Vier ERZIEHUNGSTHEORIEN (christlich-normativ bis
kritisch-mündig)
Es sind hauptsächlich vier Erziehungstheorien, die in die
Lehrpläne unserer Schulen Eingang finden. Die Traditionelle Pädagogik zum
Beispiel ist christlich-normativ ausgerichtet und orientiert sich an der
griechischen Philosophie. Sie beabsichtigt eine Erziehung „zum Guten“: Das
Individuum soll in die Lage versetzt werden, das Gute (Wahre, Schöne) zu
erkennen und es freiheitlich im Umgang mit anderen Menschen zu verwirklichen.
Dabei soll es sich von traditionellen Werten und Normen leiten lassen.
Die Geisteswissenschaftliche Pädagogik will
"Bildung" vermitteln. Sie interpretiert alle Bildungsinhalte
hermeneutisch (vor dem Hintergrund der jeweiligen Zeit) und ist bestrebt, sie
stets den aktuellen Erfordernissen anzupassen. Nach dieser Auffassung sind die
Handlungsziele der Menschen dem geschichtlichen Wandel unterworfen und müssen
immer wieder neu legitimiert werden.
Die Empirische Pädagogik stellt den Lernstoff in Form
wissenschaftlicher Ergebnisse nur zur Verfügung und überlässt es den Schülern
selbst, wie sie ihn verwenden und ob sie ihn überhaupt für sich akzeptieren
können. Angestrebt werden zutreffende Prognosen und wirkungsvolle Technologien,
während Normen und Werte als fragwürdig gelten. Das Ziel ist eine allgemeine
"Aufklärung" zur besseren Orientierung in der Welt.
Die Emanzipatorische Pädagogik hat sich zum Ziel gesetzt,
die Kinder zu mündigen Bürgern zu erziehen, die eigenverantwortlich handeln und
sich nicht von äußeren Einflüssen bestimmen lassen. Die gesellschaftlichen
Machtverhältnisse sollen transparent gemacht werden, um
"Chancengleichheit" und soziale Gerechtigkeit zu ermöglichen. Durch
herrschaftsfreie Kommunikation wird eine rationale Beschleunigung des evolutionären
Prozesses erwartet.
Den meisten Lehrplänen liegt zumindest eine dieser Theorien
mehr oder weniger explizit zugrunde, oft werden sie auch miteinander vermischt.
Daneben existieren noch zahlreiche didaktische und methodische Modelle, die
sich beispielsweise damit beschäftigen, ob überwiegend Inhalte oder lieber
bestimmte Fertigkeiten vermittelt werden sollen. Die Entscheidung darüber
trifft das Lehrergremium oder die einzelnen Pädagogen selbst.
Die Prinzipienwissenschaftliche Pädagogik ist die älteste
aller Erziehungstheorien, ihre Begründungszusammenhänge verweisen in die antike
und christliche Philosophie. Diese traditionelle Pädagogik begründet Erziehung
innerhalb eines geordneten Gefüges von Gott, Welt und Mensch. Personalität und
Freiheit des Menschen gelten als prinzipielle Erziehungsziele, unabhängig von
Geschichtsschreibung und gesellschaftlicher Entwicklung. Es geht um die freie
Entscheidung des Einzelnen, der die moralische Qualität und Verpflichtung besitzt,
sein Verhältnis zu Gott und den Mitmenschen sittlich zu gestalten.
Die Prinzipienwissenschaftliche Pädagogik artikuliert sich
in drei Richtungen:
als Personale Pädagogik
als Transzendentalkritische Pädagogik
als Personal-transzendentale Pädagogik
Personale Pädagogik befasst sich mit der
Menschwerdung des Menschen. Grundlage ist die anthropologische Auffassung, dass
die Person als Individuum eine einmalige und unverwechselbare Ganzheit ist, die
ihr Wesen jedoch erst verwirklichen muss. Das impliziert Bildsamkeit und
Erziehungsbedürftigkeit, denn das Menschsein kann auch verfehlt oder verweigert
werden. Insofern betrachtet sich die Personale Pädagogik als ein Konzept der
Hilfe zur Personwerdung.
Transzendentalkritische Pädagogik
verzichtet auf metaphysische Vorgaben und dogmatische Aussagen, sondern
vertraut in Anlehnung an Kant auf das menschliche Vermögen zu kritischer
Vernunft. Das Ziel besteht darin, allgemeingültige Prinzipien für Erziehung zu
ermitteln, die der notwendigen Aufklärung sowie der Legitimation von Erziehung
dienen. Heranwachsende sollen zu kritischer Urteilskraft und selbständigem Denken
geführt werden, ohne normative Inhalte annehmen zu müssen.
Personal-transzendentale Pädagogik geht
ebenfalls von der Person aus und sieht die selbständige kritische
verantwortliche Lebensführung als zentrales Ziel von Erziehung. Aber sie
verzichtet nicht auf inhaltliche Vorgaben, weil sie auf Gewissensbildung hin
ausgerichtet ist. Eine solche Moralerziehung will den Einzelnen ertüchtigen,
das "Gute" zu tun und das "Böse" zu lassen. Normative
Selbstermächtigung und Besserung sind die Leitprinzipien dieser Pädagogik.
Die Personal-transzendentale Pädagogik steht in der
Tradition der mittelalterlichen und neuzeitlichen Philosophie. Personal ist
sie, weil sie die Position des Einzelnen als eine selbständige und
freiheitliche zu begründen sucht, transzendental ist sie, weil sie ihre
Kriterien im Rückbezug auf die "Bedingungen der Möglichkeit von
Erziehung" ermittelt, also im Rahmen philosophischer und theologischer
Grundfragen klärt, nicht im Hinblick auf faktische Erziehungswirklichkeit.
