Was ist REALITÄT? (Gehirnforscher versus Philosoph)

 

Im Juni 1993 fand in Goslar ein Seminar über das Thema „Wahrheit und Wirklichkeit“ statt, in dessen Verlauf zwei etablierte Philosophen ihre gegensätzlichen Standpunkte darlegten und zur Diskussion stellten. In diesem Dialog sind die Diskrepanzen zwischen Idealismus und Realismus so deutlich herausgearbeitet worden, dass er sich hervorragend zu einer Illustration der Gegensätzlichkeiten von Philosophie und empirischen Wissenschaften eignet.

 

Zu diesem Zweck wird hier das Gesprächsprotokoll des Seminars zugrundegelegt, die gesamte Diskussion aber stark verkürzt wiedergegeben, ohne jedoch ihren Inhalt zu verändern. Zur weiteren Verdeutlichung werden die beiden Kontrahenten an dieser Stelle als „Idealist“ und „Realist“ bezeichnet, wobei der „Idealist“ in verkürzter Weise für die philosophische Sichtweise steht und der „Realist“ den Standpunkt der empirischen Wissenschaften vertritt.

 

Tatsächlich definieren sich die beiden Wissenschaftler selbst auf diese Weise, obwohl jeder einzelne auch in der jeweils anderen Fachrichtung versiert ist: Nach eigener Darstellung war der „Idealist“ erst Philosoph und ist jetzt ein Gehirnforscher, während der „Realist“ erst Physiker war und jetzt ein Philosoph ist.

 

In diesem Fallbeispiel vertritt der „Idealist“ als Gehirnphysiologe einen konstruktivistischen Standpunkt, der in diesem Sinne weitgehend mit einer transzendentalen (idealistischen) Philosophie kongruent ist, während der „Realist“ aus dem Bereich der analytischen Philosophie kommt und die naturwissenschaftlich orientierte Wissenschaftstheorie repräsentiert.

 

Hier nun das auf die wesentlichen Inhalte beschränkte Protokoll der Auseinandersetzung:

 

Idealist: Jeder Organismus muss sich zur Aufrechterhaltung seiner Existenz an der Umwelt orientieren. Gemäß der traditionellen, in der Biologie noch sehr weit verbreiteten Auffassung geschieht diese Orientierung bei Tieren und Menschen dadurch, dass das Gehirn mithilfe der Sinnesorgane Informationen über die Umwelt aufnimmt, diese zentral auswertet und in Programme zur Verhaltenssteuerung umsetzt. Das Gehirn ist nach dieser Auffassung ein offenes, informationsverarbeitendes System.

 

Auf der Basis des Konstruktivismus soll gezeigt werden, dass diese Auffassung falsch ist. Nervenzellen stehen physiologisch miteinander in Verbindung durch spezifische elektrische und chemische Signale, die ineinander übersetzbar sind. Diese neuroelektrischen und neurochemischen Signale sind außerhalb der Nervensysteme nicht zu finden, deshalb können die Ereignisse der Umwelt nicht direkt auf das Nervensystem einwirken, sondern müssen in die „Sprache der Neuronen“ übersetzt werden.

 

Neuronale Signale, die aufgrund von Berührung oder Schalldruck mechanisch erzeugt werden, sind als solche bedeutungsfrei. Um eine Auskunft über die Umwelt zu erhalten, muss das Gehirn anhand interner Kriterien herausbekommen, welcher Zusammenhang zwischen Umweltereignissen und Sinnesorganen besteht und ob das Signal mit Sehen oder Hören zu tun hat, mit Farbe, Form oder Bewegung usw.

 

Die dabei verwendeten Kriterien sind topologisch ausgerichtet, d.h. der Ort, die Herkunft des Signalmusters bestimmt seine Bedeutung, und zwar relativ zu anderen Orten im Gehirn. Ein weiteres Kriterium sind zeitliche Beziehungen zwischen Signalen am gleichen Ort und an verschiedenen Orten des Gehirns sowie komplexere Beziehungen zur Bedeutungszuweisung wie synchrone oder diachrone Konsistenz und Kohärenz bezüglich verschiedener Sinnessysteme und früherer Bedeutungszuweisungen.

