INDIVIDUATION (Der Weg zum Selbst)
C. G. Jung beschreibt den
Vorgang der Individuation als das Sich-Selbst-Bewusstwerden
der Seele. Das menschliche Wesen ist dual, erläutert er, niemand ist nur
männlich oder nur weiblich. In jeder Person sind beide Elemente kombiniert. Anima
(lat. Seele) ist das weibliche Element im männlichen
Unbewussten, seine „innere Frau“. Animus (lat. Geist)
ist der männliche Faktor im weiblichen Unbewussten. Sie sind entsprechend der
jeweiligen Lebenserfahrung individuell gefärbt. Harmonie entsteht, wenn beide
in einer Person zum Ausdruck kommen.
Vater und Sohn
Die amerikanische
Psychologin Jean Shinoda Bolen
beschreibt die Vater-Sohn Beziehung aus ihrer eigenen Praxis-Erfahrung. Dabei
wird deutlich, inwiefern auch Männer unter dem Patriarchat zu leiden haben, und
welche Aspekte ihrer Persönlichkeit sie der Männergesellschaft opfern müssen.
Männliche Eigenschaften werden von der Familie und der Gesellschaft bewertet
und mit Ermutigung oder Missbilligung beantwortet, erläutert sie, worauf ein
kleiner Junge mit Angst, Stolz oder Scham reagiert. So werden bestimmte
Dispositionen im Kind aktiviert oder unterdrückt.
Ein Junge, der die
Einsamkeit schätzt oder emotionale Distanz wahrt, wird von einer
extravertierten Familie dauernd belästigt und mitunter für verrückt erklärt.
Für den lebhaften Jungen, der sich in dieser Art von Familie wohl fühlen würde,
sieht es schlecht aus, wenn er in einer kühlen, rationalen Familie aufwächst,
die seine Bedürfnisse nach Kontakt unterdrückt. Werden seine Anlagen jedoch
akzeptiert, hat er Glück und kann eine abgerundete Persönlichkeit entwickeln.
Die Beziehung zwischen einem
Vater und seinem Sohn wird ebenfalls vom Patriarchat und seinen Normen geprägt.
Die Schattenseite des Patriarchats ist der ablehnende, zerstörerische Vater. In
der Mythologie, Theologie und Psychoanalyse entdeckte Bolen
eine für das Patriarchat typische abweisende Haltung der Väter gegenüber ihren
Söhnen, die von ihnen meist als Bedrohung angesehen werden. Die Geschichten und
Theorien sind voll von väterlicher Ablehnung und Aggression.
Die Väter-Götter der
griechischen Mythologie besitzen Eigenschaften, die in allen patriarchalen Kulturen idealisiert werden: Sie herrschen
über andere und repräsentieren die Machthabenden der Gesellschaft. Autoritäre
Götter leben im Himmel oder auf Bergen, sie regieren aus der Ferne und erwarten
Gehorsam und Unterwerfung. Sie haben das Recht, zu tun, was ihnen gefällt. Als
Kriegesgötter erwächst ihre Macht aus dem Sieg über ihre Rivalen, daher hüten
sie eifersüchtig ihre Vorrechte.
Götterväter fürchten das
Schicksal, vom eigenen Sohn entmachtet zu werden. Sie sind alles andere als
väterlich und verhalten sich ihren Nachkommen gegenüber äußerst abweisend.
Schon Uranos und Kronos,
aber auch Zeus lehnten ihre Kinder ab, besonders ihre Söhne. Der Kronos-Komplex besteht nach Bolen
darin, das Potenzial der eigenen Kinder zu unterdrücken und ihnen zu verwehren,
zu wachsen und sich zu entwickeln, um die eigene Stellung nicht zu gefährden.
Wenn ein Kind unabhängig denken und handeln kann, stellt es eine Bedrohung dar.
Ein Vater, der versucht,
seinen Sohn zu vernichten, ist uns seit uralten Zeiten vertraut. So beginnt der
Ödipuskomplex mit der Absicht des Vaters, seinen Sohn zu töten. Laios, König von Theben, ließ seinen neugeborenen Sohn mit
durchstochenen und aneinander gefesselten Füßen in den Bergen aussetzen. Ihm
war prophezeit worden, dass er durch die Hand seines Sohnes sterben würde. Doch
Ödipus überlebte, tötete später seinen Vater und heiratete seine Mutter, ohne
es zu wissen.
