GÖTTER-TYPOLOGIE
Die amerikanische
Psychoanalytikerin Jean Shinoda Bolen
kam auf die Idee, die Kräfte der menschlichen Seele mit griechischen Göttern zu
vergleichen, um sie besser verstehen zu können. Von jeher haben Menschen ihre
seelischen Regungen nach außen projiziert, wo sie als Naturereignisse besser
erfasst werden konnten. So bevölkerten sie den Himmel mit Göttern, die
stellverstretend für sie ihre inneren Kämpfe ausfochten und dabei adäquate
Verhaltensweisen lieferten.
Bolen geht davon aus, dass jeder Gott und jede Göttin sich
auf natürliche Weise im Denken der Menschen herauskristallisierte, weil sie
einen Aspekt repräsentierten, der auch heute noch die Persönlichkeit eines
Menschen bestimmt. Durch ihren Vergleich klassifiziert sie typische Verhaltensweisen,
zeigt Lösungen für Rollenkonflikte auf und lässt auch Entwicklungspotenziale
deutlich werden.
Archetypen bezeichnet sie
als latente, angeborene Grundmuster unseres Verhaltens und unserer Wahrnehmung
der Welt. Sie erwecken Gefühle und Bilder in uns, die universal sind und unser
menschliches Erbe bilden. Diese Muster liegen tief in der Seele verborgen und
wirken von innen heraus strukturierend auf uns ein.
Jean Shinoda
Bolen hat sie personalisiert und als Götter
dargestellt, die bestimmte Eigenschaften der menschlichen Psyche repräsentieren.
Damit benutzt sie die Mythologie als Erkenntnisinstrument, um die Motive und
Handlungsweisen von Frauen und Männern zu begreifen. Die mythische Dimension
ist ein Bestandteil des kollektiven Erbes der Menschheit und besitzt deshalb
immer auch eine persönliche Relevanz.
Als Jung’sche Analytikerin
distanziert sich Bolen jedoch von stereotypen
Charakterbildern ebenso wie von Freud’schen Dogmen. Der berühmte Neurologe
hielt z.B. Frauen für verkrüppelt und minderwertig, weil sie keinen Penis
haben, kritisiert sie. Seiner Theorie zufolge leiden sie unter Penisneid, sind
masochistisch haben nur ein schwach entwickeltes Über-Ich, also ein
minderwertiges Gewissen.
Die griechischen Götter und
ihre Mythologien dagegen entsprechen genau den menschlichen Einstellungen und
Verhaltensweisen, die wir im kollektiven Unbewussten wieder erkennen, das uns
allen gemeinsam ist. Zunächst werden die „Götter im Mann“ dargestellt
Griechische Mythen sind über
dreitausend Jahre hinweg lebendig geblieben und offenbaren uns Wahrheiten über
die menschliche Natur. Die Einsicht in die „Götter“ lässt Frauen ihre Männer
besser verstehen, Eltern ihre Söhne erkennen, und erlaubt ein deutlicheres Bild
des eigenen Vaters. Vor allem empfinden Männer eine große Freude, wenn das, was
sie tun, übereinstimmt mit dem, was sie sind. Umgekehrt kann es Schmerzen
verursachen, wenn das, was archetypisch wahr ist, unterdrückt wird.
Männer können es wie eine
Erleuchtung erleben, wenn etwas, das sie intuitiv über sich wussten, sich mit
einem klaren Bild und eindeutiger Definition verbindet. Dieser Blitz kann ihnen
offenbaren, worauf andere bei ihnen reagieren, und ihnen ihr Selbst deutlich
vor Augen führen. Archetypen, Götter oder Muster sind mächtige Kräfte, ganz
gleich, ob sie bewusst erkannt werden oder nicht. Die Götter können ihnen helfen,
sie selbst zu sein. Verleugnete Götter üben jedoch einen zerstörerischen Einfluss
aus.
Im Patriarchat gibt es immer
Gewinner und Verlierer. Bestimmte Archetypen werden gefördert, andere
abgelehnt. Eltern, Schulen und Gleichaltrige belohnen oder bestrafen kleine
Jungen für ihr Verhalten. Diese lernen, sich anzupassen und eine Maske zu
tragen, oder ihre Identität abzutöten. Alles, was nicht akzeptabel ist, wird zu
einer Quelle des Schuldbewusstseins und der Scham. Es ist eine psychologische
Selbstverstümmelung. Was am häufigsten abgetötet wird, sind die emotionalen,
verletzlichen, sinnlichen oder instinktiven Aspekte ihres Seins.
Es gibt Männer, bei denen
der Stereotyp (die Erwartung von außen) und der Archetyp (das innere Muster)
voll übereinstimmen. Ihnen macht es Spaß, Erfolg zu haben. Wenn sich ihr
archetypisches Muster jedoch von dem unterscheidet, was sie sein sollten, wird
die Anpassung zu einer qualvollen Angelegenheit. Sie werden nur unter schweren
Opfern die erwartete Rolle spielen und müssen wichtige Aspekte ihres Selbst abschneiden.
Bolens Götter-Genealogie ist gleichzeitig eine männliche
Typologie und bietet die Möglichkeit, diese verdrängten Teile wieder zu
entdecken, zu integrieren und damit zur persönlichen Ganzheit zu finden. Zuerst
werden die Erscheinungsformen des Vaters charakterisiert in Gestalt der
Götterväter Zeus, Poseidon und Hades, welche die Welt unter sich aufteilten.
Dann folgt die Generation der Söhne: Apollon, Hermes, Ares und Dionysos.
Zeus
war Herrscher über den Himmel, ein Regen- und Donnergott, dessen Symbol der
Blitzstrahl war. Er erschien den Menschen als Licht und brachte ihnen Erleuchtung
und Bewusstsein. Dank seiner Zeugungskraft hatte er zahlreiche Liebschaften mit
Göttinnen und sterblichen Frauen neben seinen offiziellen sieben Gemahlinnen.
Die letzte war Hera, die er ständig betrog. Er zeugte Götter und Halbgötter,
denen gegenüber er sich meist großzügig zeigte. Doch war er auch ein
aggressiver und inzestuöser Vater, der seinen Sohn Hephaistos misshandelte,
Ares missachtete, seine Tochter Persephone verführte und seinem Bruder Hades
erlaubte, sie zu vergewaltigen. Auf ihre Hilfeschreie reagierte er nicht.
Zeus steht für Macht,
Kontrolle und das Reich der mächtigen Männer, die anderen ihren Willen
aufzwingen. Die heutigen Schlachtfelder sind Unternehmen, in denen er als Chef
Leute anheuert und feuert, als Mafiaboss sogar tötet, ohne Skrupel zu empfinden.
Er vernichtet Versager aus den eigenen Reihen ebenso wie seine Rivalen. Zeus
ist ein autoritärer Vater bzw. ein rücksichtsloser Diktator. Auch Freunde
spannt er für seine Zwecke ein und benutzt sie wie Schachfiguren.
Als gewiefter Stratege
suchte er sich geeignete Bündnispartner und lässt sie fallen, wenn sie ihm
nicht mehr nützlich sind. Mitgefühl betrachtet er als Schwäche. Als Alfamännchen
schüchtert er Männer von niedrigerem Rang ein, prahlt mit sexuellen Heldentaten
und schmückt sich mit den begehrtesten Frauen. Aus seinem Geld leitet er das
Recht ab, sie alle zu besitzen und zu bestimmen, was sie tun.
Allerdings ist er kein guter
Liebhaber. Er ist nicht leidenschaftlich, sondern sexuell aggressiv und besitzt
keine Fähigkeit zur emotionalen Nähe. Seine Partnerinnen werden immer jünger.
Wie die griechischen Götterväter fürchteten, von ihren Söhnen entmachtet zu
werden, kämpft ein Zeus-Mann noch im Alter einen aussichtslosen Kampf in dem
überwältigenden Bedürfnis, seine Macht zu bewahren. Emotionale Leere, Mangel an
Kontakt und Depressionen sind die Folge. Die typische Krankheit eines
Zeus-Typen ist der Herzinfarkt.
Poseidon
ist der Gott der Meere und der Pferde. Beides sind Symbole des Unbewussten:
Wasser steht für die unbewusste Psyche, und Pferde für den instinktiven Trieb.
Seine Emotionalität entspricht den Launen des mächtig wogenden Meeres, dessen
Wellen über alle Vernunft hinwegdonnern. Poseidon verursacht Stürme, Erdbeben
und Flutwellen, die plötzlich hereinbrechen und alles verwüsten. Ebenso können
unter der Oberfläche des Bewusstseins schlummernde Kräfte plötzlich explodieren.
Poseidon zeugte viele Nachkommen, darunter Ungeheuer, heißblütige Riesen und
wilde Söhne. Doch konnte er trotz seiner stürmischen Veranlagung auch fürsorglich
sein und galt als Beschützer der Seeleute.
