Dürr, Hans-Peter: Wissenschaft und Wirklichkeit

(QUANTENPHYSIK UND PHILOSOPHIE)

 

Dies ist eine Zusammenfassung des Aufsatzes „Wissenschaft und Wirklichkeit - Über die Beziehung zwischen dem Weltbild der Physik und der eigentlichen Wirklichkeit“ von Hans-Peter Dürr, der anlässlich des Kongresses „Geist und Natur“ in Hannover (1988) veröffentlicht wurde.

 

Dürr beginnt seine Abhandlung mit der Beschreibung, wie das menschliche Fühlen, Denken und Handeln durch Einflüsse geprägt wird, die in unserem Bewusstsein aufsteigen und auf unser erkennendes Ich einwirken. Wir verstünden diese Einflüsse als Folge einer Wirklichkeit, in die wir eingebettet seien und mit der wir „nach außen“ durch unsere Sinnesorgane in Verbindung stünden.

 

Die klassische Naturwissenschaft habe diese Vorstellung präzisiert und die Existenz einer vom jeweiligen Betrachter - also vom jeweiligen Ich als primär wahrnehmendem Subjekt - unabhängigen, objektivierbaren Welt postuliert, die eindeutig und für alle verbindlich sein solle.

 

Diese Welt offenbare sich uns als ein System von Gegenständen, als ein aus vielen Teilen zusammengesetztes Ganzes, das wir Realität nennen. Unter dem starken Einfluss der klassischen Naturwissenschaft hätten wir uns daran gewöhnt, unsere Wahrnehmung von der Wirklichkeit mit der Wirklichkeit schlechthin gleichzusetzen und sie im Sinne einer materiell fundierten, in Teile zerlegbaren Realität zu interpretieren.

 

Die moderne Physik habe jedoch zu einer tiefgreifenden Korrektur dieser Vorstellung geführt. Die Vorstellung einer objektiven Realität sei nur noch im Sinne einer gewissen Näherung angemessen, aber als absolutes Naturprinzip unzulässig und falsch. Sie versperre darüber hinaus sogar einen tieferen Einblick in das Wesen der eigentlichen Wirklichkeit.

 

Dürr befasst sich mit der prinzipiellen Beziehung der von den Naturwissenschaften erfassten Wirklichkeit und der dahinter liegenden, vermuteten, mit unserem Begriffssystem schwer fassbaren eigentlichen Wirklichkeit. Aus dieser Beziehung erwarte er die Klärung der erkenntnistheoretischen Frage, welchen Beitrag naturwissenschaftliches Denken prinzipiell zu einem Gesamtverständnis unserer Wirklichkeit leisten könne.

 

Bei der Formulierung der Quantentheorie seien die Naturwissenschaftler geradezu in diese Fragestellung hineingedrängt worden und hätten zu ihrer Überraschung festgestellt, dass ihr Wissen über die abstrakt vorgestellte Wirklichkeit eng mit den Methoden zusammenhing, mit denen sie die Natur erforschten. In diesem Sinne versteht Dürr auch die Widersprüche zwischen Empirie, Metaphysik und Erkenntnistheorie nur als durch die verschiedenen Betrachtungsweisen verursachte Differenzen.

 

Der erkenntnistheoretische Zugang verschaffe einem Naturgesetz absolute Gültigkeit. Dies entspreche der Kant'schen Aussage, dass die grundlegenden allgemeinen Einsichten der Physik sich deshalb in der Erfahrung bewährten, weil sie notwendige Bedingungen für die Erfahrung aussprächen. Doch diese strenge Allgemeingültigkeit gelte nur für den Bereich metaphysischer Aussagen. Für empirische Aussagen könnten prinzipiell nur Wahrscheinlichkeiten angenommen werden.

 

Die Naturwissenschaft handele nicht von der ursprünglichen Welterfahrung oder dem, was dahinter stehe, sondern nur von einer bestimmten Projektion dieser Wirklichkeit, nämlich von einem Aspekt, den man durch gute Beobachtung herausfiltern zu können glaube. Dieser Aspekt könne sodann von jedermann nachgeprüft werden.

 

Entsprechend seinem Projektionscharakter sei das auf diese Weise ermittelte Wissen ein eingeschränktes Wissen von der metaphysisch vorgestellten eigentlichen Wirklichkeit oder von einer allgemeineren Seinsform, deren Kennzeichnung sich unserer Sprache gänzlich entziehe. Wirklichkeit und ihr naturwissenschaftliches Abbild stünden einander gegenüber wie ein Gegenstand und seine Fotografie.