 

Daraus folgt, dass das Gehirn informational oder „semantisch“ gegenüber der Umwelt abgeschlossen ist, und zwar in dem Sinne, dass keine vom Gehirn unabhängige, eindeutige Bedeutung von Umweltereignissen erlangt werden kann. Die Bedeutung und Wirkung eines Umweltreizes kann sich immer nur innerhalb des Gehirns konstituieren, und zwar nach inneren Kriterien.

 

Diese informationale Geschlossenheit des Gehirns widerspricht jedoch nicht seiner Fähigkeit, über die Sinnesorgane mit der Umwelt in Kontakt zu treten, sich von ihr beeinflussen und lenken zu lassen. Die „Geschlossenheit“ bezieht sich nur darauf, dass die Bedeutung/Wirkung dieser Kontakte allein nach gehirninternen Kriterien und nicht auf instruktive Weise durch die Umwelt festgelegt wird. Diese internen Kriterien bilden bei Menschen und Tieren einen festen internen Satz von Bedeutungszuweisungsregeln phylogenetischer oder ontogenetischer Herkunft.

 

Die Abgeschlossenheit gilt aber auch für die Bewertung des Erfolgs der Bedeutungszuweisungen: Für diese gibt es ebenfalls interne Kriterien. Die Erfolgsbewertung besteht jedoch nicht in einer Überprüfung des Verhaltens an der Umwelt oder Praxis selbst, sondern nur in dem Vergleich interner Bedeutungszuweisungen mit früheren internen Bedeutungszuweisungen. Dies ist die fundamentale Selbstreferenzialität des Gehirns.

 

Sinnesorgane sind die Vermittler zwischen Umwelt und Gehirn. Sie sind jedoch stark selektiv, d.h. sie reagieren nur auf bestimmte Umweltereignisse in einem meist schmalen Bereich. Auch werden die unterschiedlichen Eigenschaften der Umwelt nicht sauber getrennt in neuronale Signale umgesetzt, so dass sich Überlappungen ergeben. Die elementaren Wahrnehmungen wie Bewegung, Farbe, Form, Größe, Kontrast müssen aus den Aktivitäten der Rezeptoren durch nachgeschaltete Netzwerke im Gehirn errechnet werden. Eine Widerspiegelung der Umwelt ist auf diese Weise unmöglich. Wir sehen nicht mit dem Auge, sondern mit dem Gehirn.

 

Das beste Argument gegen eine nicht-konstruktivistische Wahrnehmungstheorie besteht jedoch in der hochgradigen Divergenz neuronaler Netzwerke von der Sinnesperipherie zu den Gehirnzentren. Mehrere hundert Milliarden Neuronen sind nötig im menschlichen Gehirn, um die Aktivität weniger Millionen peripherer sensorischer Nervenzellen auszuwerten, deren Anzahl sich während der Evolution seit den Wirbeltieren nicht geändert hat. Dagegen sind die assoziativen Areale, in denen die von den Sinnesorganen eintreffenden Erregungen nach unterschiedlichen Kriterien analysiert und synthetisiert sowie miteinander und mit den Gedächtnisinhalten verglichen werden, beim Menschen außerordentlich zahlreich geworden.

 

Wenige Schlüsselreize genügen, um ein detailliertes Umwelterleben hervorzurufen. Die meisten Elemente werden dabei nach internen Plausibilitätsgründen aus dem Gedächtnis hinzugefügt. Erst das Syntheseprodukt der aktuell von den Sinnesorganen und aus dem Gedächtnis kommenden Inhalte gelangt ins Bewusstsein. Fehlleistungen des Gehirns sind daran zu erkennen, dass sich etwas unmittelbar als plausibel Beurteiltes in einem späteren Kontext als falsch erweist.

 

Sinnesdaten treffen verhältnismäßig langsam ein. Um die Entscheidungszeiten möglichst kurz zu halten, muss das Gehirn eine Wahrnehmungssituation aufgrund weniger Sinnesdaten extrapolieren, indem es die wahrscheinlichste Konstellation der Dinge abschätzt.