Sigmund Freud behauptete,
der Vatermord und die Heirat mit der Mutter sei der unbewusste Wunsch jeden
Sohnes. Freud selbst behandelte seine Schüler Jung und Adler wie Söhne, die aus
dem Weg geräumt werden müssen, weil sie ihm gefährlich werden könnten. Bei
Freud erscheint Laios als das unschuldige Opfer und
Ödipus als der Schuldige. Damit folgt Freud einer uralten Tradition, denn die
Kinder wurden schon immer für das, was man ihnen antat, verantwortlich gemacht
(Bolen).
Im Mythos töten Väter ihre
Söhne stets aufgrund einer Weissagung. Heute würde man sagen: aufgrund einer
paranoiden Vorstellung oder der Projektion eigener Motive in andere. Ein Kind,
das behandelt wird, als sei es schlecht, reagiert mit Schuldgefühlen.
Autoritäre Väter steuern die Karrieren ihrer Söhne, damit sie ihren festgesetzten
Platz in der Hierarchie einnehmen. Wie Kronos
„verschlingen“ sie damit das Leben ihrer Söhne. Der verzehrende Aspekt besteht
darin, dass der Sohn die Wünsche seines Vaters erfüllt, statt herauszufinden,
was er selbst will.
Als die Indo-Europäer
auf der griechischen Halbinsel einfielen und die Israeliten von Ägypten als
Eroberer ins gelobte Land kamen, trafen sie auf ein bereits besiedeltes Gebiet,
in dem die Große Göttin verehrt wurde. Beide Völker huldigten jedoch Himmelsvätern
mit kriegerischen Eigenschaften. Um deren Forderungen zu erfüllen, musste man
bereit sein, die eigenen Kinder zu opfern. So befahl Jahwe dem Abraham, seinen
Sohn Isaak zu opfern, wozu dieser sofort bereit war. Er wurde von Gott dafür gesegnet.
Ebenso opferte Agamemnon
seine Tochter Iphigenie, um die Winde günstig zu stimmen, damit die
griechischen Schiffe auslaufen und in den Krieg gegen Troja ziehen konnten.
Auch er wurde durch einen Sieg von den Göttern belohnt. Die vom Vater zum Opfer
bereit gestellten Kinder müssen sich unendlich betrogen und verlassen
vorgekommen sein, meint Bolen. Heute werden Kinder im
übertragenen Sinne geopfert. Erfolgreiche Männer sind immer abwesende Väter,
emotional und körperlich vom Leben ihrer Kinder getrennt. Sie opfern ihre
Kinder ihren Jobs.
Aber sie opfern auch das
Kind in sich selbst, den spielerischen, spontanen, vertrauensvollen Aspekt
ihrer Persönlichkeit. Die geopferte Tochter kann symbolisch die Anima ihres
Vaters darstellen, die nicht um Rat gefragt, sondern getäuscht wird. Patriarchale Kulturen haben etwas gegen Unschuld, stellt Bolen fest. Sie lehnen kindliche Eigenschaften ab und
belohnen Männer mit blindem Gehorsam und Ehrgeiz höher als solche, die
fürsorgliche Liebe zu ihren Kindern aufbringen.
Um ein rücksichtsloser
Soldat oder Anführer, Präsident oder Vorstandsvorsitzender zu sein, muss ein
Mann über Leichen gehen, seine Gefühle unterdrücken und den Erfolg in der
Männerwelt höher stellen als alle Familienbande. Im Militärlager ist kein Platz
für Zärtlichkeit und Unschuld. Auch Großzügigkeit oder Mitgefühl passen nicht
zu Konkurrenz und Rivalität. Diese Eigenschaften gelten als Schwäche, die man opfern
muss. „Töte, oder du wirst getötet“, heißt die Devise. In der patriarchalen Gesellschaft muss man der Obrigkeit gehorchen
und die Autorität erhalten.
