Der Wiener Arzt und
Psychologe Sigmund Freud sah den Geschlechtstrieb (Libido) als wichtigsten
Antrieb aller Lebewesen an. Seine gewaltsame Unterdrückung durch Gesellschaft
und Erziehung führt beim Menschen zu neurotischen Störungen bis hin zur
Destruktivität und Zerstörungslust, hatte er erkannt. Als er seine These Anfang
des 20. Jahrhunderts zur Disposition stellte, reagierte die Öffentlichkeit,
besonders die Wiener Ärzteschaft, mit Entsetzen und Empörung darauf. Das Thema
Sexualität war in der Gesellschaft noch streng tabu.
Unter dem öffentlichen Druck
distanzierte sich Freud wieder von dieser These und nahm seine
Forschungsergebnisse zurück. Später führte er anstelle der Libido-Unterdrückung
einen angeborenen „Todestrieb“ als Grund für destruktive psychische Störungen
ein. Damit verschleierte er den gesellschaftlichen Hintergrund von Destruktivität
wieder, und aus einer ursprünglich umwälzenden gesellschaftskritischen und kulturrevolutionären
Erkenntnis wurde eine an die gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen
angepasste Sichtweise.
Als die menschliche
Destruktivität Mitte des 20. Jahrhunderts immer erschreckender wurde, griff
Freuds Schüler Wilhelm Reich die ursprüngliche These wieder auf und führte die
Zerstörungswut erneut auf eine grundlegende Störung der Sexualität zurück.
Reich erweiterte Freuds Libido-Begriff zu einer „Lebensenergie“, die den ganzen
Kosmos durchströmt, auch das Zellplasma der Organismen. Er nahm für sich in
Anspruch, einen liebevollen Kern im Menschen entdeckt zu haben und propagierte
eine freie Entfaltung der Sexualität, um diesen Ansatz weiter zu entwickeln.
Reich ging der Frage nach,
ob es jemals friedliche Gesellschaften gegeben habe, die eine freie Sexualität
ermöglichten, statt sie in Destruktivität umzulenken. Er untersuchte die
historischen Wurzeln von Gewalt, Patriarchat und Sexualunterdrückung und sah
alle drei Komponenten in einem untrennbaren Zusammenhang wirken. Sein Fazit:
Die Wurzel aller globalen Zerstörungsprozesse liegt in einer „chronischen Erstarrung
alles Lebendigen“, die aufgelöst werden muss, um Mensch und Natur zu heilen.
Es geht ihm um eine
Befreiung dessen, was durch starre Strukturen an seinem natürlichen Fließen
gehindert und in destruktive Bahnen umgelenkt wird, kurz: um die Befreiung der
Lebensenergie aus ihren Blockierungen. Das Geheimnis ganzheitlicher Heilungen
liegt im Loslassen, erklärt Reich, doch sei in unserer Jahrtausende alten
Zivilisation kein Platz für das spontane Fließen von Lebensenergie. In früheren
Kulturen dagegen war das Wissen um die Wirkungsweise einer Lebensenergie, die
uns und die Natur durchströmt, über den ganzen Erdball verbreitet, und die
Menschen haben im Einklang mit dieser Funktion gelebt.
Dieses Wissen ist nicht
einfach verloren gegangen, es wurde vielmehr mit unglaublicher Brutalität durch
einige Jahrtausende hindurch ausgerottet, bis es fast völlig in Vergessenheit
geriet und beinahe jede Spur davon verwischt war. Das beste Beispiel für den
Vernichtungsfeldzug gegen das Wissen um lebensenergetische Zusammenhänge seien
die Hexenverbrennungen, die über Jahrhunderte in Europa vollzogen wurden, und
die Zerstörung von Naturreligionen durch Ausrottung oder Missionierung von
Naturvölkern im Zuge des Kolonialismus.