Um die Selbstwerdung des Einzelnen zu ermöglichen, werden
vorwiegend handlungsbezogene (praktische) Erziehungsziele formuliert. Normative
Pädagogik bezieht sich dabei auf "überzeitliche Normen" und ein
"überzeitliches Menschenbild".
Bei ihrer Hilfe zur Identitäts- und Persönlichkeitsbildung
geht die Personal-transzendentale Pädagogik von der Voraussetzung aus, dass
jeder Einzelne apriori (vor aller Erfahrung) eine Würde besitzt, die sich
grundsätzlich der Erziehung entzieht. Der Begriff des Personalen bezieht sich
damit auf die ontologische Struktur eines absoluten (gesollten) und relationalen
(tatsächlichen) Seins.
Der antiken Philosophie entsprechend wird dem Absoluten ein
prinzipieller Vorrang gegenüber dem Relationalen eingeräumt, da es als
allgemeingültig und überzeitlich angesehen wird. Das Absolute gilt als Idee,
der sich die Wirklichkeit nur annähern kann. Es ist das Eine, Wahre und Schöne,
das allen zeitlichen Dingen vorausgeht und ihre Existenz erst ermöglicht. Das
Abhängige und Wandelbare kann am Transzendenten zur durch Teilhabe partizipieren.
Der christliche Aspekt besteht in der Annahme, dass jeder
Einzelne vom Schöpfungsakt Gottes heraus als absolutes Wesen vorgesehen war,
dieser Anspruch jedoch durch den Sündenfall Adams und Evas verloren ging. Durch
die Erlösung Christi wurde die Reinheit des Ursprungs zwar grundsätzlich wieder
hergestellt, sie kann jedoch erst im Glauben an seine Lehre verwirklicht
werden. Dieser religiöse Zusammenhang ist nach Auffassung der Erziehungstheoretiker
in den Hintergrund gedrängt, aber durch Descartes, Leibniz und Kant wieder
gefestigt worden.
Descartes betont die Selbständigkeit des Ich sowie eine
rationale Zugangsweise durch das "Ich-denke", Leibniz propagiert in
seiner Monadenlehre ein mikrokosmisches Verständnis und die monadische Struktur
des Subjekts, Kant postuliert in seiner Transzendentalphilosophie die
prinzipielle Freiheit des Einzelnen und seine moralische Verpflichtung.
Die kognitive Entwicklungstheorie Piagets sowie die
Stufentheorie der Entwicklung des moralischen Bewusstseins von Kohlberg werden
als empirische Bestätigung der philosophischen Ansätze interpretiert. Doch
fragt die transzendentale pädagogische Reflexion nach dem, was der Erziehung
vorgängig ist, also nach der Bedingung der Möglichkeit von Erziehung überhaupt.
Die Begründung dieser Erziehungstheorie erfolgt durch ein
prinzipienwissenschaftlichen Vorgehen, ihre Auswirkung bezieht sich jedoch auf
reale geschichtlich-gesellschaftliche Bereiche.
Im Hinblick auf die Absolutheit und Freiheit des Einzelnen
wird die Vermittlung von Handlungs- und Denkzielen grundsätzlich abgelehnt. Der
Mensch ist dafür in einer radikalen Weise selbst verantwortlich, Erziehung kann
nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Die Bildungsinhalte beziehen sich zwar auf die
reale Erziehungswirklichkeit, werden aber im transzendentalen Zusammenhang
formuliert.
Die Methodik der personal-transzendentalen Pädagogik ist
induktiv, sie sucht das Ursprüngliche, Prinzipielle zu erfassen, Kenntnis von
unveränderlichen Strukturen zu erlangen und das Grundsätzliche zu klären.
Ausgehend von den empirischen Erscheinungsweisen und im Vertrauen auf die
menschliche Vernunft dringt sie dann mit Hilfe der transzendentalen Deduktion
zu "ganzheitlichen Erkenntnissen" vor.
Besserung und Selbstermächtigung des Subjekts sind nach
ihrer Auffassung nur dann möglich, wenn der Einzelne als eine Instanz begriffen
wird, die aus sich heraus Zugang zum Guten hat und generell in der Lage ist,
die permanent gestellten normativen Aufgaben in einer Gesellschaft zu lösen.
Pädagogik als Geisteswissenschaft basiert auf einer neuen
Klassifizierung der Wissenschaften im 19. Jahrhundert, nach der sie in Natur-
und Geisteswissenschaften eingeteilt wurden. Naturwissenschaften wollten die
Wirklichkeit erklären, Geisteswissenschaften zu Sinn- und Bedeutungsgehalten
vordringen. Dabei sollten alle geschichtlichen Inhalte im Kontext ihrer
jeweiligen Zeit interpretiert werden, um ein optimales Verstehen zu ermöglichen.
Die historischen Stufen der geisteswissenschaftlichen
Pädagogik sind
- die klassische Position Schleiermachers
- Diltheys hermeneutisch-pragmatische Pädagogik
- Phänomenologische Pädagogik (nach der philosophischen Phänomenologie)
- Pädagogik der Entsprechung (Aufgreifen der Ontologie Heideggers)
- Existentialistische Pädagogik (Einbezug der
Existenzphilosophie)
- die Anthropologische Pädagogik.
Bekannte Vertreter sind Schleiermacher, Dilthey,
Frischeisen-Köhler, Spranger, Kerschensteiner, Meister, Nohl, Litt, Weniger,
Flitner, Klafki.