 

Die hohe Konstruktivität des Gehirns, die auf der Bewertung früherer Interaktionen mit der Umwelt im Gedächtnis beruht, ist also eine Notwendigkeit für den Menschen, um in einer komplexen Umwelt zu überleben. Die gleiche Konstruktivität ermöglicht es ihm jedoch auch, mit der Umwelt aktiv umzugehen anstatt nur zu reagieren. Die semantische Geschlossenheit des Systems ist eine Grundlage für die Offenheit menschlicher Praxis.

 

Es besteht also ein dialektischer Zusammenhang zwischen der semantischen Geschlossenheit des Gehirns als eines neuronalen Netzwerks und der Offenheit menschlichen Handelns dadurch, dass das Gehirn als ein kognitives System durch selbstreferenzielle Überprüfung lernt, die Abläufe interner Erregungszustände als verlässliche Indikatoren für Ereignisse in der Umwelt anzusehen.

 

Wir sehen und hören tatsächlich die Umwelt, aber nicht mit unseren Augen und Ohren, sondern mit unserem Gehirn, indem wir durch phylogenetisch und ontogenetisch ausgebildete interne Kriterien ein Modell der Umwelt entwickelt haben, mithilfe dessen wir die über die Sinnesorgane eintreffenden Reize überlebensgerecht deuten können. Dieses Modell muss jedoch keine Isomorphie mit der Umwelt besitzen (wie könnte diese auch festgestellt werden?)

 

Die Fähigkeit zu langfristiger Handlungsplanung bezieht sich auf etwas, das in der Zukunft, d.h. nur als mentales Produkt existiert. Ebenso wird unser Denken und Handeln fundamental durch das mentale Konstrukt des Vergangenen bestimmt. Lebte der Mensch nicht gleichzeitig in Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, könnte er niemals die Komplexität seiner Umwelt meistern.

 

Realist: Realismus ist eine Auffassung, die besagt, es gibt eine Wirklichkeit, und wir können etwas von dieser Wirklichkeit erkennen und auch prüfen, ob das, was wir erkannt haben, wahr ist und ob es der Wirklichkeit entspricht. Der ontologische Realist behauptet, es gibt eine reale Außenwelt, unabhängig von Wahrnehmung und Bewusstsein. Es gäbe sie auch dann, wenn es uns Menschen nicht gäbe. Diese reale Welt hat Strukturen und besteht aus Dingen, die untereinander und mit uns wechselwirken können.

 

Der erkenntnistheoretische Realist sagt ebenfalls, dass die reale Welt erkennbar ist, auch das Ding an sich, aber nicht vollständig. Sie ist jedoch teilweise aus unseren Wechselwirkungen mit ihr rekonstruierbar. Allerdings bedeutet die Notwendigkeit, die Welt zu projizieren, eine gewisse Einschränkung ihrer Erkennbarkeit.

 

Es gibt natürlich Stufen der Erkennbarkeit. Das, was uns unmittelbar über die Sinnesorgane zugänglich ist, ist viel evidenter als das, was wir mithilfe von Sprache, Mathematik oder wissenschaftlichen Theorien daraus rekonstruieren. Es mag Dinge geben, mit denen wir überhaupt nicht in Kontakt kommen, von denen wir auch nicht behaupten können, dass es sie gibt. Weitere Einschränkungen ergeben sich aus der sprachlichen Formulierung von Erkenntnissen.

 

Im methodologischen Realismus geht es um die Frage, wie wir etwas über diese Welt erfahren können. Wissenschaftliche Theorien beschreiben Strukturen der realen Welt. Wir wissen dabei, dass diese Beschreibung oft nur näherungsweise und vorläufig ist und dass wir Fehler machen können. Unser Wissen über die Welt ist vorläufig, fehlbar, aber auch korrigierbar. Theorien leisten eine Zusammenfassung durch Verallgemeinerungen, Regelmäßigkeiten, Naturgesetze.

 

Ich bin ein Realist aus folgenden Gründen: Einmal wegen der Konvergenz der Wissenschaft. Die besagt, dass verschiedene Messmethoden für eine Naturkonstante etwa den gleichen Wert liefern, was erstaunlich wäre, wenn die Theorien nur etwas Konstruiertes beschreiben würden. Wenn neue Messungen vorliegen, werden die Schwankungen immer geringer und führen zu immer schärferen Werten.