Poseidon war Gemahl der
Erdgöttin Gaia, die er mit dem Leben spendenden
Wasser versorgte, das sie brauchte, um fruchtbar zu sein. Sein Symbol war der
Dreizack, ein dreifaches Phallussymbol. Damit war er ein potenter Liebhaber
aller drei Funktionen der Großen Göttin: Jungfrau, Mutter und weise Alte. Unter
diesen drei Aspekten kann der Poseidon-Archetyp auch heute ein lebenslanger
Partner sein. Doch ist er jähzornig, gewalttätig und gefährlich wie das wütende
Meer.
Wenn die primitiven
Instinkte aus den dunklen Tiefen des kollektiven Unbewussten auftauchen, wird
sichtbar, was dort verborgen war: Seele und Schmerz, Schönheit und Grausen.
Diese unermesslichen Abgründe veranlassten Dichter, Komponisten und Maler zu
großartigen Werken, die der Schönheit und wütenden Macht des Schreckens Gestalt
verliehen. Da es ihm an strategischem Denken mangelte, verlor Poseidon meist
gegen andere Götter, wurde gedemütigt und reagierte mit ohnmächtiger Wut
darauf, wie alle Männer, die die Regeln nicht verstehen und nicht mit Anstand
verlieren können. Ein derart fanatischer und rachsüchtiger Mann legt Bomben, um
seine Widersacher zu zerstören.
Der wilde Mann ist aber auch
ein Symbol für Vitalität. Instinktiv und ungezähmt steht er im Einklang mit der
Natur, wird aber in unserer Kultur meist abgelehnt, bis Männer diese Quelle der
Stärke wieder entdecken und ihr einen Platz in der Gesellschaft zurück erobern.
Schon als Kind neigt er zu leidenschaftlichen Ausbrüchen. In einer Familie, die
Wert auf Manieren, Vernunft und Gehorsam legt, muss er seine Natur unterdrücken.
Wenn der Vater sein Temperament als Aufsässigkeit ansieht und es ihm austreiben
will, wird er seine Wut später an Schwächeren auslassen.
Im Umgang mit Frauen hat er
meist Pech, und die Poseidon-Ehen gehören zu den schlimmsten überhaupt. Die
tätlichen Angriffe auf seine Frau hinterlassen auch Spuren bei den Kindern. Sie
haben traumatische Angst vor seiner Wut und kuschen vor ihm. In friedlichen
Phasen kann er aber ein einfühlsamer Vater sein, empfänglich für Gefühle, ein
starker Mann, der lacht und weint und für seine Kinder da ist.
Hades
war Gott der Unterwelt und Herrscher über das Totenreich, aber nicht böse wie
der Teufel. Als Pluto repräsentierte er auch den Reichtum und wurde
symbolisiert durch das Füllhorn, das überfloss von Früchten, Juwelen und Gold.
Hades herrscht über unsere Ahnen sowie über unsere Depressionen. Er kann uns
zur Erleuchtung und Erneuerung führen, doch muss man in die Tiefe hinab
steigen, um seine Schätze zu entdecken. Im finsteren Reich der Ängste ist man
zunächst unfähig, Gefühle zu empfinden. Der Tod eines Nahestehenden, einer
Beziehung oder Hoffnung enthält den Geist des Hades. Doch nach einer Depression
oder einem Sterbeerlebnis gibt es keine Angst mehr vor dem Tod.
Hades’ Reich entspricht dem
persönlichen und kollektiven Unbewussten. Es ist der Sitz der schlechten
Gefühle und unakzeptablen Begierden, die wir verdrängt haben, weil sie zu
schmerzlich oder beschämend sind, um sie der Welt zu zeigen. Manche
Erinnerungen brauchen nur einen Anstoß, um ins Bewusstsein zurück zu gelangen,
andere werden mit viel Energie aktiv unterdrückt. Die Unterwelt war ein
schrecklicher Ort, an dem körperlose Schattenwesen lebten, die visuellen Echos
ihres früheren Selbst. Die meisten hielten sich auf der Asphodelos-Wiese
auf. Einige Auserwählte bewohnten Elysium, die Inseln der Seligen. Auf dem tiefsten
Grund lag Tartarus, ein Ort ewiger Finsternis, wo die
Schlechten bestraft wurden.
Der Hades wurde auch mit dem
Westen assoziiert. Sein Eingang lag an einer sonnenlosen Küste am Ende der
Welt. Unter der nordischen Göttin Hel war das Totenreich ein heiliger Schoß,
eine verborgene Höhle der Wiedergeburt. Die anfänglich mütterliche Unterwelt
ging später in die Sphäre der Väter über und nahm immer mehr negative Züge an.
In ihrer negativsten, christlichen Ausformung heißt sie Hölle und wird mit
Feuer und Verdammnis assoziiert. Die patriarchale
Religion sieht im Hades einen Hort des Bösen, vor dem man sich hüten muss,
statt ihn als Quelle des Reichtums anzusehen.
Alles, was wir für unsere
Ganzheit brauchen, existiert in der Unterwelt. Die Schatten, die dort in
Erwartung ihrer Wiedergeburt leben, brauchen lebendige Energie. Es sind
Archetypen bzw. Formen, die schon vor uns gelebt haben. Hades ist auch ein verdrängter
Aspekt des Vaterarchetypen: kalt, aber nicht übelwollend. Bei ihm fanden die
Toten Zuflucht, um hier ewig fortzuleben oder aus dem Fluss des Vergessens
(Lethe) zu trinken und ohne Erinnerung an die frühere Existenz wiedergeboren zu
werden. Hades symbolisiert das Jenseits und basiert auf der Voraussetzung, dass
die Seele nach dem Tod weiter lebt.
Der menschliche Hades ist
der Typ des isolierten Einsiedlers. Er mag weder beachtet noch belästigt werden
und zieht die Fülle seiner inneren Welt der äußeren vor. Unsere Gesellschaft
verachtet introvertierte Männer, doch kann dieser Archetyp eine bereichernde
Erfahrung sein, eine Quelle der Kreativität und Subjektivität. Er hilft uns mit
körperlichen Symptomen, instinktiven Reaktionen oder Geistesblitzen. - Ein in
sich gekehrtes Kind wie Hades erscheint schüchtern und verschlossen. Dadurch
wird es negativ beurteilt, entwickelt wenig Selbstbewusstsein und lernt schon
früh, dass etwas mit seiner Wahrnehmung nicht stimmt.
Der heranwachsende Hades ist
ein Individualist, macht sich nichts aus modischen Klamotten und hat genug
Oberflächlichkeit erfahren, um lieber allein zu sein, als mit den meisten
anderen Leuten zusammen. Wenn sein Interesse nicht in eine adäquate
Beschäftigung mündet, bleibt er beruflich auf der Strecke. Doch erledigt er
seine Arbeit gewissenhaft und behält auch einen langweiligen Job, weil das
wirkliche Leben sich ohnehin in seinem Inneren abspielt. Er braucht die
Verbindung zu seiner inneren Fülle, kann sich aber nicht mitteilen und führt
eine unauffällige Existenz.
Seine Libido ist nach innen
gerichtet. Als Gott warb er nicht um Persephone, sondern entführte und
vergewaltigte sie. Seinen Kindern ist er ein humorloser Vater, der
Pünktlichkeit verlangt, emotional verschlossen ist und ihnen nicht weiter
hilft. Heute ist ein solcher Mann oft eine hervorragende Stütze der Gemeinde.
Durch seinen Rückzug und sein Misstrauen können seine subjektiven Wahrnehmungen
pathologisch verzerrt und von der Realität losgelöst werden. In emotional
aufgeladenen Fällen dringen seine Träume in den Wachzustand ein und verursachen
Halluzinationen. Wenn das zu unangemessenen Handlungen führt, kann er sogar in
einer psychiatrischen Klinik landen.
Apollon, Gott der Sonne, war Zeus’ Lieblingssohn und vereinte die Schönheit der
Kunst und der Jugend in sich. Als Gesetzgeber und Gott der Weissagung
verkörperte er auch Geist und Intellekt. Sein Bogen war golden wie die Sonne,
der seiner Zwillingsschwester, der Jagdgöttin Artemis, silbern wie der Mond.
Beide straften schnell und gnadenlos. So töteten sie alle zwölf Kinder der Niobe, die ihre Mutter Leto gedemütigt
hatte, worauf sie zu Stein erstarrte. Durch eine List brachte Apollon Artemis
dazu, ihren Geliebten Orion versehentlich zu töten. Dafür tötete er aus
Versehen den Königssohn Hyakinthos, den er liebte.
Bei Frauen hatte Apollon
kein Glück. Als er sich über Eros lustig machte, schoss ihm dieser einen
Liebespfeil ins Herz, und einen Kältepfeil in das Herz seiner angebeteten
Daphne. Als seine Frau Koronis ihn betrog, tötete er
sie und riss seinen ungeborenen Sohn aus ihrem Leib. Auch die Königstochter
Kassandra war abweisend, obwohl er ihr die Gabe der Weissagung geschenkt hatte.