Männer fühlen sich von
Frauen oft besser verstanden als von anderen Männern und offenbaren ihnen eher
ihre Motive. Aus ihrer eigenen psychologischen Praxis kann Bolen
bestätigen: Väter gehen nicht liebevoll mit ihren Kindern um und empfinden ihre
Söhne als Rivalen. Diese fühlen sich oft vaterlos, oder sie empfinden ihre
Väter als distanziert, streng und abweisend. Dieses Muster wird über
Generationen hinweg weitergegeben. Manchmal kamen auch verstörte Väter zu ihr,
die Gewissensbisse darüber empfanden, welchen Hass ihre Kinder in ihnen
freisetzen konnten.
Die Entfremdung zwischen
Vater und Sohn beginnt mit dem Groll des Vaters während der Schwangerschaft
seiner Frau. Sie aktiviert schmerzliche Gefühle der Ohnmacht aus seiner
Kindheit, als seine Mutter ihn mit einem neuen Geschwisterchen ins Abseits
drängte. Auch als Ehemann verliert er seine zentrale Rolle im Leben seiner
Frau. Sie entzieht sich ihm, ist oft müde oder kann gemeinsame Dinge nicht mehr
mitmachen.
Sie beschäftigt sich weniger
mit ihm als mit dem ungeborenen Kind und verliert vielleicht das Interesse am
Sex, der Hauptquelle seines Selbstbewusstseins. Er bildete seine einzige
Möglichkeit, ihr nahe zu sein. Die Wut, Ablehnung und Rivalität, die er als
kleines Kind gegen das neue Baby empfand, wird neu entfacht. Und da für einen
Vater solche Gefühle noch weniger akzeptabel sind als für einen kleinen Jungen,
müssen sie unterdrückt werden.
Mancher Mann fürchtet sich
davor, Verantwortung für eine Familie zu übernehmen. Wenn Arbeitsplätze
unsicher und Aufstiegschancen gering sind, fragt er sich, ob er sie ernähren
kann. Die Angst, diesen Männlichkeitstest nicht zu bestehen, kann zu der
irrationalen Befürchtung führen, das Kind sei nicht von ihm. Darüber hinaus
kann er das Gefühl haben, in eine schreckliche Falle getappt zu sein. Früher
assoziierten Männer mit der Ehe einen „Klotz am Bein“. Heute jagt ihnen die
Aussicht auf ein Kind mehr Angst ein als die Hochzeit. Er muss evtl. einen
unbefriedigenden Job behalten oder schwarzarbeiten. So denkt er mit Angst und
Schrecken an die Zukunft, statt sich auf sein Baby zu freuen.
Das Neugeborene steht im
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Mutter und hat den Vater verdrängt. Er
beneidet unbewusst seine Frau um die Möglichkeit, ein Kind zu haben, und ist
eifersüchtig auf die Körperwärme, die das Baby beansprucht, besonders wenn die
sexuelle Beziehung eingeschlafen ist. Die Brüste, die er selbstverständlich für
sich beanspruchte, gehören nun seinem kleinen Sohn. Die traute Zweisamkeit
scheint ein für allemal beendet.
Andererseits legen Kinder,
besonders Söhne, Zeugnis für seine Männlichkeit ab und sind ein Mittel, seine
Macht auszudehnen. Da im Patriarchat die Väter mit der Pflege des Kindes nichts
zu tun haben, kommen seine fürsorglichen Fähigkeiten nie zum Zuge. Nur bei
Männern, die während der Wehen und im Augenblick der Geburt anwesend sind, entsteht
eine tiefe, zärtliche Bindung zu ihren Kindern. Ist das nicht der Fall und hat
er auch nicht das Gefühl, Frau und Kind zu beschützen, wird er ärgerlich,
unwillig und empfindet Wut auf den „Eindringling“.
Solche aggressiven Gefühle
überdecken oft noch tiefer liegende Ängste, etwa die Furcht, verlassen zu
werden, oder mangelndes Selbstbewusstsein. Im Namen der Disziplin traktiert der
Vater dann seinen Sohn mit körperlicher Züchtigung, verbalen Attacken und
Spott, um aus ihm „einen richtigen Mann“ zu machen. Oder er versucht, ihn beim
Spielen auszustechen, und eine im Spaß begonnene Rauferei endet mit einem
heulenden kleinen Jungen, der anschließend verspottet wird, weil er geweint
hat.