Menschliche Emotionen sind
für Reich die subjektiven Wahrnehmungen dieser kosmischen Energie, die uns in
unserem tiefsten Inneren bewegt. Wenn die Menschen jedoch unter dem Druck von
Erziehung und Moral lernen, sich gegenüber lust- und liebevollen Gefühlen zu
blockieren, entwickeln sie eine emotionale und körperliche Panzerung. Sie
werden konditioniert, ihre innere lebendige Energiequelle niederzuringen und
sich selbst zu beherrschen. So wird die durch äußeren Druck entstandene
Herrschaftsstruktur verinnerlicht.
Diese verinnerlichte Gewalt
bindet ständig einen Teil der Lebensenergie, die dadurch ins Gegenteil verkehrt
wird: Statt lebendiger Entfaltung zerstören die erstarrten Strukturen alles
Lebendige, stauen die Energie auf und lenken sie um in Destruktion. An die
Stelle der offenen Gewalt ist somit die strukturelle Gewalt getreten, deren Mechanismen
schwer zu durchschauen sind. Ist die innere Gewalt erst einmal in Form eines
Körperpanzers verfestigt, schreckt der Mensch vor spontanen und lustvollen Äußerungen
des Lebendigen zurück und versucht unbewusst, sich vor ihnen zu schützen, indem
er diese „Gefahrenquelle“ vermeidet.
Wer die eigene Lebendigkeit
und Liebesfähigkeit unter schmerzlichen Erfahrungen niedergerungen und seine
innere Energiequelle verschüttet hat, kann auch Lebendiges, Liebevolles und
Spontanes um sich herum nicht ertragen. Das bringt sein Energiesystem in
Erregung, aber die Erregung ist in der Panzerung gefangen. Das Ergebnis sind
Wut und Hass. Gesellschaften mit chronisch gepanzerten Charakterstrukturen
haben immer wieder mit abgrundtiefem Hass auf alle unverzerrten Äußerungen des
Lebendigen reagiert.
So ist die Geschichte der
großen patriarchalen und sexualfeindlichen Religionen
eine Geschichte der massenhaften Zerstörung von Liebesfähigkeit und Lebensfreude.
An die Stelle einer tief empfundenen spirituellen Verbundenheit mit der Natur
und eines liebevollen Umgangs mit ihren Geschöpfen ist die Gewalt getreten:
Gewalt gegen sich selbst, gegen andere Menschen, gegen Tiere und Pflanzen sowie
gegen die Erde, die in früheren Kulturen als lebendiger Organismus, sogar als
„Mutter“ empfunden wurde (Reich).
Die heutige globale
Eskalation von Gewalt und die Umweltzerstörung sind für ihn nur zwei Aspekte
desselben Prozesses: Die patriarchal geprägte,
emotional gepanzerte Menschheit hat den Kontakt zur gemeinsamen Wurzel alles
Lebendigen, der kosmischen Lebensenergie, verloren. Anstatt das Göttliche in
sich selbst zu entdecken, suchen die Menschen ihren Gott im Jenseits,
vermittelt durch Priester. Die Unterdrückung als Antrieb und Bewegungsprinzip
bringt die Herrschaft des Erstarrten über das Lebendige hervor. Der gepanzerte
Mensch trägt seine Erstarrung in seine sozialen Beziehungen, sein Verhältnis
zur Natur, in sein Denken und Fühlen sowie in Wissenschaft und Technologie.
Auch technische
Konstruktionen sieht Reich nicht den natürlichen Gegebenheiten folgen, sondern
der Natur meist Gewalt antun. Sie erzeugen einen Druck, indem sie permanent
gegen die Natur ankämpfen. Das kostet Kraft und erfordert weitere
Energieträger, um deren Kontrolle es militärische Konflikte gibt. Darüber
hinaus treiben uns die erzeugten Schadstoffe in die ökologische Katastrophe.
Die Naturbeherrschung hat als Mittel zur Erhaltung unserer Lebensgrundlagen
völlig versagt, klagt Reich, und der technische Fortschritt hat sich als
lebenszerstörend erwiesen.