Seine Rache bestand darin, dass niemand ihr glaubte und man sie einsperrte, als
sie das Unheil von Troja voraussagte.
Um in den Besitz des Orakels
von Delphi zu kommen, das ein Heiligtum der Großen Göttin war, tötete Apollon
einen weiblichen Drachen namens Python. Da er das Recht und die Ordnung
repräsentierte, wurden seine Orakelsprüche für politische Zwecke benutzt, doch
waren sie oft dunkel und mehrdeutig. - Der Apollon-Archetyp
ist ein Erfolgstyp und Gewinner, der nach väterlicher Anerkennung strebt. Doch
schätzt er die Vorsicht und lässt sich nie auf ein Duell ein. Er beobachtet
lieber aus der Ferne, bevor er seine Waffen aktiviert.
Apollon liebt den Wettbewerb
und arbeitet auch gern mit kompetenten Frauen zusammen. Als Senkrechtstarter
kann er stellvertretender Direktor eines Konzerns sein, ohne Groll gegen den
Leiter zu hegen. Der apollonische Geist ist logisch
und bezieht sich auf die objektive Realität, die er in Prinzipien fasst. Er
weiß er genau, was richtig und falsch ist, distanziert sich von seinen Gefühlen
und strebt durch intellektuelles Verstehen himmelwärts. Während er nach außen
die freundliche Wettstreitpose beibehält, kann er hinterlistig und brutal sein.
Im Rahmen einer legalen
Rechte kann er grausam und unmenschlich strafen. Dabei umgeben ihn seine
Tugendhaftigkeit und Prinzipien wie ein Tempel. Wer einen Erfolg nach dem
anderen hat, wird leicht arrogant und aufgeblasen und verurteilt andere für
ihre Erfolglosigkeit, ohne die Umstände zu berücksichtigen. Ein Apollon-Mann fühlt sich zu unabhängigen, attraktiven Frauen
hingezogen, mit denen er oft das ideale Paar darstellt. Doch ist er kein guter
Liebhaber, weil es ihm an Leidenschaft mangelt. Da er sehr auf Äußerlichkeit
und Schönheit fixiert ist, bringt er es fertig, seine Partnerin zu verlassen,
wenn sie alt wird.
Hermes
war Götterbote, Schutzgott der Diebe, Reisenden und Geschäftsleute, sowie ein
Seelenführer, der verstorbene Seelen in die Unterwelt geleitete. Er besaß geflügelte
Sandalen und personifizierte die Geschwindigkeit, rasche Auffassungsgabe und
Redegewandtheit. Als Gott des Glücks und Zufalls überschritt er alle Grenzen und
Dimensionen. Er war der Sohn von Zeus und Maia, einer
scheuen Göttin, die in einer Berghöhle lebte. Hermes kam am Morgen zur Welt,
erfand gegen Mittag die Leier, stahl dann Apollons
Rinder und lag am Abend wieder unschuldig in der Wiege. Als Apollon sich bei
Zeus beschwerte, lachte dieser schallend und belohnte Hermes für seine
Geschicklichkeit.
Hermes hatte viele Söhne. Autolykos erbte von ihm die Gabe der Täuschung, Myrtilios die Erfindungsgabe. Der lüsterne Pan war von den
Hüften abwärts ein Ziegenbock. Als Gott der Wälder und Weiden erschreckte er
einsame Wanderer und erzeugte Panik, einen Zustand irrationalen Entsetzens. Eudorus war ein fürsorglicher Schäfer, Hermaphroditos
reflektierte Hermes’ androgyne Natur. Zwei Schlangen auf Hermes’ Stab symbolisierten
die Symbiose des männlichen Geistes mit der weiblichen Seele. Die
Doppelschlange repräsentierte auch den Zwillingsfaden von Tod und Wiedergeburt.
Heute sieht man darin ein Symbol für die DNS-Kette, mit deren Hilfe kodierte
genetische Information in lebende Materie übertragen wird.
Hermes ist ein listiger
Schelm und charmanter Dieb. Doch wird er für seine Gerissenheit mehr bewundert
als verurteilt. Als Kind ist er frühreif und neugierig, hat ein aufrichtiges
Interesse an allem und kommt mit jedem gut zurecht. Erwischt man ihn mit dem
Finger im Marmeladenglas, reagiert er voller Unschuld und Charme. Bringt man
ihm nicht bei, die Sachen anderer zu respektieren, fängt er an zu stehlen. Oft
denkt er sich Geschichten aus, mit denen er die Grenze zur Lüge überschreitet.
Es ist wichtig, ihm den
Unterschied zwischen Phantasie und Wahrheit klarzumachen, statt ihn durchkommen
zu lassen. Eltern von jugendlichen Straftätern vermitteln oft eine doppelte
Botschaft, in der sich die unterschwellige Information von der offiziellen
unterscheidet. Sie bestrafen zwar ihren Sohn, machen aber durch ein anerkennendes
Lächeln den Erfolg wieder zunichte und sind sich nicht bewusst, dass sie damit
sein Potenzial zu asozialem Verhalten fördern. Er muss Wiedergutmachung leisten
und sich entschuldigen, wenn er etwas geklaut hat.
Durch die Vielfalt seiner
Interessen findet er immer alternative Lösungen und Abkürzungen. Er ist ein
phantasievoller Alleskönner, ein Erneuerer, der Ideen aus verschiedenen
Bereichen kreuzt, aber niemals ein Rädchen im Getriebe eines großen Konzerns.
Ein moderner Hermes fühlt sich wohl in der Welt der Diplomatie oder internationalem
Business, ist Touristenführer oder Teppichhändler. Einfallsreichtum und
Vermittlungsgeschick setzt er kreativ ein, oder um jemanden zu täuschen. Als
erstklassiger Problemlöser interessiert er sich nicht für Moral oder Legalität
und fungiert auch als Rechtsberater für die Mafia.
Im Leben einer Frau taucht
er urplötzlich auf, ist bezaubernd und verführerisch mit einer Aura von Abenteuer
und jungenhafter Aufsässigkeit, und verschwindet ebenso plötzlich ohne ein
Wort. Hermes liebt sexuelle Experimente und setzt sich mit seiner
Überredungsgabe auch meistens durch. Ausbeuterisch nimmt er, was er bekommt,
ohne Verantwortung für die Konsequenzen zu übernehmen. Als Vater ist er völlig
ungeeignet. Er setzt keine Grenzen, zieht seine Kinder nicht zur Rechenschaft,
sondern zeigt ihnen, wie man Regeln bricht und Aufgaben zur Seite schiebt.
Andererseits spielt er
hingebungsvoll mit ihnen, verleitet sie zu Abenteuern und benimmt sich selbst
wie ein Kind. Im Normalfall ist er ständig unterwegs oder hat seine Familie
bereits verlassen. Im Alter kann er seinen Mangel an Substanz nicht länger
überspielen, und es wird offensichtlich, dass er ein Versager ist. Manchmal
lebt er im Elend, ist auf der Flucht vor seiner Vergangenheit oder sitzt im
Gefängnis, wird zum heimatlosen Wanderer oder lässt sich in Krankenhäuser
einweisen, um zu überwintern. Doch reißt er bis zuletzt andere mit seinen Ideen
mit und hält den Tod wohl für sein nächstes großes Abenteuer.
Ares ist
in zwei Rollen bekannt: Als Kämpfer und als stürmischer Liebhaber. Als Gott des
Krieges verkörpert er die ungezügelte Aggression, bevor sie von der
Zivilisation gezähmt wurde. Ares agiert instinktiv mit seinem ganzen Körper und
ist der Inbegriff männlicher Kraft und Intensität. Seine Mutter Hera empfing
ihn parthenogenetisch, ohne Zeus’ Beteiligung. Zuerst
wurde er als Tänzer ausgebildet, dann zum Krieger. Sein archetypisches Muster
ist eher durch Sinnlichkeit als durch Technik geprägt.
Ares und Aphrodite bildeten
ein berühmtes Liebespaar. Sie hatten die Söhne Phobos
und Daimon (Angst und Schrecken), die Tochter Harmonia, und in manchen Mythen Eros, den Gott der Liebe.
Als Vater setzte sich Ares leidenschaftlich für seine Kinder ein. Als ein Sohn
Poseidons seine Tochter vergewaltigte, schlug Ares ihn auf der Stelle tot. Als
Aphrodite sich in Adonis verliebte verwandelte Ares sich in einen Eber, der den
Schönling tötete. Hephaistos, Aphrodites Ehemann, wollte die beiden auf frischer
Tat ertappen und konstruierte ein unsichtbares Netz, das er über sie warf. Doch
als er die Götter herbeirief, um den Verrat zu beweisen, erntete er nur schallendes
Gelächter.