Geisteswissenschaftliche Pädagogik beansprucht keine
überzeitliche Allgemeingültigkeit, doch ist sie auch eine Form normativer
Pädagogik. Die erfahrungswissenschaftliche Komponente bleibt gewahrt, weil sie
von der Erziehungswirklichkeit selbst ausgeht, und der
prinzipienwissenschaftliche Aspekt wird erhalten, indem alle Interpretationen
auf die Ermittlung von Erziehungszielen gerichtet sind. Da jedoch die Sinn- und
Bedeutungsgehalte selbst dem Wandel der Geschichte unterliegen, können nur
zeitabhängige und befristete Handlungsnormen formuliert werden.
Eine hermeneutische (auslegende) Pädagogik ist von ihrer
Intention her eine Mischform, weil sie das Normative mit dem Erfahrbaren zu
verbinden sucht. Ihr Anspruch besteht darin, mit Hilfe der Hermeneutik vom
Erfahrbaren her das Prinzipielle und Allgemeingültige zugänglich zu machen.
Die geisteswissenschaftliche Pädagogik formuliert leitende
Aussagen des erzieherischen Handelns auf der Grundlage der konkreten
geschichtlichen Erziehungswirklichkeit. Im Mittelpunkt ihres pädagogischen
Interesses steht das Kind als ein sich entwickelndes Individuum, als dessen
Anwalt sich der Erzieher versteht.
Geisteswissenschaftliche Pädagogik lehnt es ab,
pädagogisches Handeln aus vordefinierten obersten Normen abzuleiten. Sie ist
vielmehr bestrebt, durch Sinnauslegung (Hermeneutik) des jeweiligen kulturellen
Hintergrunds das "Vernünftige" in der geschichtlichen Erziehungspraxis
herauszuarbeiten und für das aktuelle Erziehungshandeln fruchtbar zu machen.
Erziehung gilt als ein wichtiger Teilbereich des gesellschaftlichen Lebens.
Eine Grundthese der Geisteswissenschaften besagt, dass die
Ordnungen des individuellen wie gesellschaftlichen Lebens nicht auf absolute
Werte oder prinzipielle Ursprünge zurückgeführt werden können, sondern
Erzeugnisse menschlicher Deutungen in verschiedenen Epochen unter veränderten
gesellschaftlichen Bedingungen darstellen.
Da Erziehung ein Teilbereich des gesellschaftlichen Lebens
ist, sind erzieherische Verhältnisse immer den jeweiligen Lebensformen
vorgeordnet. Erziehung vollzieht sich im Zusammenhang mit dem geistigen
Schaffen von Generationen, das sich auf diese Weise objektiviert und als Kultur
ausprägt.
Geisteswissenschaftliche Erziehung betrachtet den Einzelnen
weder als absolutes Wesen noch glaubt sie an seine autonome Verantwortlichkeit.
Die Ziele, Inhalte und Methoden erzieherischen Handelns sind dem
geschichtlichen Wandel unterworfen und bedürfen immer wieder der integrativen
Sicherung und Legitimation in der Auseinandersetzung mit der vorgefundenen
konkreten Lebenswirklichkeit.
Die Eingrenzung der Pädagogik und der daraus folgenden
Zielsetzungen ergibt sich allein aus dem Anspruch, das Wohl des Kindes zu
fördern. Wesentlicher Teil dieser Förderung ist die Vermittlung von bildenden
und lebensbedeutsamen Kulturgehalten. Diese stellen einen Wert dar, dessen
Internalisierung Bildung ausmacht. Durch Erziehung werden
Bildungsgehalte der Gesellschaft an den Einzelnen weiter gegeben.
Die geisteswissenschaftliche Pädagogik stellt zwar die
Autonomie des Einzelnen nicht in Frage, betrachtet auch das Personale als
Kategorie der erzieherischen Aufgabe, aber sie macht es nicht zur Grundlage
pädagogischen Handelns. Ausgang und Ziel ist der Einzelne als ein
geschichtlich-gesellschaftliches Wesen, das im Wandel der Zeiten darauf
angewiesen ist, die vorgefundenen Kulturgehalte zu übernehmen und in der
Auseinandersetzung mit ihnen eigene Maßstäbe zum Denken und Handeln zu
ermitteln.
Wissenschaftstheoretisch gilt der induktive Zugang.
Gegenstandsbereich ist die Erziehungswirklichkeit, vom einzelnen
Erzieher-Zögling-Verhältnis bis zu den erzieherischen Verhältnissen insgesamt.
Diese Situationen werden auf ihre Sinngehalte hinterfragt, um daraus Ziele für
pädagogisches Handeln zu postulieren.
Im Unterschied zu den Naturwissenschaften, die auf eine
Erklärung ihres Gegenstandsbereiches abzielen, lassen sich die Gegenstände der
Geisteswissenschaften nur in einem erörternden Verfahren verstehen. Das
Interpretierte kann nur durch Sorgfalt bei der Interpretation abgesichert
werden. Doch trotz aller Sorgfalt kann es nie gelingen, die Interpretation von
dem Interpreten abzulösen, um eine "Objektivität" wie in den Naturwissenschaften
zu erzielen.
Letztlich sind alle Sinn- und Bedeutungsgehalte selbst
Interpretation, nur innerhalb eines bestimmten geschichtlichen Hintergrunds
verbindlich. Mögliche überzeitliche und allgemeingültige Aussagen sind für die
Lebenswelt selbst ohne Relevanz.
Für das Verfahren der Interpretation bedient sich der
geisteswissenschaftliche Ansatz des gesamten Spektrums erkenntnistheoretischer
Methodologie: Ausgehend von der Induktion, verwendet er im Erörterungsprozess
auch die Dialektik, und in seinen Schlussfolgerungen die Deduktion.