Ebenso verfährt der Mensch
mit seiner inneren Natur: mit Druck und Gewalt. Naturbeherrschung und
Selbstbeherrschung sind zwei Aspekte des gleichen Prinzips, das die fließende
Bewegung aller Abläufe zerstört. Allerdings betrachtet Reich die destruktiven
Impulse der Menschen nicht als angeboren, sondern als Folge des Zusammenpralls
von lebendiger Energie des Einzelnen mit den starren Strukturen der
Gesellschaft. Die innere Energiequelle, der biologische Kern der Menschen, ist
seiner Meinung nach voller Liebes- und Kontaktfähigkeit.
Doch ist das Lebendige über
Jahrtausende kultureller Entwicklung so tief verschüttet, dass dieser Schatz
nur ganz behutsam wieder ans Licht gehoben werden kann. Das gelingt durch
Auflockerung des Körperpanzers und Freisetzung festgehaltener Emotionen, wie
Reich in seiner psychologischen Praxis erfahren hat. Wenn es ihm gelang, die
chronischen Blockierungen eines Patienten aufzulösen, erfassten spontane
Erregungswellen den ganzen Körper, die mit tief empfundenen Emotionen einhergingen.
Der Mensch folgte dann eigenen inneren Impulsen, wurde eins mit sich selbst und
strahlte eine tiefe Befriedigung, Glück und Erfüllung aus.
Diese spontane, natürliche
Fähigkeit sieht er in unserer Kultur weitgehend verschüttet, und die natürlich
fließende Bewegung durch chronische Blockierungen mehrfach zersplittert. Die
einzelnen Fragmente teilt Reich nach ihren Symptomen ein: Starrer Blick,
zusammengepresste Lippen, enge Kehle, militärische Stimme, eingezogener
Brustkorb, flache Atmung, an den Körper gepresste Arme, angespannte Zwerchfellmuskulatur,
angespanntes Becken, stramme Haltung und durchgedrückte Beine. Jedes dieser
Panzersegmente erzählt seine eigene Leidensgeschichte von Konflikten kindlicher
Impulse mit den starren, lieblosen Bedingungen der Umwelt.
Gefühle, die in der Kindheit
zurückgehalten werden mussten und seither blockiert sind, können in der
Therapie wieder entdeckt, und die Blockierung gelöst werden. Zum Zurückhalten
lebendiger Impulse muss dagegen ständig Energie aufgewendet werden, auch im
Erwachsenenalter. Solange die Kräfte auf beiden Seiten gleich stark sind,
herrscht scheinbar Ruhe. Doch muss der Herrschaftsapparat zur Aufrechterhaltung
dieses Zustandes bei den Unterdrückten gewaltige polizeiliche und militärische
Kräfte bereit halten, um eventuell aufflackernde Befreiungsbewegungen
niederzuschlagen.
Auch wenn der äußere Druck
längst nicht mehr existiert, kann sich der Mensch für einmal verletzte Gefühle
nicht mehr öffnen. Während frei fließende Energie mit Lust einhergeht, wird
aufgestaute Energie als neurotische Angst erlebt. Die Energie, die beiden
zugrunde liegt, ist quantitativ gleich, aber bei freier Strömung äußert sie
sich als Lust, bei Stauung als Angst. Neurotische Ängste verschwinden, wenn es
gelingt, die Blockierungen zu lösen und die Energie wieder frei strömen zu
lassen, sagt Reich. Andernfalls kann der Stauungsdruck so stark werden, dass er
nach einem Ersatzventil drängt, um sich zu entladen, z.B. in Form blindwütiger
Aggression.
Wenn solche aggressiven
Impulse zusammenprallen mit autoritärer Erziehung, äußerem Druck und Strafe,
müssen sie vom Kind verdrängt werden. Die dadurch entstehende Wut und der Hass
müssen ebenfalls verdrängt werden. So zieht eine einmal erfolgte Verdrängung
eine ganze Kette weiterer Verdrängungen nach sich. Sie wird zum Charakterpanzer,
in dem der erwachsene Mensch gefangen ist und nicht mehr heraus kann, selbst
wenn eine liebevolle Situation dies gestatten würde. Ein derart gepanzerter
Mensch kann weder seine eigenen Gefühle ausdrücken noch Gefühle von anderen an
sich heranlassen oder überhaupt erkennen.
