Netzhaut unseres Auges abgebildet
worden sein, im Gedächtnis verblieben fände sich nur mehr der Typus "die
Tanne" oder "die Buche".
Riedl nennt das eine
Hypothese vom Ver-Gleichbaren. Sie enthalte die
Erwartung, dass das Ungleiche im Ähnlichen weggelassen werden dürfe, und dass
Ähnliches auch in seinen noch nicht wahrgenommenen Eigenschaften ähnlich sein
werde. Auf diese Weise würden wir heute Begriffe und Normen bilden und damit
unsere Zivilisation etablieren. Es lasse sich auch erkennen, warum wir mit
Koinzidenzen rechneten und warum die Systeme unserer Begriffe die gleiche
hierarchische Anordnung zeigten wie die Systeme in der Natur.
Ein drittes Prinzip spiegele
die Zeitfolge als eine zumeist nicht beliebige Abfolge von Zuständen oder
Ereignissen in der Natur. Dementsprechend seien auch unsere subjektiven
Prozesse auf die Erwartung von Ursache- und Wirkungs-Zusammenhängen
ausgerichtet. Schon ein Säugling bringe seine Arme in Abwehrstellung, wenn ihm
ein Film gezeigt werde, bei dem ein Ball in scheinbarem Kollisionskurs auf ihn
zu komme.
Bei uns Menschen könne schon
eine einzige Koinzidenz genügen, um unreflektiert einen notwendigen Zusammenhang
zu suggerieren. Man brauche nur einen zerbrechlichen Gegenstand rasch
anzufassen und gleichzeitig ein Knacken zu hören, um sofort zu befürchten,
etwas zerbrochen zu haben. Die "Hypothese von den Ur-Sachen" enthalte
die Erwartung, dass Koinzidenzen meist in einem Zusammenhang stehen und dass
gleiche Ereignisse dieselbe Ursache und Folge haben werden.
Das jüngste Prinzip unserer
Denkanleitung sei jedoch das Zweckvollste. Es sortiere gewissermaßen die
Richtung, aus welcher eine Ursache ihre Wirkung ausübe. Es sei
stammesgeschichtlich aus der Repräsentation des Raumes im zentralen Nervensystem
entstanden und spiegele eine komplexere Eigenschaft der Welt: Je nachdem, ob
die Wirkung von den Ober- auf die Untersysteme erfolge oder umgekehrt, trete in
unserem hierarchischen Schichtenbau der Welt eine Polarität der
Ursache-Wirkungs-Verhältnisse auf und lasse uns die Grundeigenschaften verschieden
erscheinen.
Bei der Frage nach den
Ursachen unseres Bizeps zum Beispiel erklärten wir uns seine Erscheinung entweder
nach seiner Zusammensetzung oder nach seiner Anordnung im Körper und kämen
dadurch zu unterschiedlichen Auffassungen. Bei der Betrachtung seiner Funktion
aus seinen Teilen würden wir seine Struktur und die Herkunft seiner Kräfte
erkennen, während wir bei dem Blick auf seinen Anteil am Ganzen seine
Überbrückungsfunktion zwischen Ellbogen- und Schultergelenk bei den Primaten
entdecken würden.
Auf diese Weise erschienen
uns Kräfte und Zwecke als zwei unvermischbare Qualitäten. Erfolgreiche
Funktionsentsprechung erlebten wir als zweckvoll, indem wir zu erkennen
glaubten, wozu etwas diene. Diese Anschauungsform von den Zwecken in der Natur
sei ebenfalls in unsere ratiomorphe Denkanleitung
eingebaut, und ihren Inhalt könne man als eine "Hypothese vom Zweckvollen"
beschreiben. Sie enthalte die Erwartung, dass ähnliche Systeme als
Unterfunktionen des selben Obersystems zu verstehen seien und dass gleiche
Strukturen dem selben Zweck entsprächen.
Dadurch werde auch das
Denkmuster der Tradierung erklärt. Die beiden erblichen Anschauungsformen von
den Ursachen und den Zwecken ließen uns begreifen, dass wir nichts ohne seine
Herkunft verstünden, dass wir in alles Kräfte und Absichten hineinlegten,
selbst dort, wo keine sein könnten.
Kommentar: Riedl hat die
menschliche Veranlagung, alle Naturstrukturen nach Normen, Interdependenzen,
Hierarchien und tradierter Gesetzlichkeit zu erkennen und zu Begriffen
umzuformen, welche nun ihrerseits die Strukturen des Denkens und der
menschlichen Zivilisation dominieren, aus vier Prinzipien abgeleitet, die von
ihm aus beobachteten Naturgesetzlichkeiten herausgefiltert wurden: der
Wiederholung ähnlicher Zustände und deren Polarität im hierarchischen
Schichtenbau aller komplexen Systeme.
Er versteht diese Anlagen
als Selektionsprodukte unserer Stammesentwicklung, die als Extraktionen der
wichtigsten Zustände der Natur für das Überleben unter Konkurrenzbedingungen
relevant waren. Das Ergebnis kann als eine Bestätigung der von Kant
postulierten apriorischen Erkenntnisbedingungen seitens der Biologie angesehen
werden, die in diesem Kontext jedoch als stammesgeschichtlich erworben, als das
Resultat eines kollektiven Lernprozesses betrachtet werden.
Was bei Riedl die
"Hypothese vom anscheinend Wahren" genannt wird, das findet sich bei
Kant unter der Kategorie der Modalität (Möglichkeit, Dasein und Notwendigkeit);
Riedls "Hypothese vom Ver-Gleichen" entspricht
den Kategorien Quantität (Einheit, Vielheit, Allheit)
und Qualität (Realität, Negation, Limitation), seine "Hypothese von den
Ur-Sachen" steht in der Kategorie der Relationen (Kausalität und Dependenz),
und die "Hypothese vom Zweckvollen" ist in der Kritik der
Urteilskraft zu finden.
Eine genaue Übereinstimmung
der Begriffe liegt allerdings nicht vor, da es sich bei Kant um die notwendigen
Voraussetzungen einer möglichen Erkenntnis handelt, die aufgrund introspektiver
Überlegungen deduktiv aus dem Urteilsvermögen gewonnen wurden, während es bei
Riedl um biologische Kriterien geht, die er aus seiner Naturbeobachtung gezogen
hat. Auch werden die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit von Riedl nicht
thematisiert. Trotzdem ist die Übereinstimmung so relevant, dass hierin eine
Unterstützung der transzendentalen Erkenntniskategorien von biologischer Seite
gesehen werden kann.
Birgit Sonnek
November 2003
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