 

Ein weiteres Argument ist die Entdeckung von Invarianten wie Energie oder Drehimpuls. Wir finden in der Physik jedes Mal diese Erhaltungsgrößen, und die Theorien konvergieren. Das wichtigste Argument ist für mich jedoch das Scheitern von Theorien. Theorien können durch Experimente zum Scheitern gebracht und damit falsifiziert werden. Woran scheitern Theorien? Der Konstruktivist hat auf diese Frage keine Antwort. Der Realist sagt jedoch: Die Theorie scheitert daran, dass die Welt anders ist als die Theorie sie beschreibt.

 

Idealist: Ich bin als Konstruktivist in fast allem anderer Meinung. Ich behaupte, es gibt nur eine uns zugängliche Welt, die ich Wirklichkeit nenne. Die bewusstseins-unabhängige Realität ist ein Glaube an eine plausible Idee, die niemals beweisbar ist und nichts mit dieser Wirklichkeit zu tun hat. Ich behaupte auch, Naturwissenschaft hat nichts mit Wahrheit und Realität zu tun.

 

Die Wirklichkeit ist uns unmittelbar gegeben. Sie ist das, was wir erleben, denken und uns vorstellen können. Die Annahme einer bewusstseins-unabhängigen Realität ist allerdings eine notwendige Annahme. Ich glaube an ihre Existenz, aber sie ist uns nicht zugänglich und völlig unerkennbar. Man kann als Empiriker und Hirnforscher zu keiner anderen Schlussfolgerung kommen, so paradox das erscheint.

 

Ich will kurz ein Paradoxon schildern, das die Grundlage des Konstruktivismus bildet. Unsere Erlebniswelt entsteht im Gehirn, das kann man relativ genau verorten. Wenn ich an einem Patienten bestimmte Hirnregionen per Stromstoß reize, entstehen bei ihm bestimmte Empfindungen, visuelle, akustische oder ein Kribbeln in den Fingern. Das Experiment gehört aber zu meiner Erlebniswelt. Ich sehe das Gehirn des Patienten in meinem Gehirn.

 

Ich kann auch meinen eigenen Schädel öffnen und mein eigenes Gehirn sehen (im Spiegel). Von diesem Gehirn nehme ich an, dass es meine Erlebniswelt hervorbringt, und damit gerate ich in ein tiefes Paradox, dass also das Gehirn, das mich erst hervorbringt, ein Teil der Welt ist, die es hervorgebracht hat. Das kann nicht sein.

 

Ich kann mein eigenes Gehirn dabei beobachten, wie es meine Erlebniswelt konstruiert. Das, was wir erleben, also das Gehirn, das ich untersuche, ist mein eigenes Gehirn, ist Teil meiner Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist aber völlig in sich abgeschlossen, es gibt nichts dahinter. Trotzdem muss es jemanden geben, der diese Welt hervorbringt, und dieses nenne ich Realität.

 

Diese Realität ist mir aber völlig unzugänglich. Denn wo existiert sie? Ich habe Sinneswahrnehmungen, aber die sind vollständig in meiner Erlebniswelt. Wenn ich über die Realität, also über das Gehirn, das mich hervorbringt, nachdenke, dann denke ich über die Realität nach, aber in meiner Wirklichkeit.

 

Wenn ich als Naturwissenschaftler Gehirne erforsche, tue ich das in meiner Wirklichkeit, das hat überhaupt nichts mit der Realität zu tun. Es muss jemanden geben, der mich hervorgebracht hat, der aber in meiner Welt nicht vorkommt.

 

Also ist es ein notwendiger Schluss: Es gibt eine Realität, die bewusstseins-unabhängig ist. Darin gibt es Organismen und ein Gehirn, das mich hervorbringt. Ich bin aber nur Konstrukt dieses Gehirns wie alles, was ich erlebe. Ich bin selbst ein Erlebnis. Was ich als Sinneswahrnehmung erlebe und auf eine Außenwelt beziehe, ist ein Konstrukt, genauso wie jeder Gedanke und jedes Modell.