Der kleine Sohn kann
wirklich Angst vor der Rivalität seines Vaters haben und nicht einfach die
Theorie vom Ödipuskomplex bestätigen. Wenn er allerdings nicht verschlungen
wird, kann er als erwachsener Mann die Macht des Vaters herausfordern und seine
Autorität stürzen. Die Doktrin von der Erbsünde und die hartnäckige Behauptung
der Psychoanalytiker, dass alle Söhne ihre Väter töten und ihre Mütter heiraten
wollen, sind nur Theorien, um die Ablehnung zu rechtfertigen, die Väter gegenüber
ihren Söhnen empfinden, behauptet Bolen.
Söhne werden erst
misstrauisch, dann furchtsam und schließlich aggressiv gegenüber ihren Vätern.
Das ist jedoch nicht der Fall, wenn der Vater seinen Sohn füttert, mit ihm
spielt, ihm etwas beibringt und eine positive Bezugsperson für ihn ist. Dann
ist der Sohn evtl. sogar lieber mit ihm zusammen als mit der Mutter. Wenn der
Vater den Sohn nicht misshandelt, sondern nur gefühlsmäßig oder körperlich
abwesend ist, sehnt sich der Sohn nach seiner Aufmerksamkeit und Anerkennung
(statt, wie es die Ödipustheorie nahe legt, Aggressionen zu hegen). Diese Söhne
vermissen und idealisieren ihren Vater.
Die vorherrschenden Gefühle
des Sohnes sind dann Sehnsucht und Traurigkeit. Groll kommt erst später auf,
wenn der Sohn seine Hoffnungen begraben hat und nicht länger vom Vater geliebt
werden will. Groll kann auch einer Desillusionierung entspringen, wenn der
Vater dem Idealbild nicht entspricht. Die Beziehung zwischen distanzierten
Vätern und ihren Söhnen nimmt häufig eine oberflächliche, ritualisierte Form
an. Es laufen stets die gleichen Gesprächsformen ab, und die Kommunikation
besteht aus einer festgelegten Reihe von Fragen und Antworten.
Ablehnung kann auch
entstehen, wenn der Sohn merkt, dass er seinem Vater nur dann etwas bedeutet,
wenn er seinem Stolz schmeichelt, und ihm persönlich gleichgültig ist. Die
stolzen Väter wollen sich im Ruhm der Söhne sonnen. Das ist die einzige Rolle,
die besonders von den erstgeborenen Söhnen erwartet wird. Deshalb werden sie im
Patriarchat höher geschätzt als die Töchter.
Väter reagieren zornig auf
alles, was sie als Aufsässigkeit und Ungehorsam empfinden, und bestrafen ihre
Söhne hart dafür. Der Erhalt der Autorität trägt zu den schlimmsten Fällen von
Kindesmisshandlung bei. Ein Vater kann über sein Baby, das nicht aufhört zu
schreien, oder seinen kleinen Sohn, der „nein“ sagt, in größte Wut geraten,
weil er glaubt, er mache sich über ihn lustig. Diese Reaktion, seinen Sohn
nicht als Kind erkennen zu können, wird als paranoid bezeichnet. Noch schlimmer
wird es, wenn der Sohn älter wird und anzweifelt, was sein Vater sagt, oder
eine andere Meinung vertritt, oder sich offen gegen ihn auflehnt.
Wenn eine Autorität dazu
dient, angemessene Grenzen zu setzen, entwickeln Kinder Vertrauen und
Sicherheit. Doch braucht der Sohn keinen Vater, der ihm dauernd zeigen muss,
wer Herr im Haus ist. Der zornige Vater sieht eine Bedrohung seiner Position in
seinem Sohn. Da seine Wut irrational ist, reagiert der Sohn verwirrt und verletzt.
Die Situation spitzt sich zu und endet in gegenseitigem Misstrauen und Entfremdung.
Paradoxerweise wird der Sohn sich aus diesem Grund später einmal genauso verhalten
wie sein Vater.