Für Reich ist natürliche
Sexualität eine Grundvoraussetzung bioenergetischer Gesundheit. In einer
Gesellschaft, in der sie weitgehend unterdrückt und verdrängt wird, erlangt sie
eine zentrale Bedeutung. Erst aus ihrer Verdrängung heraus entstehen so viele
Probleme, dass sie zum alles beherrschenden Komplex im Denken und Fühlen der
Menschen wird. In einer die Sexualität bejahenden Gesellschaft ist sie dagegen
eine natürliche Selbstverständlichkeit, die mit Freude gelebt wird.
Eine sexualfeindliche
Gesellschaft tut alles, um von den Ursachen des Schadens abzulenken und verbaut
damit den Weg zur grundlegenden Heilung. Die heutigen Sexwellen, die von Medien
und Werbung ausgehen, erzeugen nur neue Formen von Leistungsdruck, meint Reich.
Die Ausbreitung von Pornographie sieht er als Ausdruck dafür, dass viele
Menschen mit Gewalt versuchen, an Gefühle heranzukommen, deren natürliches
Erleben sie verloren haben. Das weit verbreitete sexuelle Elend sei nicht nur
ein individuelles, sondern vor allem ein gesellschaftliches Problem.
Noch bevor es zum Holocaust,
den Konzentrationslagern und zum Zweiten Weltkrieg kam, untersuchte Reich den
Zusammenhang von autoritärer Erziehung, Sexualunterdrückung und
autoritätsängstlichen Charakterstrukturen, die ein zwanghaftes emotionales
Bedürfnis nach starren gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen haben. Er sah
klar, dass die emotionale Deformierung von Menschenmassen unvermeidlich zur
geballten Aufstauung von Energien führen musste, die schließlich nach massenhafter
explosiver Entladung drängt.
Faschismus in diesem Sinn
ist kein spezifisch deutsches Phänomen. Er kann sich überall dort wiederholen,
wo das Lebendige brutal geschunden und die Sexualität streng unterdrückt wird.
Mit Entsetzen und Fassungslosigkeit steht die Welt immer wieder vor neuen
Eruptionen von Gewalt. Doch kaum jemals wird der Zusammenhang zwischen Gewalt
und unterdrückter Sexualität thematisiert.
Mit der emotionalen
Blockierung und Panzerung, die sich in den letzten 6.000 Jahren ausbreitete,
hat der Mensch seine intuitiven Fähigkeiten weitgehend verloren. Sein
bioenergetisches System befindet sich nicht mehr in Resonanz mit dem Organismus
Erde und dem Kosmos. Der gepanzerte Mensch empfängt nicht mehr die Inspiration,
den ungebrochenem Strom von Lebensenergie und Geist als Voraussetzung für seine
harmonische Einbettung in das Ganze. Das Gespür für den Gesamtorganismus Erde
und für die eigene Teilfunktion ist ihm abhanden gekommen.
Die Blockierungen der
Lebensenergie können jedoch aufgelöst werden durch das Freisetzen verschütteter
Kreativität und Wiederbeleben der Sinne. Selbsterfahrung in Form von
Musizieren, Tanzen, Malen oder Theaterspielen hält Reich für geeignete Mittel,
um die menschliche Resonanzfähigkeit mit der lebendigen Natur wieder zu
erwecken. Mit Intuition und Inspiration kann ein Fühlen, Denken und Handeln
entwickelt werden, das im Einklang steht mit der Natur, dem Organismus Erde und
dem Universum. Der Kettenreaktion der Gewalt kann so eine Kettenreaktion der
Liebe entgegengesetzt werden (Reich).
Der Philosoph Günther Mensching studierte bei Adorno und Horkheimer
an der „Frankfurter Schule“ und bemüht sich jetzt um eine Aktualisierung der
Kritischen Theorie. Für ihn ist Angst eine manipulierbare Befindlichkeit.