 

Die grundlegenden Änderungen im Weltbild der Physik hätten die Aufmerksamkeit wieder auf diese erkenntnistheoretischen Fragen gelenkt. Unsere ursprüngliche, un-mittelbare Erfahrung sei viel reicher als die Begrenztheit wissenschaftlicher Aussagen, denn sie beginne schon dort, wo wir uns noch als integrierten Teil der Gesamtwirklichkeit erlebten, wo wir uns noch nicht als Subjekt vom Objekt getrennt und unserem existentiellen Ich noch keine erfahrbare Außenwelt gegenübergestellt hätten.

 

Religiöse und künstlerische Erfahrungen erfüllten nicht die Auswahlkriterien einer wissenschaftlichen Betrachtung und könnten deshalb nicht mit der Naturwissenschaft konfrontiert werden und auch nicht mit ihr in Widerspruch geraten. Trotzdem bezögen sie sich auf unser umfassenderes Wissen, von dem wir auch im Alltag immer nur Gebrauch machten, denn die Vorbedingungen, unter denen die exakten objektivierbaren Aussagen zuträfen, seien praktisch nie gegeben.

 

Unser Denken bedeute jedoch eine Wirklichkeitsverengung und Qualitätsveränderung, und die moderne Physik habe unmissverständlich auf den Projektionscharakter der physikalischen Wirklichkeit hingewiesen. So offenbare sich ein Elektron zum Beispiel, das wir in der eigentlichen Wirklichkeit ansiedelten, bei der einen Beobachtung als Teilchen und bei einer anderen als Welle. Es zeige sich also in zwei gänzlich verschiedenen und sogar unverträglichen Formen.

 

Bei dieser Teilchen- und Wellenprojektion des Elektrons gelinge auch keine höherdimensionale Konstruktion mehr, die seine komplementären Seiten vereinigen könnte. D. h. wir kämen hier in der objektiven Wirklichkeit nicht mehr zu einem Zusammenfügen dessen, was in unserer normalen Vorstellung der objektivierbaren Welt noch ausdrückbar sei.

 

Jede Beobachtung erzwinge auch eine qualitative Einschränkung und Auswahl. Denn man müsse sich auf eine Eigenschaft beschränken, die beiden gemeinsam sei, der objektiven Wirklichkeit und unserer Vorstellung von ihr. Die Formulierung von Aussagen hänge mit der Möglichkeit zusammen, von den Inhalten der Dinge, also dem Was, abzusehen und sich allein auf die Beziehung von Vergleichbarem, also auf das Wie zu konzentrieren.

 

Der Erfolg der Naturwissenschaften hänge auch damit zusammen, dass viele Fragen nach dem Was in Fragen nach dem Wie mündeten, dass Fragen nach der Substanz sich also in Fragen nach der Struktur verwandelten, in engem Kontakt mit der eigentlichen Wirklichkeit. Neben dieser Wirklichkeit errichte die Naturwissenschaft ein mathematisch strukturiertes Gebäude, das durch den Prozess von Versuch und Irrtum immer besser der Struktur und nicht dem Inhalt der Wirklichkeit nachgebildet sei.

 

Die Sprache, das Paradigma, erlaube eine Optimierung dieses Übersetzungsprozesses und habe sich in Wechselwirkung mit der Wirklichkeit als geeignet angeboten. Die Struktur der eigentlichen Wirklichkeit habe also wesentlichen Einfluss auf die Wahl der Paradigmen und Denkschemata, mit denen wir sie zu erfassen und zu beschreiben versuchten. Es sei eine Art Rückkoppelung. Aber das durch die Naturwissenschaft vermittelte Wissen sei deshalb nicht wertfrei, da es aufgrund bestimmter Bewertungskriterien zustande käme.

 

Das Wirklichkeitsverständnis vieler Naturwissenschaftler sei noch von den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts geprägt, nach dem eine genaue Kenntnis des augenblicklichen Zustandes der Welt in Verbindung mit einer exakten Kenntnis der Naturgesetze zu einer scharfen Bestimmung aller zukünftigen Ereignisse führe. Der wesentliche Einschnitt sei jedoch durch die Quantenmechanik erfolgt.