Hermeneutik als Methode der Geisteswissenschaften ist ein
Verfahren der Auslegung, der Interpretation, der Sinnerschließung und
Sinnkonstruktion. Trotz des Postulats der durchgängigen Geschichtlichkeit wird
jedoch auf Zeitloses nicht verzichtet, wenn z.B. Dilthey sich im Duktus der
damaligen Psychologie an den Gesetzen des Seelenlebens orientiert. Spranger
sieht sogar die Aufgabe des auslegenden Verstehens darin, die zeitlichen
Erscheinungen des Geistes auf ihren zeitlosen Sinngehalt zurückzuführen.
In ihrer Methodik beginnt die Geisteswissenschaftliche
Pädagogik mit der Beschreibung der sich zeigenden Erziehungswirklichkeit; in
einem zweiten Schritt analysiert sie diese Erziehungswirklichkeit, und in einem
dritten Schritt sucht sie die Regeln zu kennzeichnen, von denen das
erzieherische Geschehen bestimmt ist. Jeder dieser Schritte beinhaltet sowohl
Sinnverstehen als auch Gewissensbildung des Erziehers für eine verantwortliche
Wahrnehmung seiner Aufgabe.
Die Entstehung der Geisteswissenschaften verweist auf das
frühe 19. Jahrhundert. Pädagogisch relevant wurde ihre Methode zunächst durch
Schleiermacher, dann in ganzer Spannweite durch Dilthey und seine Schüler. Das
hermeneutische Verfahren nimmt für sich in Anspruch, sowohl das
"Tatsächliche" zu sehen als auch den dahinter liegenden Sinn zu
erkennen. Das wurde als die lang ersehnte Vermittlung von empirischen und
spekulativen Methoden betrachtet.
Das Verfahren der Hermeneutik reicht zurück bis in die
Antike, dort vor allem als Kunst des Auslegens von Texten, insbesondere von
Gesetzestexten und heiligen Büchern. Innerhalb der Geisteswissenschaften erhält
die Hermeneutik eine neue Bedeutung: Da die normative Theologie und das
Naturrecht als Legitimationsbasis ausgedient hatten, kam der Hermeneutik die
Aufgabe zu, Sinn- und Zielvorstellungen von der konkreten
geschichtlich-zeitlichen Wirklichkeit her zu sichern.
Gleichzeitig wurden auch Lehrer dazu verpflichtet, Ziele des
pädagogischen Handelns zu setzen. Ein wesentlicher Teil der Lehrerbildung
erstreckte sich daher auf die Disponierung zur Hermeneutik der
Erziehungswirklichkeit.
Die Geisteswissenschaftliche Pädagogik ist aus der
normativen Verunsicherung des 19. Jahrhunderts entstanden: Theologie und
Philosophie waren in ihrem Wahrheitsanspruch erschüttert, Staat und Kirche
hatten ihre normative Autorität eingebüßt, der Humanismus hatte bereits die
Selbständigkeit des Einzelnen propagiert: Persönlichkeitsbildung und
Emanzipation wurden zu pädagogischen Zielsetzungen, die dem Einzelnen auch
seine soziale Lage zu erkennen halfen.
Die Geisteswissenschaftliche Pädagogik zählt daher mit zu
den Antworten auf die soziale Frage. Sie ist inhaltlich dort restaurativ, wo
sie sich auf die geistige Tradition beruft und in jedem hermeneutischen Akt den
"objektiven Geist" zum Sprechen bringen will; methodisch ist sie dort
zukunftgerichtet, wo sie die situativ vorfindbare Wirklichkeit ernst nimmt und
die Normen ihres Handelns in einer Auseinandersetzung mit der
Erziehungswirklichkeit zu eruieren versucht.
Die Verbindlichkeit von Normen für das erzieherische Handeln
wird durch ein Verfahren bzw. durch eine Methode gesichert. Damit wurde für die
Pädagogik eine revolutionäre Entwicklung eingeleitet: Sie konnte sich als
eigenständige Wissenschaft innerhalb von Philosophie und Theologie
konstituieren und selbst deren ethische Aufgaben übernehmen. In dieser
Autonomie entwickelte sie eine Systematik, die eine unabhängige Orientierung
für Erziehungs- und Bildungsprozesse bereit stellte.
Die Geisteswissenschaftliche Pädagogik hat eine
eigenständige Didaktik entwickelt, die heute noch teilweise den Unterricht
aller Schulformen prägt. Sie beeinflusste die deutsche Gymnasial- und
Universitätspädagogik nachhaltig bis 1965. Eine ihrer Stärken liegt darin, den
Lehrern zu Selbstbewusstsein und sozialer Anerkennung zu verhelfen als
Repräsentanten des Staates, Anwälte der Zöglinge und Vermittler des "objektiven
Geistes".
Die enge Anlehnung der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik
an den Staat und an das Wilhelminische Obrigkeitsdenken sowie an einen falsch
verstandenen Nationalismus hat sie in der nationalsozialistischen Zeit
teilweise zur Unterstützung und pädagogischen Umsetzung der faschistischen
Herrschaft veranlasst.
Die erfahrungswissenschaftliche Pädagogik versteht sich als
Gegenposition zur prinzipienwissenschaftlichen Pädagogik. Ursprünglich begnügte
sie sich mit der Beschreibung der Erziehungswirklichkeit und den daraus
abgeleiteten Aussagen. Ihr Schwerpunkt war die pädagogische Tatsachenforschung
innerhalb bewährter Erziehungslehren. Heute sieht sie sich als Vertreterin des
Kritischen Rationalismus und verfolgt das Ziel, Erziehung zu erklären,
Grundlagen aufzudecken und empirische Ziele zu prognostizieren.