Autoritäre Regime brauchen diese Charakterstruktur, damit die Leute der
Herrschaft mit Begeisterung folgen, obwohl sie ihnen blinden Gehorsam und
totale Anpassung abverlangt. Die größten Führer werden zugleich gefürchtet und
geliebt. So wird aus einem treu sorgenden Familienvater vorübergehend ein Massenmörder,
und nach dem Krieg wieder ein geachteter Familienvater.
Auf der Suche nach den
Ursprüngen dieser Mechanismen untersuchte Mensching
die von Freud postulierten inneren Instanzen Ich, Es und Über-Ich. Er
erläutert: Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus, sondern vermittelt nur
zwischen dem strengen Gewissen (Über-Ich) und den Trieben (Es), um den Alltag
zu beherrschen. Während das sich ständig einmischt, indem es das Lustprinzip
verfolgt, pocht das Über-Ich auf die verinnerlichten Normen. Das Ich nimmt nur
die Realitätsprüfung vor. Auf dieser Basis ist die Manipulierbarkeit des psychischen
Systems leicht zu verstehen.
Gewalt entsteht in der
Kindheit durch rigorose Erziehung und Ideale, welche die Macht verherrlichen.
Für das Kind bedeutet das eine totale Triebunterdrückung. Wenn es keine andere
Möglichkeit hat, als aus der väterlichen Autorität Lust zu gewinnen, ist die
Gewalt verinnerlicht. Dann besteht keine Furcht mehr vor äußeren Strafen,
sondern nur noch vor dem eigenen Gewissen. Gehorsam wird verklärt und Gefühllosigkeit
als ideales Verhalten hingestellt. Aus dem verbotenen Hass gegen den Vater wird
eine masochistische Liebe oder ein Sadismus, der sich sein Ventil beim „Fremden“
sucht.
In der Antike hatte man
Angst vor der Rache der Götter. Das Christentum entdeckte das Gewissen als
Instrument zur Beherrschung der Massen. Durch die göttlichen Gebote wurde eine
moralische Macht verinnerlicht, die bei Zuwiderhandlung mit seelischer
Vernichtung drohte. Dafür war man Mitglied in einer Gemeinschaft der Starken
und durfte alle Schwachen verachten. Die Autorität des Vaters blieb unangefochten,
unter der Herrschaft des Adels ebenso wie im aufkommenden Proletariat.
Erst die Aufklärung
propagierte das autonome Individuum. Kant setzte auf die Vernunft, die
Französische Revolution auf die Freiheit des (männlichen) Bürgers. Hitler
konstruierte neue Angstgegner: Juden und Bolschewisten. Seine Bünde und Corps
besaßen einen hohen Konformitätsdruck und dienten letztlich der Abwehr von
Angst. Der Handel brachte neue Abhängigkeiten: Die Autorität lag nun in den
Gesetzen, und die Angst bezog sich auf das Unberechenbare. Das Schicksal des
Einzelnen wird gelenkt durch anonyme Machttendenzen, die er nicht beeinflussen
kann.
Heute bezieht sich die Angst
auf Finanzkrisen, Krieg oder Terrorismus. Weitere Ängste werden künstlich
erzeugt. Dazu bedarf es allerdings einer gewissen Disposition im Individuum,
denn nicht jeder lässt sich ohne weiteres Angst einjagen. Die Eingeschüchterten
jedoch zeigen immer ein stereotypes Verhalten: Ihnen fehlt jegliche
Spontaneität und Initiative. Sie sind voller Vorurteile gegenüber Fremden und
schnell bereit, sich neuen Autoritäten zu unterwerfen (Mensching).
Der Berliner Volkswirt und
Gesellschaftskritiker Bernd Senf befasste sich mit der „Wiederentdeckung des
Lebendigen“ nach Wilhelm Reich und stieß dabei auf „lebensenergetische Methoden
der Heilung von Menschen“, die „auf verblüffende Art und Weise uraltem und in
unserer Kultur lange Zeit verschüttetem Wissen aus nicht-patriarchalen
Lebensweisen“ gleichen. Diese Weisheiten haben teilweise im Untergrund patriarchaler Kulturen überdauert, zum Teil wurden sie in
ethnologischer Spurensuche oder durch Inspiration wieder entdeckt und
wissenschaftlich erforscht.