 

Hier habe sich nun herausgestellt, dass der Wahrscheinlichkeitscharakter von physikalischen Aussagen nicht allein von der subjektiven Unkenntnis herrühre, sondern dem Naturgeschehen selbst eingeprägt sei. Eine genaue Beobachtung aller Fakten reiche prinzipiell nicht aus, um zukünftiges Geschehen vorher zu sagen, sondern eröffne nur ein bestimmtes Feld von Möglichkeiten, für deren Realisierung sich bestimmte Wahrscheinlichkeiten angeben ließen.

 

Das zukünftige Geschehen sei also nicht mehr determiniert, sondern es bleibe in gewisser Weise offen. Das Naturgeschehen laufe nicht wie ein mechanisches Uhrwerk ab, sondern besitze den Charakter fortwährender Entfaltung. Die Schöpfung ereigne sich in jedem Augenblick neu.

 

Nach der klassisch-mechanistisch-atomistischen Vorstellung bestehe die Welt aus einer großen Anzahl von nicht mehr weiter zerlegbaren Bausteinen, den Atomen. Den Begriff der Atome müsse man heute aber auf die Elektronen oder eigentlich deren Bausteine, die Quarks, erweitern. Er gelte für bestimmte Objekte, die als Bausteine der Materie zeitlich unverändert seien, also über alle Zeiten hinweg mit sich selbst identisch blieben.

 

Dabei werde das Beharrende in unserer Vorstellung unmittelbar als Materie begriffen. Die zeitlich unveränderlichen Bausteine der Materie verbürgten gewissermaßen die zeitliche Kontinuität unserer Welt. Eine solche strenge Determiniertheit des Weltgeschehens würde aber keine Freiheit des Handelns mehr zulassen, und es bestünde auch kein Verständnis dafür, was die Gegenwart absolut bedeute.

 

Nach den Vorstellungen der modernen Physik gebe es aber das Teilchen im alten Sinne nicht mehr. Es gebe kein mit sich zeitlich identisches lokalisiertes Objekt. Das klassische Bild eines Elektrons, das sich aufgrund einer konstanten Geschwindigkeit von einem Punkt A nach einem anderen Punkt B auf einer geraden Bahn bewege, müsse quantenmechanisch ganz anders interpretiert werden.

 

Aufgrund der Heisenberg'schen Unschärferelationen könne man nur noch von einem Ausgangszustand sprechen, an dem ein Elektron an einem bestimmten Punkt über eine gewisse Geschwindigkeit verfüge. Doch ein Elektron könne nicht mehr als ein Objekt betrachtet werden.

 

Die quantenmechanischen Gesetzmäßigkeiten sagten nur voraus, dass ein gegenwärtiger Zustand „Elektron“ zu einem späteren Zeitpunkt an irgendeinem anderen Ort mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit auftreten müsse. Das Möglichkeitsfeld für das Auftreten des Elektrons in der Gegend B werde also durch die Existenz eines Elektrons bei A bewirkt, und dies, ohne dass es ein Zwischenstück zwischen diesen beiden Ereignissen gebe, das zu einer Identifizierung der beiden Teilchen benutzt werden könne und erlauben würde zu sagen, ein bestimmtes Elektron sei von A nach B geflogen.

 

Das Möglichkeitsfeld für das Auftreten des Teilchens sei wellenartig. Das bedeute, dass bei Überlagerung von zwei Möglichkeiten diese sich nicht nur verstärken, sondern auch abschwächen könnten. Dies habe zur Folge, dass das statistisch festgelegte Kausalverhalten Ursache - Wirkung nicht zu einem völlig chaotischen Verhalten führe. Die durch den Ausgangszustand bei A ausgelösten Möglichkeitswellen lösten sich durch Überlagerung fast überall völlig auf, außer gerade an den Stellen, wo wir das Teilchen aufgrund der klassischen Bahnvorstellung vermuteten.

 

Aus quantenmechanischer Sicht gebe es also keine zeitlich durchgängig existierende objektivierbare Welt, sondern diese Welt ereigne sich gewissermaßen in jedem Augenblick neu. Diese Welt erscheine hierbei als eine Einheit, als ein einziger Zustand, der sich nicht als eine Summe von Teilzuständen deuten lasse. Die Welt „jetzt“ sei nicht mit der Welt im vergangenen Augenblick substanziell identisch.