Wenn seine Rachlust geweckt
wird, schlägt der Ares-Archetyp nur noch wild um
sich, ohne nachzudenken. Der heutige Rambo kann als Soldat ein hoch dekorierter
Held sein, der sich an Tod und Zerstörung berauscht. Auch bei
Kneipen-Schlägereien und auf dem Fußballfeld lässt er seinem Hass freien Lauf.
Doch war Ares auch ein Beschützer und stürzte sich sofort in den Kampf, wenn
Schwache angegriffen wurden. In unserer Kultur wird er eher unterdrückt als
kultiviert. So lernt er jedoch nie, zu wachsen und seine positiven
Eigenschaften zu entwickeln.
Als fordernder, wütender
Vierjähriger kann Ares eine nachgiebige Mutter einschüchtern und tyrannisieren
und einen jähzornigen Vater provozieren. Dann erfüllt sich das bekannte Muster:
Ein misshandelter Junge wächst zu einem gewalttätigen Mann heran. In der Pubertät
steigern männliche Hormone seine Aggressivität und Sexualität noch. Wenn er
lernt, beides im Sport zu disziplinieren, wird er Anerkennung ernten. Kann er
jedoch seine Triebe nicht kanalisieren, wird er asozial, schließt sich vielleicht
einer Bande an und führt Krieg. Im Beruf braucht er Action und Bewegung; Hierarchie
und Schreibtischarbeit langweilen ihn. Hat er Erfolg, sind alle überrascht, er
selbst am meisten.
Seine Beziehungen zu Frauen
verlaufen stürmisch, mit erotischem Feuer und flammendem Zorn. Sie sind von
Streit und Versöhnung geprägt und trotz aller Intensität manchmal sehr
harmonisch, voller Toleranz und Achtung. Ares-Männer
können freundschaftlich und verständnisvoll zu Frauen sein, egal in welchem
Alter. Die Kombination mit einer nachgiebigen Frau ohne Selbstachtung kann sich
jedoch zerstörerisch auswirken. Körperliche Misshandlung ist das Schlimmste,
was Frauen und Kindern passieren kann. Seine Frau muss wissen, dass die Gewalt
nicht aufhört, wenn sie nichts dagegen unternimmt. Sie muss ihn verlassen oder
die Polizei rufen, auch um ihm zu helfen, damit aufzuhören.
Ob ein Ares-Mann
Frauen liebt oder sie verprügelt, hängt davon ab, was er in der Kindheit erlebt
hat. Im besten Fall schläft er gern mit ihnen und liebt sie voller Hingabe und
Zärtlichkeit. Er bevorzugt erwachsene, sexuell befreite Frauen. Wenn er einen
Job hat und mit seinen Kumpels Fußball spielen kann, geht alles gut. Im Arbeiter-Milieu
hat er es leichter, hier werden körperliche Beschäftigungen akzeptiert, und er
kann Selbstachtung daraus schöpfen. Enge Kameradschaften entstehen auch unter
Soldaten, wenn sie sich raufen und ihre Kräfte messen.
Im Patriarchat werden Ares-Männer auf den Schlachtfeldern des Erfolgs oft als Versager
erniedrigt und geopfert. In einer Umgebung von Puritanismus und Heuchelei
schneidet er nicht gut ab, wird bloßgestellt und seine Unbefangenheit als Sünde
angesehen. Da er als Unruhestifter bekannt ist, wird er ohnehin oft zum
Sündenbock gemacht. Sein Leben verläuft gefährlich, deshalb stirbt erb manchmal
früh durch Gewalt, Unfall oder im Krieg. Unsere Kultur unterstützt nicht die
Werte, für die er steht. Doch kann jeder Ares-Mann
seinen impulsiven Aspekt kultivieren. Er ist ein natürlicher Beschützer und
kann zu einem politischen Führer werden, der für die Menschenrechte kämpft.
Dionysos
war der Gott des Weines und der Ekstase. Er stand für die Wildheit seligen
Rausches und verzückter Liebe, war aber auch der Leidende, Sterbende und Wiederauferstehende.
Er verkörpert Wahnsinn und Spiritualität in der Psyche des Mannes. Dionysos
entsprang einer Verbindung zwischen Zeus und Semele,
der Tochter des Königs von Theben. Als die eifersüchtige Hera dahinter kam,
überredete sie Semele, sich von der Göttlichkeit
ihres Liebhabers zu überzeugen. Daraufhin verglühte Semele
im Feuer seines Blitzes. Zeus riss ihren ungeborenen Sohn aus ihrem Schoß und
barg ihn in seinem Schenkel, der ihm als Brutkasten diente.
Dionysos wuchs als Mädchen
auf, aber keine Verkleidung schützte ihn vor Heras Zorn. Sie versetzte seine
Pflegeeltern in Raserei, bis sie versuchten, ihn zu töten. Zeus rettete ihn und
übergab ihn den Nymphen, die ihn in einer Höhle aufzogen. Sein Lehrer war Silenus, halb Mensch, halb Pferd. Als junger Mann reiste
Dionysos nach Ägypten und Indien, wo er den Weinanbau verbreitete. Raserei und
Gewalt begleiteten ihn. Entweder wurde er selbst von Hera in den Wahnsinn
getrieben und beging Mord und Totschlag, oder die Menschen in seiner Umgebung
wurden rasend und gewalttätig. König Lykurgus tötete
seinen Sohn mit einer Axt in dem Glauben, er hacke eine Rebe ab; seine Töchter
rissen ihre Kinder in Stücke.
Nach seiner Rückkehr erlöste
ihn Rhea, eine vor-olympische Göttin der Großen Mutter, von der Raserei und
machte ihn zum Priester der Großen Göttin. - Ariadne, Tochter des Königs Minos, verliebte sich in den Athener Theseus, der in das
berühmte Labyrinth eindrang, den Minotaurus tötete und mit ihrer Hilfe wieder
heraus fand. Sie reisten gemeinsam nach Athen, aber auf der Insel Naxos verließ er sie. Sie wollte sich umbringen, aber
Dionysos rettete sie, machte sie zu seiner Frau und erhob sie damit wieder zur
Göttin, denn sie früher eine kretische Mondgöttin gewesen, die von den Griechen
in eine Sterbliche verwandelt worden war.
Dionysos stieg auch in den
Hades hinab, um seine Mutter Semele wieder zum Leben
zu erwecken. Gemeinsam bestiegen sie den Olymp, wo sie unsterblich wurde. Auch Semele war in prä-hellenischen
Zeiten als Erd- und Mondgöttin verehrt worden. So rehabilitierte er frühere
Göttinnen, deren Kult und Anhänger besiegt worden waren. Die Anhänger des
Dionysos, allen voran die Frauen des alten Kults, kommunizierten mit ihrem Gott
in abgelegenen Bergwelten. Dieser Gottesdienst wurde „Orgia“
genannt und mit Wein und sakramentalen Rauschmitteln eingeleitet. Besessen von
ihrem Gott betraten sie sein Reich des Irrationalen und tanzten zum rasenden
Rhythmus von Flöten, Pauken und Becken bis zur Ekstase.
In der orphischen Theologie
war das Kind Dionysos von zwei Titanen in Stücke gerissen und verschlungen
worden, doch Athene hatte sein Herz gerettet, so dass er wiedergeboren werden
konnte. So begann der heilige Tanz mit der rituellen Erweckung des Säuglings
Dionysos. Im Wechsel von Inferno und Totenstille fühlten die Gläubigen sich
eins mit dem Gott. Ihren Höhepunkt erreichte die Orgie, wenn sie ein Opfertier
in Stücke rissen und sein rohes Fleisch als Inkarnation ihres Gottes aßen. Das
war der Akt der Kommunion, durch den Dionysos in seine Anhänger überging.
Später fand das Fest des
Dionysos offiziell nur noch alle zwei Jahre in Delphi statt, wo sein Grab lag,
und war auf weibliche Vertreter der Städte begrenzt. Damit war Dionysos zwar
anerkannt, aber institutionalisiert. Er war ein Gott, der starb, in die Unterwelt
ging, und dann als Kind wiedergeboren wurde. Dieses Mysterium mündete
schließlich in ein Blumenfest, bei dem im Frühling nur noch junger Wein geweiht
wurde. - Der Archetyp Dionysos besitzt mächtige positive und negative
Potenziale; er kann die höchsten und niedrigsten Gefühle gleichzeitig erwecken.
Mystiker und Mörder werden von ihm beeinflusst. In unserer Kultur wird er von
Kindheit an rigoros unterdrückt, so dass seine Authentizität verloren geht.