 

Ein zweites Paradoxon besteht darin, dass in meiner Erlebniswelt mein Gehirn nicht vorkommt. Und auch nicht die Erlebniswelt der Gehirne, die ich untersuche. Mein Gehirn ist mir nicht bewusstseinsmäßig zugänglich. Es existiert nicht in meiner Erlebniswelt. Dort existiert nur ein Gehirn, das ich über den Bildschirm anschauen kann. Wenn ich meinen Schädel öffne, kann ich mein Gehirn im Spiegel sehen, vermittelt durch die Sinnesorgane. Aber dieses angeschaute Gehirn bringt mich nicht hervor.

 

Durch den Realismus, der eine Zugänglichkeit der Realität annimmt, entsteht eine Verdopplung der Welt. Für Realisten gibt es eine erkennbare Realität und eine Erlebniswirklichkeit. Das ist für mich jedoch keine Lösung des Paradoxons.

 

Mein Ich ist ein Konstrukt, ebenso wie mein Erleben. Aber diese Konstrukte hängen nicht von mir ab, da ich selbst ein Konstrukt bin. Ich bin nicht der Konstrukteur meiner Erlebnisse. Ich erleide sie. Es ist das Gehirn, das mich konstruiert und meine Sinneswahrnehmung konstruiert. Dieses Gehirn ist mir aber nicht zugänglich.

 

Es ist eine vernünftige Annahme, dass es Mechanismen gibt, die das Gehirn, das mich hervorbringt, so konstruieren, dass ich denke und handle und als Organismus überlebe. Ich nehme an, die Grundstruktur meines Gehirns ist über die Evolution so entstanden, dass meine Erlebniswelt, phänomenale Welt oder Wirklichkeit, ein Minimum an Übereinstimmung mit der unerkennbaren Realität hat.

 

Das kann ich aber niemals feststellen. Ich kann es nur aus der Tatsache schließen, dass ich existiere und eine Wirklichkeit habe. Es muss eine Übereinstimmung geben dessen, was ich mir an Modellen über die Realität mache, mit der Realität selbst. Meine Existenz oder der Erfolg meiner Handlung ist keineswegs ein Argument dafür, dass ich die Realität erkennen kann, sondern nur dafür, dass ich in ihr - wenn es sie denn gibt - überleben kann.

 

Obwohl wir nichts von der Realität wissen und uns nur die Wirklichkeit gegeben ist, ist diese Wirklichkeit keineswegs willkürlich, sie stammt nicht von uns. Die ontologische Schlussfolgerung des Konstruktivismus lautet letztlich: Wissenschaft hat nichts mit Realität zu tun und nichts mit Wahrheit. Es ist nur eine besondere Art, miteinander zu reden und zu agieren. Auch der Fortschritt der Wissenschaft ist absolut nicht eine Annäherung an Realität und an Wahrheit.

 

Realist: Der naive Realist wird durch eine philosophische Reflexion zum kritischen Realisten, der annimmt, dass die Welt eine Hypothese ist. Es stellt sich die Frage, ob die beiden Paradoxa, die Sie formuliert haben, uns zwingen, den Realismus aufzugeben. Das erste Paradoxon, dass wir als Neurobiologen im Gehirn keine Erlebniswelt finden, scheint mit dem Leib-Seele-Problem zusammenzuhängen.

 

Das zweite Paradoxon kann vom hypothetischen Realisten leicht aufgeklärt werden, indem er sagt, das Gehirn ist ein Ergebnis der Evolution. Und es war evolutiv nicht nötig, das eigene Gehirn mitzuerleben, darauf stand keine selektive Prämie. Sie nennen ja ein gutes Argument, eine Realität anzuerkennen: Sie übt einen gewissen Selektionsdruck auf unsere Vorstellungen aus.

 

Idealist: Wenn Sie ein hypothetischer Realist sind, sind Sie ein Konstruktivist, aber Sie können nicht gleichzeitig ein kritischer Realist sein. Entweder ist man Realist und sagt, die Welt ist zumindest partiell erkennbar, oder man sagt, alles ist hypothetisch, dann ist man Konstruktivist. Realismus steht und fällt mit der Verdopplung der Welt, weil ich meine Aussagen, die ich in der Wirklichkeit mache, an der Realität überprüfen muss. Diese reale Welt ist mir aber völlig unzugänglich. Ich denke, spreche und schreibe in menschlichen Kategorien. Realität ist aber undenkbar, unaussprechbar und unbeschreibbar.