Er identifiziert sich mit
dem Aggressor. Zwar wird er seinen Vater, der ihn pausenlos beschimpft und
verspottet, kaum gern haben. Aber noch mehr wird er es hassen, sich schwach,
ängstlich, hilflos und gedemütigt zu fühlen. Der Sohn lernt, seine Verletzlichkeit
zu verabscheuen. Er fühlt sich schlecht, da er eine Schlechtigkeit an sich
empfindet. Die patriarchale Kultur setzt
Verletzlichkeit mit Feigheit und Weinerlichkeit gleich. Die Liebe zu schönen
Dingen, Sinnlichkeit und emotionale Spontaneität werden ebenfalls als unmännlich
deklariert und müssen tief unter dem Bewusstsein vergraben werden.
Wenn ein misshandelter Junge
groß wird, Einfluss gewinnt und imstande ist, selbst kleinere Kinder
einzuschüchtern, wird er es gewöhnlich tun. Schikanen in Studentenverbindungen
und Prügelorgien unter Jugendlichen zeugen davon. Nicht nur Väter, auch ältere
Brüder sind gefährlich. Der jüngere Bruder ist immer die Zielscheibe der
Aggressionen des älteren Bruders, der das an ihm auslässt, was er durch seinen
Vater erfahren hat.
In einer Kultur der
Rivalität und des Konkurrenzkampfes zwischen Männern schaffen es die meisten
nicht, Liebe und Vertrauen zu entwickeln. Die gibt es nur als Ausnahmefälle.
Manche Jugendfreundschaften sind nur in Arbeitervierteln möglich, bevor Mädchen
wichtig werden und sie sich in Gewinner und Verlierer aufteilen. In Internaten
gibt es manchmal geschlossene Zirkel, die zusammenhalten. Auch Freiwillige
einer Frontkompanie können enge Bande untereinander entwickeln (Bolen). Die Voraussetzung ist, dass für alle die gleichen
Bedingungen gelten und sie dem hierarchischen Einfluss des Patriarchats
entzogen sind.
Wer jedoch blinden Gehorsam
ausübt, Macht über andere anstrebt und deren Freiheit unterdrückt, dem winkt
eine Führerrolle. Die Verlockung, sich mit dem Aggressor zu identifizieren und
sich ihm anzuschließen, ist groß. Junge Männer stehen immer wieder vor der
Wahl, entweder mitzumachen - oder nicht aufzugeben und dem treu zu bleiben, was
ihnen wirklich wichtig ist, selbst wenn sie Grund zur Angst haben müssen. Dazu
müssen sie aber wissen, wer sie sind. Nur ein Sohn kann den verborgenen
liebevollen Aspekt des Vaters freisetzen.
Zur Beschreibung der
Mutter-Sohn-Konstellation eignet sich am besten der von Sigmund Freud
entwickelte Ödipus-Konflikt. In der griechischen Mythologie war Ödipus ein
Königssohn, der als Kind ausgesetzt wurde, weil seinem Vater, König Laios, die Entthronung durch seinen Sohn geweissagt worden
war. Ödipus überlebte jedoch und tötete später unwissentlich seinen Vater in
einem Handgemenge. Nachdem er das Rätsel der Sphinx gelöst hatte, erhielt er
als Belohnung Königin Iokaste zur Frau, die seine
Mutter war, was er auch nicht wusste. Als er Jahre später den Inzest erkannte,
stach er sich die Augen aus.
Analog dazu konstruierte Freud
die psychosexuelle Entwicklung des männlichen Kindes. Danach besteht in der
phallischen Phase des Sohnes ein unbewusstes sexuelles Begehren gegenüber
seiner Mutter, das er aber verdrängt. Parallel dazu rivalisiert er mit seinem
Vater um die Gunst der Mutter und will ihn unbewusst töten, um seinen Platz
einzunehmen. Aus den verdrängten Gefühlen der Eifersucht und des Hasses
entstehen Schuldgefühle sowie eine schleichende Angst vor der Bestrafung durch
seinen Vater: die Kastrationsangst.
Das Kind wünscht sich also
letztlich unbewusst eine Situation des Inzests herbei. Einen Beleg dafür sieht
Freud in den massiven Inzestverboten aller Völker, die bis in archaische
Gesellschaften zurückverfolgt werden können. Mit Ausnahme der Pharaonenfamilien
(so Freud) sei keine Gesellschaft bekannt, in welcher der Inzest nicht ein
absolutes und mit hohen Strafen belegtes Tabu gewesen wäre. Daraus schließt er,
dass der Inzest in der Frühzeit weit verbreitet gewesen sein muss.