Der Archetyp des göttlichen
Kindes strahlt etwas Besonderes aus. In unseren Träumen zeigt er sich oft als
altkluges Kind, das zu dem Träumer spricht. Es löst in ihm das Gefühl aus, sein
Leben habe eine heilige Bedeutung, und seine Psyche enthalte göttliche
Elemente. So ein Erlebnis ist typisch für den Beginn einer Individuation. Wer
sich mit dem Kind identifiziert, kann sich im Leben schwer anpassen und
erwartet eine Sonderbehandlung. Psychologisch gesehen ist er von einem
unbegründeten Gefühl der Bedeutung erfüllt.
Dionysos ist ein impulsiver
Jüngling, der in seiner Passion versinkt. Musik und Drogen ziehen ihn magisch
an. In den 60er Jahren war die Hippie-Bewegung Ausdruck dieses Archetyps, als
die Blumenkinder die sexuelle Revolution feierten. Seinen höchsten Ausdruck
fand Dionysos in der Rock-Kultur, verkörpert von Jim Morrison und Mick Jagger.
Die meisten Rock-Stars kultivierten ein androgynes Äußeres. Viele hatten auch
eine dunkle Seite, die von den Punkrockern unterstrichen wurde. Dionysos
verwirrte den Geist wie eine Droge. Wenn er auftauchte, gerieten seine Mänaden
in einen Zustand der Verzückung, irren Tanzes und rasender Wut.
Ähnliches spielt sich heute
bei Rockkonzerten ab, wenn der Star auftritt und das Publikum durchdreht. C. G
Jung verglich die Sucht mit der Spiritualität und meinte, dass nur eine
religiöse Erfahrung Heilung bringen könne, denn die Sucht entspreche dem
spirituellen Durst nach Ganzheit, also der Einheit mit Gott. Der psychologische
Prozess geht von ekstatischen Höhen bis in tiefe Melancholie, wenn eine
ungeheure Wichtigkeit in lähmende Depression und schockiertes Grauen übergeht.
Friedrich Nietzsche verbrachte elf Jahre in geistiger Umnachtung und setzte die
Auflösung seiner Psyche mit der Zerstückelung des Dionysos gleich.
Ein Mann des
Dionysos-Archetyps fühlt sich Frauen stark verbunden. Da er sie intuitiv
versteht, ist er lieber mit ihnen als mit Männern zusammen, und in der Ekstase
des Geschlechtsaktes verschmilzt er mit ihnen. Wie Dionysos wachsen auch viele
Schamanen bei Frauen auf und werden wie ein Mädchen erzogen. Die schamanische
Psyche ist häufig die eines Zwitterwesens, halb Mann, halb Frau. Schamanen sind
Vermittler zwischen der unsichtbaren und der materiellen Welt. Offenbar ist
eine androgyne Psyche der Schlüssel zur schamanischen Vision.
Die Ethnologen Carlos
Castaneda und Lynn Andrews berichten von ungewöhnlichen Realitäten und
veränderten Bewusstseinszuständen, die sie bei ihrer Initiation durch
Schamaninnen und Medizinfrauen in der Stammesgesellschaft erlebt hatten. Da die
Spiritualität der Großen Göttin laut Bolen heute
wieder an Bedeutung gewinnt, kann Dionysos als ihr Priester Frauen in extreme
Zustände einführen, geprägt von grenzenloser Lebensfülle und wilder Zerreißung.
Diesen dualistischen Aspekt zu erfahren, bedeutet für eine Frau, die
ekstatische Einheit mit einem Mann zu erreichen, der sie im nächsten Moment in
Stücke reißt.
Wenn der Dionysos-Typ ein
instabiles Ego besitzt und starke emotionale Traumata erlitten hat, kann er zum
Massenmörder werden wie Charles Manson: Mystiker, Liebhaber und Killer
zugleich. Bei einem starken Ego kann er ein halbwegs normales Leben führen,
seine Gefühle vertiefen, ekstatische Erlebnisse haben und seine erotischen wie
spirituellen Reaktionen intensivieren. Wenn seine Sinnlichkeit und Ästhetik in
die Arbeit einfließen, kann sie künstlerische und philosophische Tiefen
erreichen. Seine instinktive, leidenschaftliche Erotik bricht jederzeit hervor
und wird durch Musik oder Drogen ekstatisch verstärkt.
Die Liebe empfindet er als
archetypische Erfahrung. Seine Geliebte kann ihm hörig werden und ist dann
seinen charakteristischen Stimmungsschwankungen ausgeliefert. Er ist kein guter
Ehemann. Das Leben mit ihm ist finanziell und emotional unberechenbar. Bei den
Kindern anderer Leute kann er einschlagen wie eine Bombe, seine eigenen werden
jedoch oft vernachlässigt. Es ist kein Verlass auf ihn, er trägt keine
Verantwortung und bricht seine Versprechen. Allerdings nimmt er großen Anteil
an der Geburt, die er als mystisches und ekstatisches Erlebnis erfährt.
Erich Neumann macht darauf
aufmerksam, wie wichtig es ist, dass aus dem androgynen Sohngeliebten ein Held
wird. Er muss sich bewusst den Ungeheuern und Schrecken des Unbewussten
aussetzen, dem Nicht-Ich, dem Dunkel, dem Nichts, der Leere, dem Urschoß der
Großen Mutter, wo das Ego von irrationalen Ängsten überwältigt werden kann.
Dann kann er mit einem intakten Ich gestärkt aus der Erfahrung hervorgehen.
Ekstatische Erlebnisse statten ihn mit spiritueller Ganzheit aus, und er
begreift sich als einen Teil der Natur und der Menschheit. Diese Gelassenheit
verwandelt den Tod in eine weitere Erfahrung, die es voll auszukosten gilt.
An dieser Stelle werden die
„Göttinnen in der Frau“ charakterisiert. Jean Shinoda
Bolen verwendet sieben griechische Göttinnen für ihre
Klassifikation, die sie in drei Kategorien einteilt: drei jungfräuliche Göttinnen,
drei verletzliche Göttinnen und eine alchemistische Göttin. Zu den jungfräulichen
zählt sie Artemis, Athene und Hestia; zu den
verletzlichen Hera, Demeter und Persephone; die
alchemistische Göttin der Wandlung ist Aphrodite.
Die drei jungfräulichen
Göttinnen sind unabhängig und selbstgenügsam. Sie verlieben sich nie, werden
nie in die Rolle des Opfers gedrängt und leiden auch nicht. Artemis und Athene
vertreten Zielgerichtetheit, logisches Denken und sind leistungsorientiert. Hestia richtet ihre Aufmerksamkeit nach innen, auf das
spirituelle Zentrum der weiblichen Persönlichkeit. Artemis (römisch: Diana)
wurde als Göttin der Jagd und des Mondes verehrt. Sie galt als Beschützerin von
Neugeborenen und jungen Tieren der Wildnis. Athene (römisch: Minerva) ist die
Göttin der Weisheit und der Künste. Als Beschützerin zahlreicher Helden galt
sie als die beste Strategin. Hestia (römisch: Vesta), die Göttin des Herdes und der Tempel, ist im
Herdfeuer in der Mitte von Tempeln und Häusern anwesend.
Die drei verletzlichen
Göttinnen suchen die Beziehung zu anderen Göttern und sind daher verwundbar.
Sie verkörpern die traditionellen Frauenrollen von Ehefrau, Mutter und Tochter,
und wurden vergewaltigt, entführt, unterworfen und gedemütigt. Hera (römisch:
Juno), die Göttin der Ehe, ist die Gemahlin von Zeus, dem obersten Herrscher
des Olymps. Demeter (römisch: Ceres)
ist die Göttin der Kornfelder. Sie verkörpert den Mythos der Mutter. Persephone
(römisch: Proserpina) ist die Tochter Demeters und symbolisiert das Aufkeimen der Früchte im Frühling.
Aphrodite (römisch: Venus),
die Göttin der Liebe und Schönheit, bildet eine eigene Kategorie. Als
alchemistische Göttin steht sie für Erotik, Kreativität und neues Leben. Sie
knüpft ihre Beziehungen nach eigener Wahl und wird nie in die Opferrolle gedrängt.
Ihre Autonomie hält sie stets aufrecht und hat sowohl ein fokussiertes als auch
ein rezeptives Bewusstsein (zielgerichtet und empfänglich). Der
Aphrodite-Archetyp bewirkt, dass Frauen in ihren Beziehungen eher nach
Intensität als nach Dauer streben, dass sie kreative Prozesse initiieren und
für Veränderungen offen sind.
Artemis streifte mit ihrem Gefolge von Nymphen und
Jagdhunden durch die Wildnis. Als Bogenschützin
verfehlte sie niemals ihr Ziel, als Mondgöttin war sie eine Lichtträgerin und
verkörperte den erdhaften Aspekt der dreifachen Himmelskönigin. Hirschkuh, Hase
und der wilde Eber waren ihre Attribute als Jägerin, der Bär symbolisierte ihre
Rolle als Beschützerin jungen Lebens und Patronin der Mädchen. Sie kam auch
ihrer Mutter Leto wiederholt zu Hilfe. Aus Versehen
tötete sie im Wettkampf Orion, einen Jäger, den sie liebte.