Über das Festgestellte hinaus verzichtet die empirische
Pädagogik weitgehend auf theoretische Reflexionen. Sie versteht sich als
erziehungstheoretische Position innerhalb der Erkenntnistheorie bzw. als
"Pädagogik des Kritischen Rationalismus".
Ihre Grundthese lautet, dass Pädagogik als Wissenschaft
nicht in der Lage ist, über Werte und Ziele objektiv überprüfbare Aussagen zu
machen. Die Klärung dieser Fragen überlässt sie der Philosophie.
Erziehungstheorien können nur in Form von Hypothesen über erfahrbare
Wirklichkeit aufgestellt werden. Von ihnen wird erwartet, dass sie den
Objektbereich erklären und Prognosen über zukünftige Ereignisse ermöglichen.
Theorien sind "nur Netze, mit denen man die Wirklichkeit zu erfassen
versucht. Was in den Netzmaschen nicht erfasst wird, bleibt verborgen"
(Popper).
Aussagen über "den Menschen" sind für den
Kritischen Rationalismus nicht zulässig. Diese Selbstbeschränkung ergibt sich
aus dem rationalen Anspruch an Wahrheit und Objektivität, die durch ein
intersubjektives Verfahren empirisch überprüfbar und wiederholbar sein müssen.
Der Mensch als Ganzer kann rational nicht erfasst werden, sein Wesen erschließt
sich nur in den empirisch-erfahrbaren Teilbereichen seines Verhaltens.
Wissenschaft bezieht sich im Selbstverständnis des
Kritischen Rationalismus nur auf Erfahrbares, Reales, Empirisches. Doch ist der
wissenschaftliche Bezug zu dem Erfahrbaren nicht unmittelbar möglich, sondern
immer schon durch Theorien, Hypothesen bzw. Sprache vermittelt.
Wissenschaft hat somit auch keinen Zugang zu einer
übergreifenden Wahrheit und möglichen Sinnsetzung. Derartige Fragen werden in
diesem Wissenschaftsverständnis als "sinnlos" aufgefasst. Aussagen
über das Wesen von Religion, Kunst, Ästhetik oder Gott, die über das direkt
Beobachtbare hinausgehen, fallen aus ihrem Geltungsbereich heraus.
Empirisch-analytische Pädagogik ist nur ein Aussagensystem, das in
überprüfbaren Sätzen über den Gegenstandsbereich der Erziehung informiert,
erklärt und voraussagt.
Die wissenschaftstheoretische Methode ist
axiomatisch-deduktiv. Auf der einen Seite wird von Axiomen (Grundsätzen), auf
der anderen Seite von Theoremen (abgeleiteten, deduzierten Sätzen) ausgegangen.
Theorien selbst haben nur hypothetischen Charakter, aus ihnen werden Theoreme
abgeleitet, die einen erfahrbaren und intersubjektiv nachprüfbaren
Objektbereich zu erklären oder zu prognostizieren versprechen.
Die Wissenschaftssystematik des Kritischen Rationalismus
verweist einerseits auf den Positivismus (Comte), der alle Erkenntnis auf
beobachtbare, beschreibbare, erfahrbare Gegenstandsbereiche zu beschränken
versucht, andererseits auf die transzendentale Philosophie Kants, die alles
Reale in Ideen und Vorstellungen, in Formen unseres Anschauens und Denkens
begründet sieht (die Theorie geht der Beobachtung voraus).
Der Wert des gewonnenen Wissens für das erzieherische
Handeln besteht in der Schlüssigkeit und Ableitbarkeit der gewonnenen Aussagen.
Geschichte und historische Fragestellungen besitzen nur einen untergeordneten
Stellenwert. Gesellschaftstheoretisch versteht sich der Kritische Rationalismus
als Reaktion gegen Idealismus und universelle Aussagen. Er tritt jedem
normativen Wahrheitsanspruch entgegen und beschränkt sich auf die schmalen
Grenzen der Verbindlichkeit für das wissenschaftliche Handeln, die sich aus
seinen Voraussetzungen ergeben.
Gerade weil er auf Wertentscheidungen und Normenproduktion
verzichtet, ist ihm oft ein technologisches Interesse vorgeworfen worden. Er
selbst sieht darin die Stärke und Grenze eines wissenschaftlichen Bemühens
überhaupt. Die legitimatorische Leistung des Kritischen Rationalismus
beschränkt sich auf die Prüfung der Widerspruchsfreiheit behaupteter
Sachverhalte.
Dabei wird nicht die Wahrheit von Aussagen festgestellt,
sondern lediglich, ob sich eine Behauptung falsifizieren, d.h. als falsch
erweisen lässt. Je häufiger sich gezeigt hat, dass die Behauptung
aufrechterhalten werden kann, desto mehr spricht dafür, dass sie richtig ist.
Doch lässt sich daraus nicht folgern, dass sie wahr ist. Was sich einzig sagen
lässt, ist, dass sie sich bislang bewährt hat. Das Postulat der Falsifikation
ermöglicht ein höchstmögliches Maß an gesicherten Wissen und Erkenntnisfortschritt.
Im pädagogischen Bereich hat Rössner durch seinen
"Non-statement-view" das Theoriekonzept erweitert, indem er spezielle
Randbedingungen einführte, die eine Beibehaltung der Aussagen erlauben, auch
wenn die Theorie scheinbar durch Falsifikationsversuche widerlegt wurde. Ob
sich Theorien eliminieren lassen oder bestehen können, hängt nicht mehr von der
empirischen Information allein ab, sondern auch davon, ob eine neue Theorie
mehr Probleme lösen kann als die falsifizierte.
Der Non-statement-view unterscheidet zwischen Theorien und
Aussagen als Anwendungsbeispiele von Theorien. Theorien werden als Kernannahmen
über Forschungsgegenstände begriffen, die zur Lösung bestimmter Probleme
dienen, sich aber nicht falsifizieren lassen. Falsifizieren lassen sich stets
nur die Anwendungsbeispiele unter bestimmten Randbedingungen.