Im Idealfall verzichtet das
Kind auf den infantilen Inzestwunsch und identifiziert sich mit dem Vater. Aus
dem Feind wird ein Vorbild, das es dem Sohn erlaubt, sich mit seiner
Geschlechterrolle zu identifizieren und so seine Identität zu finden. Um der
unausgesprochenen Drohung der Kastration zu entgehen, ordnet er sich der Autorität
des Vaters unter und wünscht sich eine Partnerin wie die Mutter.
Dadurch erfährt er die wohlwollende Anerkennung des Vaters und gewinnt eigene
Macht und Potenz.
Jean Shinoda
Bolen ergänzt: Die Väter des Patriarchats hatten in
ihrer Kindheit selbst Mütter, die völlig machtlos einem mächtigen, häufig
missgünstigen Mann unterworfen waren. Später hatten sie Frauen, die sich von
ihnen beherrschen ließen. Wenn Frauen und Mütter herabgesetzt werden und nicht
imstande sind, ihre Söhne und Töchter zu beschützen, fühlen sich diese von
ihnen verraten, denn die Mutter ist ihre natürliche und archetypische
Beschützerin und Ernährerin.
Für ein Neugeborenes ist sie
zunächst allmächtig. Dass sie ihren Sohn nicht beschützen kann, sieht er als
Verrat und Ablehnung an, die er ihr übel nimmt. Als erwachsener Mann kann er
die ohnmächtige Wut, die er als Kind seiner eigenen Mutter entgegenbrachte, an
anderen Frauen auslassen. Darin sieht Bolen die
Quelle der Ablehnung seitens der Männer gegenüber machtlosen Frauen in patriarchalen Gesellschaften.
Daneben lassen Frauen, die
unterdrückt werden, ihren Groll oft unbewusst an ihren Söhnen aus, besonders
wenn der Kleine anfängt, seinem Vater nachzueifern und sein angeborenes
Selbstbewusstsein zu zeigen. Das kann die Form des offenen Missbrauchs oder der
Ablehnung annehmen, es kann aber auch mit Sarkasmus und Demütigung einhergehen.
Schwestern, die im Patriarchat ebenfalls nicht gut wegkommen, können ihre
Brüder auf ähnliche Weise bestrafen, solange diese klein sind. Die
Kettenreaktion ist eine weitere Quelle der Ablehnung gegenüber Frauen, die in
der Kindheit der Männer begründet ist.
In der Literatur wird das
Mutter-Tochter-Verhältnis meist aus patriarchaler
Sicht geschildert und z.B. als Elektra-Syndrom dargestellt. Der Psychologe
Heiko Ernst schreibt: Muss Elektra Trauer tragen? Wenn Buchtitel die psychische
Befindlichkeit bestimmter Zielgruppen spiegeln, dann haben Frauen offenbar ein
nachhaltiges Problem. Seit einiger Zeit finden sich immer mehr Titel einer
speziellen Literatur im Handel: Loslösungstraktate, in denen die komplizierte
Mutter-Tochter-Beziehung aufgearbeitet wird. Doch worin besteht eigentlich das
Mutter-Tochter-Problem?
Ein Mädchen beginnt sein
Leben mit einer engen gleichgeschlechtlichen Bindung, die zeitweilig den
Charakter einer Symbiose annimmt. Aus der muss es sich jedoch allmählich lösen,
um als Person zu wachsen. Diese Ablösung gelingt nicht immer, denn es ist
offenbar sehr schwierig, zwischen zu starker Identifikation mit der Mutter und
ihrer völligen Zurückweisung die erträgliche Mitte zu finden. Und so erkennt
jede neue Frauengeneration irgendwann, dass viele der Schwierigkeiten, mit
denen sie sich im Leben herumschlägt, mit dem oft verdeckten, nie wirklich
aufgearbeiteten Spannungsverhältnis zur eigenen Mutter zu tun haben.