Der Artemis-Archetyp
verleiht Frauen die Fähigkeit, sich auf das zu konzentrieren, was sie für
wichtig halten. Sie sind unabhängig von Männern und lieben den Wettbewerb,
dessen Herausforderungen sie mit tödlichem Ernst verfolgen, ob im Beruf oder
beim Kartenspiel. In der Ehe hegen sie oft einen Groll auf den Erfolg ihrer Männer
und versuchen, sie zu übertreffen. Viele organisieren sich in Frauenbewegungen
und Schwesternschaften, kultivieren eigene Projekte und ihre Arbeit, lieben die
Natur und treiben Sport. Artemis-Frauen vertreten ihre Prinzipien vehement und
kämpfen für die Gerechtigkeit. Anerkennung ist ihnen enorm wichtig.
Frauen dieses Typs verachten
ihre Mütter manchmal als zu passiv und schwach, und wollen ihnen nicht ähnlich
werden. Auf Kritik seitens des Vaters reagieren sie äußerlich trotzig, aber
innerlich verletzt. Beruflich erreichen sie oft Erfolg, Ruhm, Macht und Geld.
Ihre Sexualität ist nicht immer entfaltet, manche sind androgyn oder lesbisch.
Beziehungen spielen für sie eine zweitrangige Rolle, eine Schwangerschaft kann
ihren Widerwillen auslösen. Artemis-Frauen können auch unbarmherzig und destruktiv
sein und anderen Leid zufügen. Zuweilen sabotieren sie sich selbst oder werden
von Gefühlen der Unzulänglichkeit gequält.
Athene wurde als vornehme, schöne Kriegsgöttin meist mit
einer Rüstung dargestellt. In Friedenszeiten herrschte sie über das Handwerk
und die Künste. Ihre Attribute waren die Eule als Symbol der Weisheit und die
Schlange als Zeichen ihrer weiblichen Macht. Athene dachte rational und
zielgerichtet, sie schätzte die Herrschaft des Willens und des Intellekts über
die Instinkte und Triebe. Bekannt war sie für ihre siegbringenden Strategien
und praktischen Lösungen. Im Gegensatz zu Artemis fühlte sie sich in der Stadt
wohl. Athene war die rechte Hand von Zeus, ihrem Vater, und stellte sich auf
die Seite des Patriarchats.
Athene-Frauen leben nach
eigenen Prioritäten und kümmern sich nicht um die Bedürfnisse anderer.
Allerdings suchen sie die Gesellschaft der Männer als Kameraden und Kumpel. Im
Geschäftsleben, in Wissenschaft, Militär oder Politik setzen sie ihre taktische
Diplomatie effizient ein. Um vorwärts zu kommen, benutzen sie auch hinterhältige
Listen und greifen auf Gönner und Verbündete zurück. Neben ihrer Intelligenz
verfügen sie über handwerkliches Geschick. Als Vaterstöchter sind sie konservativ
und verteidigen die Tradition. Ihre Mütter betrachten sie manchmal als völlig inkompetent,
und die meisten anderen Mädchen als albern und dumm.
Freundschaft verwechseln sie
oft mit Wettbewerb und wenden schmutzige Tricks an, um Rivalinnen
auszuschalten. Demzufolge haben sie wenig Freundinnen. Als Karrierefrauen
arbeiten sie hart und warten nicht auf den Märchenprinzen. Für ihre Männer-Beziehungen
kommen nur Helden in Frage, an deren Macht sie partizipieren. Mit Tagträumern,
Dichtern oder Künstlern haben sie keine Geduld. Athene-Typen besitzen wenig Empathie
und ein schlecht entwickeltes Körpergefühl, sind weder sinnlich noch
romantisch. Mit ihrem sezierenden Verstand kritisieren sie menschliche Schwächen
und erheben sich als Richter über andere, um sie einzuschüchtern und ihre Unzulänglichkeiten
zu entlarven.
Hestia, die Göttin des Feuers, machte ein Haus oder einen
Tempel zum Heiligtum, wenn sie den Herd in der Mitte des Gebäudes bezog. Ihr heiliges
Urfeuer verkörperte Licht, Wärme und Spiritualität; es wurde auch als Quelle
mystischen Wissens betrachtet. Hestia beteiligte sich
nicht an den Liebesaffären und Kriegen der anderen Götter, wagte sich auch
nicht in die Wildnis und gründete keine Stadt, sondern blieb selbstgenügsam im
Haus. Ihr Bewusstsein war nach innen gerichtet; sie suchte intuitives Wissen
durch Meditation. Die innere Betrachtungsweise vermittelte ihr eine
Losgelöstheit, mit der sie die Essenz einer Situation klar erfassen konnte.
Frauen, bei denen der Hestia-Archetyp dominiert, gedeihen in religiösen Gemeinschaften
und Orden. Im Kloster geben sie gern ihre frühere Identität auf, streben nach
Selbstlosigkeit, leben im Zölibat und widmen ihr Leben dem religiösen Dienst.
Berühmte Mystikerinnen beeindrucken uns durch ihre ekstatischen Schriften sowie
die weise Betrachtungsweise eines geläuterten Charakters. Oft trifft man sie
als alte Jungfer oder unverheiratete Tante. Aber auch die Haushaltsführung und
Kindererziehung kann als eine Form religiöser Verehrung erfüllt werden. Dann
vollzieht sie bereits das Tischdecken als rituelle Zeremonie.
Hestia verkörpert die innere Energiequelle, den ruhenden
Punkt des Selbst, und spürt in ihrer Ganzheit das Wesen aller Dinge. Ihren
weiblichen Werten kam früher die höchste Ehre zu. Frauen dieses Archetyps sind
in einem spirituellen Band mit anderen Menschen verbunden, besonders mit ihrer
Familie. Sie gelten als schüchtern und introvertiert, erfüllen unauffällig ihre
Pflicht und schaffen ein geborgenes Zuhause. Beruflich mangelt es ihnen an
Ehrgeiz und Antrieb. Sie streben nicht nach Anerkennung und geben sich mit
einer traditionellen Frauenrolle zufrieden, behalten aber trotzdem ihre innere
Unabhängigkeit.
Hera war die stattliche, hoheitsvolle Gemahlin des Zeus.
Ihre Symbole waren die heilige Kuh, die als Nahrungsspenderin mit der Großen
Göttin assoziiert wurde, sowie Lilien, die vom Himmel getropft waren, als die
Milchstraße aus der Milch von Heras Brüsten entstand. Die Lilien stehen auch
für die weibliche selbstbefruchtende Kraft. Als ehemalige Himmelskönigin wurde
Hera von Homer auf eine rachsüchtige, eifersüchtige Ehefrau reduziert, die von
Zeus ständig betrogen wurde. Heras Zorn richtete sich jedoch nie gegen ihren
Gemahl, sondern stets gegen seine Geliebten.
Der Hera-Archetyp
repräsentiert die Sehnsucht nach dem Status einer Ehefrau. Sie braucht das Prestige
und den Respekt, die mit einer Ehe einhergehen. Als strahlende Braut findet sie
in der festlichen Hochzeit ihre Erfüllung. Erst dann fühlt sie sich
gesellschaftlich akzeptiert und schaut auf unverheiratete Frauen herab. Hera
entwickelt matronenhafte Eigenschaften und ist oft in der Rolle der „gnädigen
Frau“ anzutreffen. Die Karriere ihres Mannes ist ihr wichtig, der eigene Beruf
nur zweitrangig. Ledige Frauen betrachtet sie als potenzielle Bedrohung und
lässt sie gesellschaftlich fallen; besonders Aphrodite wird von ihr
ausgeschlossen und geächtet.
Als betrogene Gattin
entwickelt sie eine zerstörerische Wut gegen die Rivalin, manchmal sogar gegen
die eigenen Kinder, die sie auch als Rivalen betrachtet, aber nie gegen ihren
Mann, von dem sie abhängig ist. Von ihm erwartet Hera die Erfüllung
schlechthin. Seine Macht fasziniert sie, und in ihrem Sicherheitsbedürfnis
glaubt sie ihm alle Lügen. Geschlechtsverkehr betrachtet sie eher als
Pflichtübung. Wenn ihr Mann sich anderen Interessen zuwendet, empfindet sie
eine innere Leere, wahrt aber immer den Schein. Selbst als Geschiedene
betrachtet sie sich noch als die rechtmäßige Gattin und torpediert seine neue
Beziehung.