Senf fand heraus, dass das
Wissen um die „Lebensenergie“ bis vor einigen tausend Jahren über den ganzen
Erdball verbreitet war, und dass die Menschen damals in friedlichen und
liebevollen Gemeinschaften lebten - liebevoll zwischen den Geschlechtern, den
Generationen und zur übrigen Natur. Beim Rückblick auf die
Menschheitsgeschichte zeige sich ihm allerdings ein düsteres Bild voller
Gewalt, Krieg, Ausbeutung, Herrschaft, Mord und Totschlag. Den Grund für diese
Diskrepanz sieht Senf darin, dass sich die Geschichtsschreibung nur auf die
letzten 6.000 Jahre bezieht, zu deren Beginn die Gewalt in die menschliche
Gesellschaft eingebrochen ist.
Aus der Zeit vorher, der
sogenannten Vorgeschichte, gibt es keine schriftlichen Überlieferungen. Da das
Auftreten von Menschen auf zwei Millionen Jahre v.u.Z. angesetzt wird, nimmt
jedoch diese Vorgeschichte den allergrößten Teil der Menschheitsentwicklung
ein, erklärt Senf. Eine Fülle von historischen, archäologischen,
ethnologischen, klimatologischen und geografischen Forschungen belegt heute, in
welchem geografischen Raum die Gewalt entstand, wie sie sich ausbreitete, und
wann der Umschlag von einer friedlichen in eine gewaltsame menschliche
Gesellschaft begann.
Danach fand der Ursprung der
Gewalt vor ca. 6.000 Jahren in jenen Gebieten der Erde statt, die heute große
Wüsten sind: Sahara, Arabische Wüste und Asiatische Wüste. Sie sind
klimatologisch zusammengefasst zu einem großen Wüstengürtel, kurz „Saharasia“ genannt. Um diese Zeit gab es verheerende
Umweltkatastrophen, in deren Folge das bis dahin fruchtbare Land mit üppiger
Vegetation und großem Tierbestand in relativ kurzer Zeit ausgedörrt wurde und
sich in eine Wüste verwandelte.
Die archäologischen Funde
aus der Zeit vor dem Umbruch geben keinerlei Hinweis auf
irgendwelche Formen von Gewalt im Zusammenleben der Menschen: keine
Kriegswaffen, keine Spuren von Gewalteinwirkung bei den ausgegrabenen Skeletten,
keine Höhlenmalereien mit Gewaltszenen. Statt dessen ästhetisch hoch entwickelte,
mit fließenden Linien gestaltete Darstellungen friedlichen, liebevollen Zusammenlebens,
wie die beliebte Darstellung eines Babys an der Mutterbrust. Auch die offensichtliche
Verehrung des weiblichen Körpers sei typisch für diese Zeit (Senf).
Es gibt ebenso keine
Hinweise auf eine Herrschaft der Männer über die Frauen oder die Kinder. Das
Verhältnis der Geschlechter und Generationen scheine partnerschaftlich und liebevoll
gewesen zu sein. Seit der Zeit um 4.000 v.u.Z. finden sich jedoch deutliche
Zeichen eines Umkippens: Gewalt der Männer gegen Frauen, Gewalt der Erwachsenen
gegen Kinder, Gewalt zwischen den Stämmen bzw. Völkern und gegenüber der Natur.
Zeitgleich mit der
Entstehung der großen Wüsten zeigen die archäologischen Funde Darstellungen von
kriegerischen Szenen, Spuren von Gewalteinwirkung in menschlichen Skeletten
sowie Gräber, in denen getötete junge Frauen an der Seite eines gestorbenen
alten Mannes begraben wurden. Die künstlerische Darstellung fließender Linien
und spiraliger Formen wich eckigen, zersplitterten Formen, die Starrheit und
Zerrissenheit ausdrücken. Die ausgegrabenen Bauwerke bestehen überwiegend aus
Festungen und Burgen.