Dieses Mutter-Tochter-Drama
nannte C. G. Jung den Elektrakomplex – in Analogie zum Ödipuskomplex, den
Sigmund Freud bei Jungen zu beobachten glaubte. Im griechischen Mythos tötet
Elektra, die Tochter des Agamemnon, ihre Mutter Klytämnestra, um den geliebten
Vater zu rächen. Diese Tochter will der Mutter nicht ähnlich sein, sondern
hasst sie wegen ihrer Unvollkommenheit und Schwäche. Doch bedeutet dieser
Mythos nicht, dass Frauen dazu verdammt sind, an ihrer Mutter zu leiden, betont
Ernst. Die Verstrickungen und Konflikte im Mutter-Tochter-Verhältnis müssen
sich nicht zwangsläufig schicksalhaft auswirken.
Die töchterliche Befreiung
beginnt bereits mit der Bewusstwerdung des gemeinsamen Problems, das keineswegs
ein privates ist. Vieles, was Töchter hassenswert an ihren Müttern finden, ist
nichts anderes als die Überlebensstrategie der Schwächeren in einer
männerdominierten Gesellschaft. Die „unvollkommenen“ Mütter sind selbst Opfer,
unterworfen einer patriarchalen Macht, der sie sich
nur durch Anpassung unterwerfen oder mit unauthentischer Verstellung und List
entziehen können.
Die
Mutter-Tochter-Revolution besteht darin, das Überpersönliche in diesem Konflikt
zu erkennen, denn gerade die Mütter sind Opfer der Verhältnisse. Ihnen wurde immer
mehr Verantwortung aufgebürdet, als sie tragen konnten. Wenn es um die Erziehung
geht, werden Väter gnädig aus der Verantwortung entlassen. Warum eigentlich?
fragt sich der Psychologe. Und warum werden von den wenigen Hausmännern so
viele krank und streben wieder in ihren Beruf zurück? Ernst glaubt, sie
scheitern daran, es allen recht zu machen und dabei noch an sich selbst zu
denken.
Der Zorn der Töchter ist
ungerecht verteilt, das erkennen diese immer deutlicher. Umso wichtiger wird es
für sie, sich im Mutter-Tochter-Konflikt trotz aller Verletzungen und
Enttäuschungen nicht entsolidarisieren zu lassen. - Soweit die patriarchale Sicht. Es ist schwer, an die ursprünglichen
Wurzeln der Mutter-Tochter-Beziehung zu gelangen (Heiko Ernst).
Die Amerikanerinnen Marilyn Boynton und Mary Dell befassen
sich ebenfalls mit dem Mutter-Tochter-Konflikt und zeigen Möglichkeiten zu
seiner Lösung auf. Als kleine Kinder sind wir vom Schutz, von der Fürsorge und
Liebe unserer Mutter abhängig, erklären sie. Wenn wir erwachsen werden, fällt
es uns oft schwer, uns aus dieser Abhängigkeit zu lösen. Selbst wenn die Mutter
schon gestorben ist oder in einer anderen Stadt lebt, versuchen wir noch immer,
sie zufrieden zu stellen, und sehnen uns nach ihrer Bestätigung und ihrer
Liebe.
Was das Ganze noch
komplizierter macht, ist die Unbewusstheit dieses Bemühens, Mama zu gefallen.
Wir glauben, es sei der Ehemann, der Chef, die Nachbarn, ein Lehrer oder
Freund, den wir zufrieden zu stellen versuchen. Es scheint, als kämpften wir
mit uns selbst, und dieses Unbehagen kann uns krank machen. Dann suchen wir oft
vergeblich nach einer Erklärung für unser Leiden. Allem Anschein nach haben wir
unsere Beziehung zur Mutter nie auf ein erwachsenes Niveau gebracht, haben unsere
Mutter nie davon erlöst, uns zu umsorgen und wie ein Kind zu behandeln.
Auch uns selbst haben wir
nie davon befreit, uns um sie zu kümmern und zu versuchen, uns ihrer Liebe als
würdig zu erweisen. Wir haben uns nicht von ihr gelöst. Der Fachausdruck für
den Loslösungsprozess ist „Individuation“, ein Vorgang, bei dem wir unabhängig
werden und eine erwachsene Beziehung zu unseren Mitmenschen entwickeln. Die
Individuation ist eine Reise, die das ganze Leben dauert, und auf der wir zu
dem Menschen werden, der wir sind.