Demeter war die Göttin der fruchtbaren Kornfelder und lebte
in enger Symbiose mit ihrer Tochter Persephone. In der patriarchalen
Version des Mutter-Tochter-Mythos wurde Persephone durch Hades entführt und
vergewaltigt. Da Zeus ihn dabei unterstützt hatte, fühlte sich Demeter verraten und weigerte sich, ihre Aufgabe als Fruchtbarkeitsgöttin
zu erfüllen. Erst als nichts mehr wuchs und keine Kinder mehr geboren wurden,
verfügte Zeus, Persephone solle zwei Drittel des Jahres mit Demeter
und ein Drittel mit Hades verbringen. Aus der Freude über das Wiedersehen von
Mutter und Tochter entstanden die Eleusinischen Mysterien, die das Leben
verherrlichen und den Tod überwinden wollen.
Eine Frau mit einem starken Demeter-Archetyp findet in der Mutterrolle ihre Erfüllung.
Sie hegt und pflegt, spendet körperliche und geistige Nahrung, und ist meist in
sozialen Berufen zu finden. Sie spürt den Drang, schwanger zu werden, ebenso
stark wie den Drang, zu stillen. Kann sie diese Funktion nicht ausüben, grämt
sie sich und wird depressiv. Die wachsende Autonomie ihrer Kinder erfährt sie
als Verlust, fühlt sich zurückgewiesen und wird zornig. Sie kann so hasserfüllt
sein, dass sie ins Gegenteil verfällt, ihren Schützlingen die Nahrung
vorenthält oder tagelang nicht mit ihnen spricht. Dann entspricht sie dem
Mythos der alles verschlingenden Mutter und stellt eine Gefahr für ihre Kinder
dar.
Demeter-Frauen verübeln den Feministinnen, dass sie die Mutterrolle
abwerten, unterhalten aber lebenslange Freundschaften mit ihresgleichen. Ihre
Familien weisen matriarchale Züge auf. Sie bemuttern
sich gegenseitig, sind aber sehr besitzergreifend und kontrollierend gegenüber
ihren Kindern. Sie empfinden Stolz, sogar Ehrfurcht für ihre Söhne. An ihre
Männer stellen sie keine hohen Erwartungen und behandeln sie eher wie kleine
Jungen. Ein typisches Beziehungsmuster ist die Große Mutter mit ihrem
Sohn-Geliebten, wobei Sexualität keine große Rolle spielt. In der Opferrolle
ist Demeter verbittert, ausgebrannt und apathisch.
Sie verweigert das Essen und Schlafen und wäscht sich auch nicht mehr.
Persephone, das
junge Mädchen, stellt die Lebensphase des Frühlings dar und steht für neues
Wachstum nach Zeiten der Entbehrung. Gleichzeitig ist sie die Göttin der
Unterwelt und der toten Seelen. Durch ihre jährliche Wiederkehr auf die Erde
erneuert sie das Leben nach dem Tod. Die Unterwelt symbolisiert tiefere
Schichten der Psyche, in der Erinnerungen und Gefühle begraben wurden
(persönliches Unbewusstes), und wo Bilder und Instinkte der ganzen Menschheit
auftreten (kollektives Unbewusstes). Persephone kann zwischen der realen und
der unbewussten Welt vermitteln und damit zur Führerin für andere werden. Sie
kennt den Traumsymbolismus, intuitive Visionen und den „Wahnsinn ekstatischer
Erfahrungen“.
Die Persönlichkeitsstruktur
einer Persephone-Frau ist passiv und leicht beeinflussbar. Als braves Mädchen
will sie ihrer Mutter gefallen, ist gehorsam und gefügig, und neigt dazu, aus
Gefälligkeit die Unwahrheit zu sagen. Ihre Mutter benutzt sie manchmal als
Verlängerung ihrer selbst, um stellvertretend durch sie zu leben. Ihr Vater
empfindet oft eine starke Zuneigung zu dieser femininen Tochter. Sie selbst
wartet wie Dornröschen auf den Prinzen, der ihr Leben verändert. Für ihn macht
sie sich schön und passt sich seinen Wünschen an. Die Kind-Frau wirkt auf
Männer sehr anziehend, ist sich aber ihrer unschuldigen Sexualität nicht
bewusst. Obwohl sie es mag, wenn Männer sie begehren, empfindet sie keine Leidenschaft.
Sie ist narzisstisch auf
sich selbst fixiert, hat ein verzerrtes Selbstbild und lebt in einer
Phantasiewelt, die sich immer mehr von der Realität entfernt. Ausflüchte,
Schmeicheleien und Intrigen sind ihre Charakterprobleme. Ihre rezeptive Haltung
befähigt sie, anderen zuzuhören und die Dinge aus deren Blickwinkel zu
betrachten. Persephone ist empfänglich für außersinnliche Wahrnehmungen. In der
Schule hat sie Schwierigkeiten und geht den Weg des geringsten Widerstandes.
Sie ist träge, unentschlossen und besitzt keine Initiative, Ausdauer oder
Führungsqualitäten. Das Alter macht ihr Angst. Sie ärgert sich über jede Falte,
fällt in Depressionen und bleibt evtl. für immer in ihrer Unterwelt gefangen.
Aphrodite verkörpert die transformierende Macht der Liebe. Sie
ist weder jungfräulich noch verletzlich, sondern unterhält sexuelle Beziehungen
zu Männern. Sie macht immer das, was ihr gefällt, und lässt sich nie bevormunden.
Mit ihrer Liebe schafft sie neues Leben und fördert auch die Kreativität. Sie
übt eine unwiderstehliche Wirkung und magnetische Anziehungskraft auf Männer
aus und sehnt sich nach der Vereinigung, um den anderen „zu erkennen“. Damit bekommt
ihr sexueller Drang eine spirituelle Komponente als Sehnsucht nach Ganzheit und
Verschmelzung.
Seelenverwandtschaft, tiefe
Freundschaft und empathisches Verständnis sind weitere Ausdrucksformen ihrer
Liebe, mit der sie den kreativen Funken entzündet und Wachstum erzeugt. Die
Menschen werden innerlich berührt und mitgerissen von ihrer Begeisterung, in
deren Licht alles faszinierend erscheint. Die Gespräche mit ihr sind sprühend,
stimulierend und belebend, die Partner machen dabei neue Entdeckungen und
strahlen wie Liebende. Die Seele beginnt zu fliegen und schwingt sich zu ekstatischen
Höhen empor. In dieser verliebten Art erfasst Aphrodite die Menschen, die sich
in ihrem Glanz sonnen und sich attraktiv und interessant fühlen.
Eine Aphrodite-Frau lässt
sich aufrichtig und ganz auf ihr Gegenüber ein, aber immer nur vorübergehend.
Ihre verführerische Wirkung ist irreführend. Sie verliebt sich leicht, verlässt
aber den Mann bald wieder, weil ihr Interesse versiegt ist und sich einem
anderen Objekt zuwendet. Vielen Männern bricht sie das Herz und wird von ihnen
dann als Kokotte angesehen. In ihrem Kielwasser lässt sie ein Heer von verwundeten,
verschmähten, deprimierten oder zornigen Männern zurück. Sie fühlen sich
geprellt und sind verärgert, können auch feindselig oder zornig reagieren.
Als archetypische Geliebte
befruchtet Aphrodite die Kreativität eines Mannes, indem sie sein Potenzial
erkennt, an seine Träume glaubt und ihn inspiriert, sie zu verwirklichen. Wie
die Alchemisten kann sie Gewöhnliches in Gold verwandeln. Sie verfügt über eine
Anziehungskraft, die Männer in ein erotisch aufgeladenes Feld zieht. Dann
schnellt der Spannungspegel in die Höhe und lässt beide vibrieren. Aphrodite
ist eine äußerst machtvolle Wandlungskraft, die menschliches Leben erzeugt,
aber auch neue Ideen hervorbringt. Kreatives Arbeiten ist dann ein sinnlicher
Prozess wie eine leidenschaftliche Liebesbeziehung. Beide Aspekte, der
romantische und der kreative, sind oft in einer einzigen Frau verwirklicht.
Wenn die Göttin der Liebe
Ehrfurcht gebietend aus den Gewässern des Unbewussten auftaucht, bekommt die
Sexualität eine ozeanische, archetypische Qualität. In dieser dramatischen
Initiation hat sie mit dem Mann, der die Gefühle bei dieser Frau erregt hat,
nur noch wenig zu tun, sondern besitzt eine eigene überwältigende Qualität. Die
Frau wird von Aphrodite zur sexuellen Aktivität getrieben, gelenkt vom unwiderstehlichen
Wunsch nach Paarung und orgastischer Erlösung, in der die Persönlichkeit
verschwindet und das Männliche und Weibliche an sich verschmelzen.
In patriarchalen
Gesellschaften, besonders der jüdisch-christlichen und der moslemischen Kultur,
wird die weibliche Sinnlichkeit und Sexualität erniedrigt. Hier wird die
Geliebte als Hure betrachtet und die Aphrodite-Frau von der Gesellschaft
geächtet. In biblischen Zeiten wurden sie sogar gesteinigt, in islamischen
Ländern heute noch mit dem Tod bestraft. Auch in unserer Gesellschaft nehmen
andere Frauen oft eine kritisch-drohende Haltung gegenüber Aphrodite ein, indem
sie Liebe und Schönheit als frivol oder als Sünde abstempeln. Doch könnten sie
sehr von ihr partizipieren, wenn sie sich darauf einlassen würden (Bolen).