Die pädagogischen Grundbegriffe der empirischen Pädagogik
ergeben sich aus der Wissenschaftssystematik des Kritischen Rationalismus:
Kritische Rationalität, Theorie, Intersubjektivität, Erklärung,
Operationalisierung, Prognose, Deskription, Beobachtung, Experiment. Die
Pädagogik des Kritischen Rationalismus eignet sich zur Abgrenzung von
"Sein"- und "Soll"- Aussagen, insofern leistet sie wichtige
Ideologiekritik. Sie konzentriert sich dabei speziell auf die Klärung von
Teil-Wirklichkeiten.
In dieser Funktion hat sie die Modellentwicklung in
Planungsverfahren, insbesondere innerhalb der Curriculumkonstruktion,
nachhaltig beeinflusst. Ein genereller Schwerpunkt ist die Optimierung von
Technologien im Erziehungs- und Unterrichtsprozess.
Als Vertreter der Wissenschaftstheorie des Kritischen
Rationalismus gelten Hume, Kant, Comte, Cassirer, Schlick, Carnap,
Wittgenstein, Popper, Albert. Innerhalb der pädagogischen Tradition sind zu
nennen: Lay, Meumann, Fischer, Lochner, Petersen, Klauer, Brezinka, Heid,
Rössner, Prim + Tilman.
Pädagogik als kritische Erziehungswissenschaft ist zunächst
eine Sammelbezeichnung für alle pädagogischen Konzepte, die aufgrund der
gesellschaftlichen und sozialen Entwicklung seit den 60er Jahren in Deutschland
die Grundlagen ihrer Positionen kritisch hinterfragten und weitgehend neu zur
Disposition stellten.
Angeleitet wurde diese Kritik besonders durch die
Gesellschaftstheorie der "Frankfurter Schule" (Horkheimer, Adorno,
Fromm, Marcuse, Habermas), die einerseits einen Rekonstruktionsversuch frühmarxistischer
Gesellschaftsphilosophie und andererseits eine weitere Konkretisierung der
geisteswissenschaftlichen Position darstellt. Dabei integrierte sie neue
wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Psychoanalyse, der kognitiven Theorie
und den Kommunikationswissenschaften.
Das erklärte Ziel einer kritischen Pädagogik ist die
"Emanzipation". Damit wird die Verbindlichkeit vorgegebener Ordnungen
und Werte grundsätzlich in Frage gestellt. Sie wird ersetzt durch die
Verbindlichkeit der Gesellschaft als "Kommunikationsgemeinschaft", um
eine pragmatische Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse für alle zu
erzielen. Die Pädagogik als "kritische Erziehungswissenschaft"
versteht sich daher immer als eine politische Pädagogik.
Die Pädagogik der Kritischen Theorie basiert auf der
Marx'schen pädagogischen Grundthese, dass das Wesen des Menschen primär in
seinen konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen gegründet ist. In diese Welt
ist der einzelne Mensch so sehr eingebunden, dass er die Machtstrukturen nicht
durchschaut. Deshalb muss es zunächst das Ziel pädagogischen Handelns sein, ihn
durch das Offenlegen seiner Situation zu befreien.
Kritische Theorie rechnet mit der Kraft der Aufklärung für
eine Veränderung der ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse. Aufklärung
hat eine emanzipative, selbstbefreiende Funktion. Die pädagogische Praxis soll
den evolutionären Prozess einer Verwandlung der Gesellschaft dadurch einleiten,
dass sie das kritische Potenzial für eine Besserung der bestehenden
Verhältnisse hervorbringt.
Der herrschaftsfreie Diskurs (eine erörternde
Auseinandersetzung, in der jeder Beteiligte die gleichen Möglichkeiten hat) ist
die letzte Legitimationsbasis für den Aufbau neuer menschlicher Beziehungen und
gesellschaftlicher Institutionen, wie sie auch zur Orientierung von
erzieherischem Handeln notwendig werden.
Die Pädagogik der Kritischen Theorie basiert auf dem
Leitbild des "emanzipierten" Menschen. Dieser sollte bestrebt sein,
das Maß an Fremdbestimmung zu verringern und in kommunikativen Prozessen
Handlungsnormen zu erarbeiten, die geeignet sind, bestehende gesellschaftliche
Verhältnisse zu verändern. Sie sollen letztlich Mündigkeit, Identität, Frieden,
soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit gewährleisten.
Weil die vorgefundenen Verhältnisse, an denen das
unterdrückte Subjekt leidet, diesen Zielvorstellungen nicht entsprechen, muss
nach dem kritischen Potential zur Veränderung gefragt werden. Was der Mensch
"eigentlich" sein könnte, ist in einer "herrschaftsfreien
Kommunikationssituation" zu ermitteln. Diese ist nicht durch eine etablierte
Macht geprägt, sondern durch die Vernünftigkeit und Aufrichtigkeit aller
Beteiligten. Nur eine so gefundene Übereinstimmung vermag verbindliche Handlungsnormen
zu setzen.
Diesem zukunftsorientierten Grundverständnis des Menschen
korrespondiert eine frühmarxistische anthropologische These: Was der Mensch
"ist" - was er denkt, wie er handelt, was er will - kann nicht allein
von seiner Natur her begründet werden. Es ist im Interaktionsfeld seiner
jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse hervorgebracht worden.
Der Mensch ist gleichzeitig der Produzent und das Produkt
seiner ideellen und materiellen Verhältnisse. Das bedeutet für die
anthropologische Grundkonzeption, dass sowohl der Mensch als auch die
Gesellschaft durch pädagogisches Handeln beeinflussbar sind. Jürgen Habermas
spricht von einem "pädagogischen Optimismus".