 

Ich kann in meiner Wirklichkeit nachweisen, dass die Sinnesorgane elektrische Impulse erzeugen und dass aus diesen Impulsen die Welt entsteht, die ich erlebe. Farben, Formen, Töne, Gedanken, Erinnerungen entstehen aus diesen neurochemischen Prozessen. Und diese haben ontologisch nichts mit der unerkennbaren Welt zu tun, wenn sie auch in Wechselwirkung mit ihr stehen, wie wir beide annehmen.

 

Es müssen jedoch gar keine Lichtwellen auf meine Netzhaut fallen, um Farben zu produzieren, sondern ich kann das durch Stromstöße im Gehirn simulieren. Damit kann ich den Beweis antreten, dass das Gehirn aus diesen Nervenimpulsen eine Erlebniswelt konstruiert. Diese Welt rekonstruiert nicht die Realität, sondern sie konstruiert eine Wirklichkeit. Diese Aussage ist aber ein Modell, das ich in meiner Wirklichkeit mache. Die Wissenschaft besteht aus sehr plausiblen Hypothesen über die Realität, aus nichts sonst.

 

Realist: Vorhin sagten Sie, die Realität ist absolut unzugänglich, und jetzt sagen Sie, sie ist durch Hypothesen erfassbar.

 

Idealist: Nein, ich habe gesagt, man kann Hypothesen über die Realität aufstellen. Ob die Hypothesen zu neunzig Prozent falsch oder zu neunzig Prozent richtig sind, ist prinzipiell unüberprüfbar. Sie können auch völlig falsch sein. Ich kann nur ein Höchstmaß an Plausibilität erreichen, das hat aber nichts mit der Realität zu tun.

 

Realist: Mir scheint ein Fehler darin zu bestehen, dass etwas, was nur Hypothese ist, nicht als Wissen bezeichnet werden darf.

 

Idealist: Von Wissen habe ich überhaupt nicht gesprochen. Einigen wir uns auf gesicherte objektive Erkenntnis.

 

Realist: Aber es ist doch nicht dasselbe, ob ich plausibel spekuliere, oder ob ich in Prüfungen 97 mal scheitere und 3 mal erfolgreich bin. Der Realist sagt, es ist gescheitert, weil die Welt anders war. Durch die 3 Erfolge habe ich gute Gründe zu sagen: So ist die Welt.

 

Idealist: Bitte nennen Sie mir ein Verfahren, wie man herausfinden kann, ob das, was wir als Naturwissenschaftler behaupten, richtig ist. Ein Kriterium, an dem ich festmachen kann, jetzt nähere ich mich der Wahrheit. Beweise beruhen nur auf Plausibilitätsannahmen. Es ist die Erfahrung des Wissenschaftlers, etwas zu glauben oder nicht. In Realität kann es genau das Gegenteil sein.

 

Realist: Wir können zwar keine Wahrheit als Wahrheit beweisen, aber wir können Fehler als Fehler erkennen.

 

Idealist: Das würde ich bestreiten.

 

Realist: Unser Wissen bleibt immer Vermutungswissen, aber wir können Fehler vermeiden. Wir irren uns empor.

 

Idealist: Also über die Nicht-Erkennbarkeit der Wahrheit sind wir uns einig.

 

Realist: Nicht-Beweisbarkeit der Wahrheit.

 

Idealist: Das ist ein logischer Widerspruch. Aber wir können auch Irrtümer nicht verlässlich erkennen.

 

Realist: Wir stellen eine Hypothese auf und leiten Folgerungen daraus ab, die wir in der Erfahrung überprüfen. Wenn die Erfahrung das bestätigt, können wir leider nicht logisch zurückschließen auf die Wahrheit der Prämissen. Aber wenn die Erfahrung der Folgerung widerspricht, können wir per modus tolens zurückschließen auf die Falschheit der Prämissen.

 

Idealist: Das bestreite ich. Auch der Falsifikationismus ist eine Theorie, die nicht der Realität entspricht.