Wenn eine Aphrodite-Frau
sich selbst als schlecht betrachtet, weil sie sexuelle Gefühle hat, kann das Angstgefühle
und Depressionen auslösen. Sie hat einen starken Sexualtrieb, der vielen
anderen Frauen abgeht. Das Wissen darüber hilft ihr, sich für ihre Natur nicht
schuldig zu fühlen. Durch ihre Leidenschaft kann sie aber auch in unglückselige
Abhängigkeit geraten, wenn ihre Liebe nicht erwidert wird oder sie auf den
Falschen trifft, der sie schlecht behandelt. Das ist für sie eine höchst
ambivalente Situation, denn sie muss eine destruktive Beziehung aufgeben, die
gleichzeitig eine süchtigmachende Wirkung auf sie ausübt.
Nicht jede Aphrodite-Frau
ist schön. Man erkennt sie aber an ihrem Charisma, das besonders Männer in
ihren Bann zieht. Sie ist immer von Männern umgeben und liebt es, im
Mittelpunkt zu stehen. Anderen Frauen gegenüber hegt sie freundschaftliche
Gefühle und empfindet selten Feindseligkeit. Umso entsetzter ist sie über die
rachsüchtige Verfolgung einer eifersüchtigen Hera, in der sie Verlustangst und
das Gefühl von Unzulänglichkeit hervorruft, wenn sich ihr Mann intensiver mit
ihr unterhält, als er es je mit seiner Gattin getan hat.
Als frühreifer Teenager ist
Aphrodite in Filmstars verliebt und unter den Groupies von Rockgruppen zu
finden. In der Pubertät erschreckt sie ihre Eltern durch ihre erotische
Ausstrahlung und wird von ihnen unbewusst dafür bestraft. Aus einem
unreflektierten Vorurteil heraus manifestiert sich leicht bei ihnen ein weit
verbreitetes destruktives Verhaltensmuster, das sich gegen die weibliche
Sinnlichkeit richtet. Besonders die Beziehung zum Vater ist gespannt und inzestuös
gefärbt. Entweder verhält er sich verführerisch, oder er wird zu streng,
verbietet seiner Tochter jegliche Verabredung, kontrolliert sie und nimmt sie
ins Kreuzverhör.
Auch die Mutter kann eine
Kerkermeister-Mentalität entwickeln. Sie lebt manchmal stellverstretend durch
ihre Tochter und will jede Einzelheit über ihre Verabredungen erfahren. Oder
sie fühlt sich durch ihre Attraktivität bedroht, rivalisiert mit ihr und ist
auf ihre Jugend eifersüchtig. Aphrodite ist zwischen der sich regenden Veranlagung
in ihr und der Reaktion anderer Menschen hin und her gerissen. Was bei einem Jungen
toleriert wird, nämlich dem Trieb nachzugeben, kann sich auf sie katastrophal
auswirken, wenn sich z.B. eine unerwünschte Schwangerschaft einstellt.
Von außen bekommt sie wenig
Unterstützung. Sie muss ihre Sexualität entweder unterdrücken oder in der
Phantasie ausleben. Wenn sie strategisch vorgeht, kann sie auch eine feste
Beziehung unterhalten. Dann muss sie aber ihr Sexualleben geheim halten und zum
Selbstschutz auf die Empfängnisverhütung achten. Oder sie sublimiert ihren
Trieb durch Kreativität. Denn wenn ein Thema sie fasziniert, geht sie voll
darin auf, stürzt sich in die Arbeit und kann die höchsten Leistungen
vollbringen. Im Beruf liebt sie die Abwechslung und Intensität; Routinearbeiten
langweilen sie. Obwohl sie nicht nach Erfolg strebt, kann sie es zu Erfolg bringen.
Ihre Kinder fühlen sich von
ihr angenommen und als etwas Besonderes, sie blühen auf und entwickeln
Individualität. Sie schwelgen vielleicht einen Augenblick lang in dem Wissen,
dass sie die totale Aufmerksamkeit ihrer Mutter haben, und sind im nächsten
Moment untröstlich, wenn diese sich etwas anderem zuwendet. Das Alter stellt
kein Problem für Aphrodite dar. Wenn ihre Schönheit und Attraktivität verblassen,
kann sie sich mit gleicher Anmut und Intensität einer kreativen Beschäftigung
widmen. Es ist charakteristisch für sie, dass ihre Begeisterung nicht abnimmt
und sie ihre jugendliche Haltung nie aufgibt.
Die von Bolen
vorgestellten Göttinnen sind Modelle für das Wesen einer Frau und treten in
verschiedenen Kombinationen in jeder Frau auf. Allerdings spiegeln sie das
Leben innerhalb der patrilinearen Kultur der letzten
Jahrtausende, als Himmel, Erde und Unterwelt von männlichen Göttern beherrscht wurden.
Dieser Realität musste sich jede Göttin anpassen, indem sie sich entweder von
den Männern fernhielt, sich zu ihnen gesellte oder sich in sich selbst
zurückzog. Sowohl Göttinnen als auch Frauen sind im Patriarchat schwach und
verletzlich. Die Männer können sie leicht überwältigen und ihnen das, was sie
anstreben, vorenthalten.
Im Unterschied zu C. G. Jung
führt Bolen männliche Eigenschaften nicht auf den Animus
der Frau zurück, sondern klassifiziert diese Qualitäten als weiblich. In patriarchalen Gesellschaften werden meist nur die
Funktionen der Jungfrau, der Ehefrau und der Mutter akzeptiert. Die
selbstbestimmte Frau (Athene, Artemis) wird unterdrückt, die Geliebte
(Aphrodite) als Hure oder Verführerin verurteilt, was eine Entwertung der weiblichen
Autonomie und Sexualität bedeutet. Eine empörte Hera wird als böses Weib
abqualifiziert. Unabhängigkeit, Intelligenz und Sexualität bei Frauen werden
zum Teil mit dem Tod bestraft, zumindest aber energisch zurückgewiesen und
somit im Keim erstickt.
Doch manchmal bedroht uns
der Feind nicht von außen, sondern als innerer Dämon, warnt Bolen.
Es handelt sich um den negativen Teil unserer Psyche, den Schatten unseres
Selbst. Wir können allerdings selbst entscheiden, ob wir Heldinnen oder Opfer
sein wollen. Eine Heldin erforscht ihre dunklen Schattenaspekte, ohne von Angst
überwältigt zu werden. Sie lässt sich nicht von der Triebkraft des
Mutterinstinkts beherrschen, sondern ist in der Lage, einen Kinderwunsch auf
später zu verschieben. Ebenso kann sie ihre Sexualität kanalisieren, ihren
Wettbewerbseifer unterdrücken und ihre kritische Vernunft konstruktiv anwenden.
Die sich verweigernde Demeter, die irrationale Persephone, die misstrauische
Hera, die promiskuitive Aphrodite, die skrupellose
Athene, die unbarmherzige Artemis oder die schüchterne Hestia
repräsentieren typisch weibliche Schattenseiten. In vielen Mythen und Heldensagen
muss ein dunkler Ort durchquert werden, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.
Psychologisch kann das mit dem Hindurchgehen durch eine Depression verglichen
werden. Die Dunkelheit repräsentiert dabei die verdrängten Gefühle des Zorns,
der Verzweiflung, der Rache, Angst und Schuld.
Der Weg, der aus einer
Depression herausführt, besteht im Vergeben. Dann kehren Vitalität und Licht
zurück. Wie Persephone können wir uns von einer Gefangenen zur Führerin
entwickeln. Wir sind stark genug, um die Kraft der Schlange zurückzufordern,
das Relikt der weiblichen Macht, das die Göttinnen verloren, als die patriarchalen Religionen sie ihrer Stärke beraubten und die
Frauen zum schwachen Geschlecht degradierten. Immer, wenn wir einen Anspruch
erheben, selbständige Entscheidungen fällen oder politischen Einfluss nehmen,
treten Schlangen in unseren Träumen auf. Sie repräsentieren diese neue Stärke.
Der Weg der Individuation –
die psychische Suche nach Ganzheit - findet sein Ende in der Vereinigung der
Gegensätze, der inneren Ehe von männlichen und weiblichen Aspekten unserer
Persönlichkeit. Das Ziel wird durch das östliche Bild von Yin
und Yang symbolisiert, dem Weiblichen und dem Männlichen, die sich kreisförmig
umeinander schlingen und ineinander verschmelzen. In diesem androgynen Zustand
besitzen wird die Fähigkeit, aktiv und rezeptiv zugleich zu sein, autonom und
intim zu handeln, zu arbeiten und zu lieben (Bolen).
März 2012