Das Ausdörren der
fruchtbaren Gebiete muss mit dramatischen Hungersnöten einhergegangen sein,
vermutet Senf. Erkenntnisse der Hungerforschung zeigen, dass Menschen, die von
chronischem Hunger geplagt sind, nicht nur körperlich abmagern, sondern auch
emotional in einen Zustand bioenergetischen Mangels geraten. Die Symptome
gleichen dem Zustand des sogenannten „emotionalen Hungers“. Dieser wurzelt in
einem Mangel an liebevoller Zuwendung, körperlichem Kontakt und Lustempfinden in
der frühen Kindheit. Menschen, die in eine solche Situation geraten, bleiben
auch später in ihren starren Strukturen gefangen.
In den durch Hungersnöte
bedingten emotionalen Panzerungen sieht Senf die Initialzündung für eine
anschließende Kettenreaktion von Gewalt mit all ihren destruktiven Folgen. Die
Menschen wurden von ihrer inneren Energiequelle getrennt, der Wurzel alles
Lebendigen. Ihre Lebensenergie wurde verschüttet und unter starren Strukturen
begraben. So verloren sie das Gefühl liebevoller Verbundenheit zu allem
Lebendigen, zur Natur und zum Kosmos als einem ganzheitlichen, lebendigen Organismus.
Den Mechanismus der
Körperpanzerung erklärt Senf in Anlehnung an Wilhelm Reich: Menschen, die an
einem chronischen Mangel ihres bioenergetischen Systems leiden, reagieren auf
spontane Äußerungen des Lebendigen mit Angst und Abwehr. Durch die emotionale
Ausstrahlung anderer Organismen wird ihr eigenes Energiesystem in eine Erregung
versetzt, die nicht fließen kann und sich staut, bis zu einem Punkt, an dem
sich die angewachsene Spannung explosionsartig in Gewalt entlädt.
Diese Gewalt richtet sich
vor allem gegen die Auslöser von Angst und Erstarrung: gegen das Spontane,
Lebendige, Liebevolle, Fließende in anderen Menschen und in der Natur. So
tendiert der gepanzerte Mensch dahin, alles Lebendige in sich und um sich herum
niederzuringen, zu zerstören oder ihm auszuweichen. Das versucht er
anschließend rational zu begründen, indem er sich eine Fülle von Ritualen,
Institutionen, Gesetzen, Ideologien, Glaubenssystemen und Religionen schafft,
welche die Zerstörung des Lebendigen rechtfertigen. Daran glaubt er mit fester
Überzeugung und verteidigt sie gegenüber Andersgläubigen mit Gewalt.
Auf diese Weise stellt sich
die Geschichte als eine unendliche Kette von Gewalt dar, zunächst gegen
friedliche und liebevolle Stämme. Sie fielen entweder der Gewalt zum Opfer,
oder sie panzerten und verhärteten sich ihrerseits und wurden schließlich
selbst gewalttätig. Später herrschte Gewalt zwischen ganzen Völkern, die sich
mit Verbissenheit und Fanatismus den gewaltsamen Ideologien oder Religionen verschrieben
hatten und dafür gegen die anderen zu Felde zogen.
Nach Senf stützt sich das
Patriarchat hauptsächlich auf die Vererbung materiellen Reichtums sowie des
Namens entlang der männlichen Linie, vom Vater auf die Söhne. Um sicherzugehen,
dass es sich um die eigenen Kinder handelt, müssen sexuelle Kontakte der
eigenen Frau mit anderen Männern unterbunden werden, unter Androhung schwerster
Strafe für den Fall der Tabuverletzung. Solche Einschränkungen der sexuellen
Freiheit wären in einer matrilinearen Erbfolge nicht
erforderlich, weil die Mutter mit Sicherheit ihre leiblichen Kinder kennt.
Darin sieht Senf einen
wesentlichen Grund für die Verquickung von Patriarchat und Sexualeinschränkung.