Die Übertragung der sehr differenzierten philosophischen
Theorie der Frankfurter Schule in ein pädagogisches Konzept leistete K.
Mollenhauer in enger Anlehnung an die wissenschaftstheoretischen Erörterungen
von Habermas.
Aus Sicht der pädagogischen Diskussionslage wandte sich die
emanzipatorische Pädagogik der Kritischen Theorie einerseits gegen die
verkürzte Rationalität des empirischen Ansatzes und andererseits gegen das auf
Anpassung hin verdächtige Sinnverstehen des hermeneutischen Ansatzes
(Blankertz, Giesecke, Gamm, Schaller, Mollenhauer, Lampert, Hoffmann).
Ihre pädagogisch handlungsrelevanten Ansätze entwickelte die
kritische Pädagogik zunächst als Kritik der vorhandenen Erziehungswirklichkeit
bzw. als generelle Proklamation, diese Wirklichkeit zu verändern - nicht durch
Revolution, sondern durch rational veranlasste Evolution. Dabei präzisierte sie
ihre Inhalte vorwiegend durch Übernahme der anthropologischen Prämissen des
frühen Karl Marx.
In der Phase ihrer weiteren Verbreitung als emanzipatorische
Pädagogik bezog sie die Grundthesen des "Symbolischen
Interaktionismus" (Mead) ebenso in ihren wissenschaftstheoretischen Ansatz
ein wie kommunikationstheoretische Annahmen, und als Kritik die in den USA von
Goffman entwickelten "frühen" Rollentheorien (in Deutschland Dahrendorf).
Diese Übernahmen führten zur Erhellung von Kommunikationsstrukturen
und ihre Einwirkung auf Identitätsbildungen. Außerdem lieferten sie ein
konkretes Modell "herrschaftsfreier Situation" als Kritikhorizont für
gesellschaftliche Kommunikation, die durch Gewalt und Herrschaft verzerrt ist.
Darüber hinaus leisteten sie eine Legitimation für emanzipatorische Prozesse,
indem Herrschaft und Unterdrückung auf Kommunikationsstrukturen zurückgeführt
werden konnten.
Das Wissenschaftskonzept ist in diesem Sinne wertorientiert,
aber Wissenschaft selbst hat nur dort eine Berechtigung, wo sie
emanzipatorisch-gesellschaftliche Interessen vertritt und Politik an die Idee
des "guten Lebens für alle" bindet.
Die Methode der Kritischen Theorie basiert auf der
Dialektik, wie sie im Marxismus für das Verhältnis von Individuum und
Gesellschaft problematisiert worden ist: Alles Denken und Handeln verweist letztlich
auf die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, in denen der Mensch
heranwächst und "sozialisiert" wird.
Das erlittene Leid, das für viele Menschen aus den ökonomischen
Verhältnissen und ihren Machtmechanismen entsteht, drängt auf die Aufhebung
dieser Zustände, solange sie sich im Widerspruch mit dem proklamierten Ideal
des liberal-bürgerlichen Selbstverständnisses befinden.
Bei ihrer Analyse der Erziehungswirklichkeit greift die
Kritische Theorie auf die Methoden der empirischen Sozialforschung zurück. Für
die Ermittlung notwendiger Veränderungen bedient sie sich der hermeneutischen
Methode. Von ihrem dialektischen Ansatz her ist sie zur Einlösung dieses
Wissens innerhalb der Erziehungspraxis verpflichtet.
Für das pädagogische Sollen kann die materialistische
Dialektik jedoch nur eine Orientierungsrichtung angeben, die weitere
Konkretisierung erfolgt im herrschaftsfreien Diskurs. Er ist der letzte
Legitimationshorizont, in dem alle die gleichen Kompetenzen besitzen und
verpflichtet sind, gemäß dem gemeinsam ermittelten Beschluss zu handeln. Das
Interesse an Emanzipation ist konstitutive Voraussetzung des Diskurses, da ein
Anspruch auf Humanität erhoben wird.
Die Tradition der Kritischen Theorie (so genannt nach dem
Aufsatz von Horkheimer "Traditionelle und kritische Theorie") beginnt
mit der Einrichtung des "Frankfurter Instituts für Sozialforschung".
Nach Carl Grünberg wurde 1931 Max Horkheimer Leiter des Instituts, das nach
1933 beim Machtantritt Hitlers ins Ausland verlagert wurde. Ihr weit
verbreitetes Publikationsorgan war die "Zeitschrift für Sozialforschung".
Ohne parteipolitische Bindungen widmete sich das Institut
dem Studium des Marxismus mit der Absicht, einerseits einem erstarrten
dogmatisch-dialektischen Marxismus entgegenzuwirken und andererseits das
kritische Potenzial der Marxistischen Theorie für eine Reform der bürgerlichen
Gesellschaft wirksam werden zu lassen.
Pädagogisch wirksam wurde die Kritische Theorie erst in der
Phase der Rückbesinnung auf eine sozial gerechte Erziehung nach den hektischen
Jahren des Wiederaufbaus. Sie wurde zur "Antipädagogik" einer
befriedigten bürgerlichen Wohlstandsideologie.
Ihre historischen Wurzeln liegen in der Aufklärung, vor
deren Einseitigkeit und Umschlagen ins Gegenteil Horkheimer/Adorno bereits 1947
in der "Dialektik der Aufklärung" warnten. Den Positivismus verstehen
sie als unreflektierten Forstschrittsoptimismus, in dem die Aufklärung ins rein
Logische umschlägt und scheitert.