 

Aber die Welt im vergangenen Augenblick präjudiziere die Möglichkeiten zukünftiger Welten auf solche Weise, dass es so scheine, als bestünde sie aus Teilen, und als bewahrten bestimmte Erscheinungsformen, zum Beispiel Atome, ihre Identität in der Zeit.

 

Doch aus der Sicht der Quantenmechanik sei die Zukunft prinzipiell offen und unbestimmt. Die Vergangenheit dagegen sei festgelegt durch irreversible Fakten, die in der Gegenwart dokumentiert seien. Gegenwart bezeichne den Zeitpunkt, wo Möglichkeit aus einer qualifizierten Unbestimmtheit zur Tatsächlichkeit gerinne. Eine Extrapolation in die Zukunft sei prinzipiell nicht möglich.

 

Die augenblickliche Gegenwart enthalte einerseits ein großes unbestimmtes Feld möglicher Erscheinungsformen, die sich völlig unserer Kenntnis entzögen, und andererseits eine Vielzahl von Objekten, welche die von uns wahrgenommene Welt ausmachten. In der traditionellen Weltbeschreibung betrachteten wir die Gegenwart nicht als isoliert, sondern eingebunden zwischen einer vorgestellten Zukunft als noch nicht vollzogener Gegenwart und einer Vergangenheit als schon vollzogener Gegenwart. Ein Fortschreiten der inhärenten Zeit benutze die Entfaltung einer neuen Gegenwart allein aufgrund von Bedingungen, die in der gerade verstrichenen Gegenwart angelegt seien.

 

Die antizipierte Zukunft enthalte darüber hinaus aber noch das weite Feld der nicht realisierten Möglichkeiten. Dieser Realisierungsprozess von Möglichkeiten in der fortschreitenden Gegenwart finde nicht nur durch unsere Messungen statt wie beispielsweise im Quantenbereich, wo er als Kollaps der Wellenwahrscheinlichkeiten bezeichnet werde, sondern sei auch ein der Welt eingeprägter natürlicher Prozess, der als Evolution bezeichnet werde und der mit der Ausbildung immer höherer Ordnungsstrukturen verbunden sei.

 

Die Bildung solcher Ordnungsstrukturen verlange Instabilitäten, damit winzig kleine mikroskopische Fluktuationen zu makroskopischen Strukturen mit ihrem objekthaften Charakter auswachsen könnten. Es bilde sich ein immer komplizierteres und weit verzweigtes objekthaftes Skelett heraus, das der Wirklichkeit im Verlauf ihrer Evolution eine festere und differenziertere Form verleihe.

 

Die zeitliche Kontinuität beruhe nicht auf den materiellen Objekten der Welt, sondern darauf, dass der Welt eine gewisse Erwartung innewohne, welche ihre zeitliche Entwicklung forme. Es falle uns allerdings schwer, uns die Welt und ihre Dinge (Zustände) nicht-objekthaft vorzustellen. Unser ganzes Begriffssystem, die Sprache, sei ja auf dieser als zeitlos gedachten Struktur aufgebaut. Um sie als eine Erwartungsstruktur denken zu können, sei der Begriff des „virtuellen Zustands“ eingeführt worden, der als ein Vektor in einem unendlich-dimensionalen Zustandsraum vorgestellt werden könne.

 

Seine zeitlich veränderliche Richtung beschreibe die Wahrscheinlichkeiten für die möglichen Realisierungen. Dieser Zustandsvektor repräsentiere die ständige Erwartung, dass sich die Welt in irgendeiner Form neu ereigne. Dabei seien die Realisierungen rein zufällig und würden durch kein Kausalgesetz miteinander verkoppelt. Trotzdem schäle sich durch ihre große Anzahl ein Gesetz heraus, dass bestimmte Formen immer wieder gebildet würden. Hier entstehe eigentümlicherweise Ordnung aus Zufall, aus Chaos.

 

Diese Ordnung werde durch eine Verengung der Wirklichkeit bewirkt, ähnlich dem Akt der Messung, die im Quantenbereich zu einem Kollaps der Wahrscheinlichkeitswellen führe und damit das Mögliche zum Faktischen gerinnen lasse. Dadurch würden irreversible Prozesse mit makroskopischen Endstrukturen in Gang gesetzt, und dieser stetige Gerinnungsprozess verleihe der Zeit eine absolute Bedeutung. Der zeitliche Ablauf spiegele einen fortlaufenden Ordnungsprozess wider. Zeit und Evolution seien demnach dasselbe. Die Gegenwart bezeichne die stetige Ausformung von Möglichem zu Tatsächlichem.