Als Kinder waren wir klein
und hilflos, während die Eltern Macht über uns hatten. Erst mit dreißig oder
vierzig Jahren sind wir bereit, diese Macht auszugleichen. Das ist
„Tochterarbeit“, bewusste Arbeit. Wir erkennen ihren Erfolg
daran, dass wir in Gegenwart von Autoritätspersonen unsere Selbstsicherheit
bewahren können, dass wir sie als gleichrangig betrachten und nicht als
Übergeordnete. Wenn wir nicht mehr den Drang verspüren, uns gegen sie
aufzulehnen oder sie zufrieden zu stellen, sind wir „interdependent“, das
heißt, unsere Beziehungen sind weder abhängig noch unabhängig von anderen.
Frauen, die sich im
Individuationsprozess befinden, suchen nach ihrem wahren Wesen und einem
Ausdrucksmittel ihrer verlorenen oder unterentwickelten Seiten. Um diese
integrieren zu können, müssen sie eine angemessene Lebensweise finden, die
ihrer Ganzheit Rechnung trägt. Erst wenn sie lernen, der Reise in die innere
Welt zu vertrauen, kann sich ihr einzigartiges Selbst entfalten.
Alle Frauen sind Töchter.
Viele sind noch fest an ihre Mütter gebunden, manche wünschen sich eine größere
Nähe, andere wieder bedauern, ihre Mutter nicht wirklich zu kennen. Einige
wollen nichts mit ihr zu tun haben, andere haben ihre Mütter nie gekannt und
sind mit Ersatzmüttern, Tanten oder Großmüttern aufgewachsen. Und doch sind sie
alle an die Mutter ihrer Vergangenheit gebunden.
Früher glaubte man,
Individuation bedeute, die Mutter zu verlassen und aus ihrem Leben zu
verschwinden. Heute wissen wir, dass Trennung von der Mutter nicht heißt, sie
nicht mehr zu lieben oder nicht mehr mit ihr zusammen zu sein. Es bedeutet einzig,
nicht länger zu erwarten, dass sie für uns sorgt. Unser Erbe als Töchter sind
die positiven und negativen Botschaften, die wir von unserer Familie erhalten
haben: angenehme und schmerzliche Erinnerungen; die Verhaltensweisen und
Überzeugungen, die von einer Generation zur anderen weiter gegeben wurden, und
die Fürsorge, die wir bekamen oder die uns fehlte (Boynton/Dell).
Auch für C. G. Jung ist der
Individuationsprozess auf das ganze Leben verteilt und niemals vollendet. Den
Zweck der Individuation sieht er darin, das Selbst aus den falschen Hüllen des
Rollenbildes und aus der Suggestivgewalt unbewusster Bilder zu befreien. Menschen
versuchen immer wieder, das Leben mit allen Einzelheiten zu denken, sagt er,
sie wollen es aber nicht am eigenen Leib erfahren. Sie entziehen sich den
Unberechenbarkeiten der Existenz, wo sie nur können, und suchen Sicherheit
gegen alle Gefahren, statt im Leben möglichst viel zu erfahren und erleben zu
wollen, auch die eigenen Grenzen und auch das Böse in sich selbst.
Man wünscht sich das Leben
einfach, sicher und glatt, und darum sind Probleme tabu. Man will Sicherheiten
und keine Zweifel, man will Resultate und keine Experimente, ohne dabei zu
sehen, dass nur durch Zweifel Sicherheiten, und nur durch Experimente Resultate
entstehen können. Der Individuationsprozess zielt auf eine Mitte der
Persönlichkeit hin, die gleichzeitig auch ihre Peripherie umschreibt und von
höchster Intensität ist. Sie besitzt eine außerordentliche Ausstrahlungskraft
für den Menschen selbst, aber auch auf seine Umwelt.
Diese Mitte ist das Selbst
als der Ursprung und die Erfüllung des Ich. Erleuchtung erlangt man nur durch
das Erkennen der eigenen Dunkelheit. Selbsterkenntnis ist ein Abenteuer, das in
unerwartete Weiten und Tiefen führt. Denn einem Menschen seinen Schatten
gegenüber zu stellen, heißt, ihm auch sein Licht zu zeigen. Und Ganzsein heißt
zugleich, voller Widersprüche sein. Man könnte die Ganzheit so umschreiben,
dass der Mensch lernt, die Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren, die ihn von
der Vollkommenheit, der perfekten Ganzheit, trennen (Jung).
März 2012
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