Die sexuelle Unterdrückung wurde auch auf die Kinder ausgedehnt. Unter dem
Druck kindlicher Sexualverdrängung funktionieren die Menschen, beherrscht von
unbewussten Ängsten und Schuldgefühlen, als wären sie ihre eigene
Sittenpolizei. An die Stelle offener Gewalt trat immer mehr eine Form struktureller
Gewalt: die verinnerlichte Gewalt einer starr gewordenen Charakterstruktur.
Die durch Hungersnöte
gequälten Menschen legten sich einen emotionalen Körperpanzer zu. Sie begannen,
ihre Babys und Kinder zu vernachlässigen und zunehmend brutale
Erziehungsmethoden und grausame Rituale anzuwenden. Auf der Flucht wurde der
ganze Körper der Babys fest umwickelt, so dass sie sich nicht bewegen und
„pflegeleicht“ wie ein Gepäckstück transportiert werden konnten. Ihre Schädel
wurden deformiert, und die Genitalien durch Beschneidung verstümmelt.
Die gewaltsamen Rituale und
Erziehungspraktiken stehen im deutlichen Zusammenhang mit der Ausbreitung des
Patriarchats. Beide verbreiteten sich durch die Fluchtbewegungen und
Völkerwanderungen von „Saharasia“ über den ganzen
Erdball. Sogenannte patristische Kulturen des
arabischen und des zentralasiatischen Kerns gab es seit 4.500 bis 3.500 v.u.Z.
mit unterschiedlichen Graden an „Patrismus“. Auf der
Suche nach neuem Lebensraum unterjochten sie andere Stämme, brachten sie um oder
trieben sie in die Gegengewalt. So konnten friedliche Lebensweisen nicht überleben.
Weitere Gewaltwellen gingen
durch den Kapitalismus und Kolonialismus von Europa aus. Im Zuge der Kolonialisierung
wurden weitere Kulturen zerstört, die noch ein spirituelles Verhältnis zur
Natur empfanden und die Erde als lebendigen Organismus ansahen, als Mutter
Erde, zu der sie ein liebevolles Verhältnis pflegten. Jeder Raubbau an
Ressourcen sei ihnen zutiefst fremd gewesen. Dorfgemeinschaften, die den Boden
gemeinsam nutzten und sich selbst versorgten, wurden nun aus einem solidarischen
Miteinander in die Konkurrenz gegeneinander getrieben.
Ethnische Zusammenhänge
wurden durch willkürlich festgelegte Staatsgrenzen zerschnitten, und feindliche
Stämme zu einer künstlichen Nationalität zusammengeschweißt. Damit wurden
Konfliktpotentiale geschaffen, die sich immer wieder explosiv entluden. In
Amerika wurden die eingeborenen Indianer umgebracht oder in Reservate
abgedrängt. Der amerikanische Kapitalismus fußt auf Völkermord und Sklaverei
(Senf).
Der Kolonialismus wurde
durch das Militär und die Kirche mit ihren Heeren von Missionaren durchgesetzt.
Deren Gewalt war schwerer zu durchschauen, weil sie im Gewand der Nächstenliebe
auftrat, aber unglaubliche Zerstörungsprozesse anrichtete. Die noch
existierenden Naturreligionen mit ihrer spirituellen Einbettung des Menschen in
die Natur und das kosmische Geschehen wurden als heidnisch verketzert und zum patriarchalen Christentum sowie zur Übernahme christlicher
Moralvorstellungen bekehrt.
Wo noch ein
partnerschaftliches Miteinander der Geschlechter herrschte, ein natürliches
Verhältnis zur Sexualität und ein ökologisches Gleichgewicht zur Natur vorhanden
war, brachte die Missionierung mit ihrer Sexualfeindlichkeit ebenfalls Gewalt
und Herrschaft hervor. Nur wenige Flecken der Erde blieben von der Ausbreitung
der Gewaltwellen verschont bis ins 20. Jahrhundert, weil sie geografisch
unzugänglich lagen, z.B. im Urwald, im Hochland oder auf einer Insel (Senf).
Birgit Sonnek
März 2012
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