 

Der Weltzustand besitze verschiedene Niveaus. Auf einem Niveau bilde sich die Zeit-Raum-Struktur, dann gebe es eine Stufe der absoluten Leere (Toricelli-Vakuum), dann einen asymmetrischen Grundzustand im Quantenbereich und schließlich den eigentlichen Grundzustand, der den Welthintergrund darstelle. Die dynamische Entwicklung der Möglichkeiten wirke auf diesen Grundzustand ein und erzeuge auf diese Weise immer neuere Zustände.

 

Die Entwicklung des Universums entspreche einem Prozess fortwährender Strukturierung, die zu immer höheren Ordnungen des Grundzustandes und einer Verminderung seiner Symmetrie führe. Die Evolutionszeit sei verknüpft mit einer Abnahme der Temperatur im Universum und mit einer Zunahme der Ordnungsstrukturen bei gleichzeitiger Abnahme der Symmetrien.

 

An gewissen Punkten passiere ein Gerinnen, und es bildeten sich neuartige Kräfte als Folge der Asymmetrie, welche durch die Zunahme der Ordnungsstrukturen entstehe. Symmetrie bedeute in diesem Fall Ungeformtheit, und Asymmetrie bedeute Komplexität.

 

Diese deterministischen Strukturen seien unserer Wirklichkeit wie ein Skelett eingeprägt, so dass wir im Alltagsleben trotz der quantenmechanischen Unschärferelation ein deterministisches Verhalten der Materie erwarten könnten. Diese Determiniertheit ergebe sich trotz quantenmechanischer Grundstruktur als gute statistische Näherung, da aufgrund der großen Anzahl von Atomen, die uns umgeben, ihr unbestimmtes Verhalten fast ganz herausgefiltert werde.

 

Die prinzipiell zeitlich offene Struktur der Naturgesetzlichkeiten sei für makroskopische Systeme und für Gegenstände unserer gewohnten Umgebung durch die statistische Ausmittelung völlig verdeckt und brauche für den Alltag keinerlei Bedeutung zu haben. Allerdings sei es nicht mehr möglich, aus einer gegebenen Anfangssituation die zukünftige Entwicklung vorherzusagen.

 

Systeme erlangten die Möglichkeit zu verschiedenartiger Entwicklung durch unmerklich kleine Schwankungen, von denen sie gesteuert würden. Deshalb könnten prinzipiell im Mikroskopischen angelegte Entfaltungen neuer Möglichkeiten in bestimmten Situationen zur makroskopischen Ebene durchstoßen. Durch nicht lineare Rückkoppelungen gelänge solchen Systemen eine Selbstorganisation, aufgrund derer sich immer höhere Ordnungsstrukturen entwickelten. Dies sei der entscheidende Schlüssel zum Verständnis des Lebendigen und eröffne den Weg zu einer neuen Beschreibung des Lebens.

 

Doch die von uns so unmittelbar als bewusste Beeinflussung zukünftigen Geschehens empfundene Freiheit könne sich Dürr zufolge möglicherweise nur als eine statistische Schwankung innerhalb des fest vorgegebenen Rahmens entpuppen. Eine wichtige Konsequenz der Quantentheorie sei für ihn die Erkenntnis, dass die Zerlegung eines Objektes (Zustands) in Teilzustände nicht möglich sei. Es gebe nur das Eine, das sich jeweils (von Zeitquantum zu Zeitquantum) neu konstituiere.

 

Die Technik basiere dagegen auf einem streng determinierten Verhalten, indem durch geschickte Konstruktion alle Teilsysteme voneinander isoliert würden und die Untersysteme nur an wenigen Kreuzungspunkten kontrolliert miteinander in Verbindung geraten könnten. Deshalb besitze sie wenig Ähnlichkeit mit biologischen Systemen, die extrem komplex und vielfach vernetzt seien.

 

Vieles, was heute an Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit zu finden sei, führt Dürr letztlich auf die Tatsache zurück, dass die mechanistische und statische Betrachtungsweise für eine Vielzahl von Problemen völlig ungeeignet sei.

 

 

Birgit Sonnek

 

April 2009

 

 

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