Die Pädagogik der Kritischen Theorie versteht sich selbst
als wissenschaftliche Instanz der gesellschaftlichen Veränderung. Sie zielt auf
mehr Frieden, soziale Gerechtigkeit, Mündigkeit und Befreiung von überflüssigen
Zwängen durch Bewusstmachung dieser Zwänge. Die Menschen sollen in die Lage
versetzt werden, selbstbestimmt am öffentlichen Leben zu partizipieren, um die
Idee der "Humanität" zu realisieren. Das ist eine grundlegende
Komponente von Demokratisierungsprozessen.
Die Rechtfertigung von Zielen und Normen verweist die
Kritische Theorie in einen dreifachen Begründungszusammenhang. Grundlage ist
ein dialektisch strukturiertes und materialistisch ausgelegtes Verständnis der
Gesellschaft, in der Fortschritt und Besserung auf individueller Förderung
basieren.
Die Idee zukünftiger Gesellschaft bezieht sich auf eine
Gemeinschaft freier Menschen, die autonom und mündig in der Lage sind,
Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Der dritte Bezugspunkt ist der
"Diskurs im herrschaftsfreien Raum" (Habermas) als "Instanz der
Kritik aller unreflektierten sozialen Normen". Insofern ist der Diskurs
auch die "letzte Legitimationsbasis für Lernzielentscheidungen und
-begründungen" (Mollenhauer).
Grundbegriffe: Emanzipation, Aufklärung, Diskurs,
Gesellschaft, politische Beteiligung (Partizipation), Legitimation,
Ideologiekritik, Entfremdung, Humanität, Demokratie, Transparenz, Kommunikation.
Schwerpunkte im Praxisfeld von Erziehung sind das Aufdecken
aller Bedingungen, die dazu führen, dass durch Erziehung Ungleichheit,
Herrschaft und Unmündigkeit perpetuiert werden sowie das Transparentmachen und
die Demokratisierung von Entscheidungsprozessen.
Nach Klaus Mollenhauer ist der Bildungsprozess nicht nur
eine Ausformung der biologischen Ausstattung von Kindern. Er ist hochgradig
fremd-bestimmbar. Der pädagogische Begriff "Bildsamkeit" drückt aus,
dass es sich dabei um ein Produkt gesellschaftlich-menschlicher Tätigkeit
handelt, nicht um die Entfaltung angeborener Anlagen.
Das Kind muss lernen, sich dem vermittelten kulturellen
Bestand gegenüber kritisch und distanziert zu verhalten, um ihm nicht
ideologisch zu verfallen. Auch von jedem Wissenschaftler und Bürger verlangt
die Kritische Theorie, den historisch gegebenen Bestand an Werten und Normen,
Institutionen und Vorstellungen in eine kritische Distanz zu setzen und auf
seine Änderbarkeit zu prüfen.
Die traditionelle Erziehung ist ein Moment der
vorherrschenden bürgerlichen Gesellschaftsform: der kapitalistischen Ökonomie.
Pädagogen und Wissenschaftler sind in den gleichen historischen Zusammenhang
von Begriffen und Vorstellungen eingebunden, den sie erkennen wollen. Der
Gegenstand ihrer Erkenntnis, die Erziehung, ist ein Moment des gleichen
gesellschaftlichen Zusammenhangs wie ihre eigene Existenz. Deshalb ist es
wichtig, die Haltung einer kritischen Distanz einzuüben.
Für Klaus Schaller dient die bürgerliche Erziehung oft nur
den herrschenden Strukturen der Gesellschaft und denen, die an deren
Fortbestand interessiert sind. Sie steht vielfach im Widerspruch zur
gesellschaftlichen Erwartung nach einem Wandel und Besserung der Verhältnisse.
Kritische Erziehung stellt dagegen ein Potenzial gesellschaftlicher Veränderung
bereit. Erziehung und Politik stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander,
sie sind aufeinander bezogen und bedingen einander.
Nach Ansicht von Hans-Joachim Gamm ist die kritische
Pädagogik ohne die gesellschaftlichen Analysen der Frankfurter Schule nicht
denkbar. Diese wiederum fußen auf den philosophischen Systemen von Hegel und
Marx, ihre kritischen Analysen basieren auf dem Hintergrund der
spätbürgerlichen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Diese Gesellschaft ist nicht ohne Berücksichtigung des
Standes der Produktionsverhältnisse zu verstehen. Der sich selbst und dem von
ihm gefertigten Werk entfremdete Mensch lebt in einer Gesellschaft, deren
Herrschaftsverhältnisse nicht transparent sind. Seine Selbstverfügung ist
eingeschränkt und folglich auch seine Emanzipation zum Menschen erschwert.
Nur ein befreites Bewusstsein birgt die Möglichkeit
konkreter gesellschaftlicher Befreiung. Kritische Wissenschaft hat sich die
Aufgabe gestellt, gesellschaftliche Erfahrung aufzuarbeiten und die Ursachen
für die im Geschichtsprozess wirksam gewordene Entfremdung und Verdinglichung
aufzudecken.
Kritische Wissenschaft wirkt an der Veränderung und
Humanisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, um die evolutive
gesellschaftliche Weiterentwicklung zu beschleunigen. Die
historisch-materialistische Analyse von Karl Marx, sein Aufweis des
Widerspruchs zwischen Lohnarbeit und Kapital samt den daraus resultierenden
Verknechtungen, bietet dazu das praktische Instrument.
Kritische Theorie ist eine emanzipatorische Wissenschaft.
Ihre Pädagogik besteht darin, das kritisch Potenzial für eine Veränderung
aufbauen zu helfen, solidarisches Verhalten einzuüben und politisches Bewusstsein
zu stärken.
März 2003
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