 

Realist: Falsifikation ist möglich, auch wenn sie nicht zu beweisen ist. Zwischen der Wahrheit und der Beweisbarkeit muss man streng trennen. Der hypothetische Realist sagt, ich kann es nicht beweisen, deshalb ist es hypothetisch. Aber es kann wahr sein, deshalb ist es Realismus.

 

Idealist: Wenn Realität partiell erkennbar ist, dann würde ich gern wissen, wie man das macht.

 

Realist: Also wir stimmen darin überein, dass alles, was wir wissen, vom Gehirn konstruiert ist. Ich stelle die kritische Frage: Wie viel davon ist Rekonstruktion von Realität? Ich gebe Prüfkriterien an wie Kontrolle, Nachmessen, Invarianzkriterien u.a., mit denen ich das hypothetisch erkenne.

 

Idealist: Wie ist der Begriff der Realität zu verstehen? Was hat das für einen Sinn zu sagen, die Welt ist dreidimensional, wenn der Begriff der Dreidimensionalität ein Begriff unserer Anschauungswirklichkeit ist? Die Realität als solche hat sicherlich keine Dimensionen.

 

Realist: Meine Realität hat auch drei Dimensionen.

 

Idealist: Das Modell Ihrer Realität in der Wirklichkeit.

 

Realist: Natürlich. Aber die rekonstruierte Welt auch.

 

Idealist: Ich will jetzt meine Behauptung, dass Wissenschaft nichts mit Wahrheit zu tun hat, begründen. Es gibt eine Definition über Wahrheit von Tarski, die lautet: Nur Aussagen sind wahr. Auch klassische Wahrheitsdefinitionen besagen: Eine Aussage A ist dann wahr, wenn A der Fall ist. Es regnet draußen, wenn es wahr ist, dass es draußen regnet. Es muss sich auf eine Korrespondenz zwischen Behauptung und Realität zurückführen lassen, eine Übereinstimmung zwischen einem Satz und der Realität.

 

Ich behaupte, dass diese Definition von Wahrheit nur dann sinnvoll ist, wenn man sie überprüfen kann. Man muss voraussetzen, dass es eine Möglichkeit gibt zu überprüfen, ob A der Fall ist. Diese Überprüfung kann aber immer nur in der Wirklichkeit mit anderen Dingen der Wirklichkeit, niemals aber an der objektiven Realität erfolgen, die mir völlig unzugänglich ist. Wir können die Wirklichkeit immer nur mit den gleichen Sinnesorganen an der Wirklichkeit messen, das ist die Selbstreferenzialität von Aussagen.

 

Sinneswahrnehmungen sind eine sehr schwache Konsistenzprüfung. Eine stärkere Kontrolle ist die Überprüfung an einer vergangenen Erfahrung. Doch auch die kann versagen. Die fundamentalsten Annahmen der Logik können bezweifelt werden. Dann gibt es die letzte Möglichkeit: zu überprüfen, ob die Aussagen wenigstens akzeptabel sind. Das ist natürlich ein Zirkel.

 

Die Realität ist nicht aussagbar und nicht denkbar. Unser Gehirn und eine Schleife von Konsistenz-Überprüfungen garantieren uns absolut nicht, dass wir uns auf irgend eine Weise der Wahrheit annähern, sondern nur, dass wir einen immer höheren Grad von Plausibilität erreichen.

 

Wissenschaft kann als Ziel nicht die objektive Realität haben. Wissenschaft ist eine besondere Art, diese Konsistenzüberprüfung zu machen. Ich kann auch in der Wissenschaft meine Aussagen nicht an der objektiven Realität überprüfen. In der Vergangenheit haben sich in der Institution Wissenschaft Regeln herausdestilliert, die diese Plausibilitätsprüfungen formalisiert und effektiv gemacht haben. Doch sie konnten gigantische Irrtümer nicht verhindern. Auch die Wissenschaft ist ein selbstreferenzielles System. Wissenschaft wird durch das bestimmt, was Wissenschaftler für Wissenschaft halten.

 

Es gibt einen Fortschritt in der Wissenschaft, allerdings nicht im Sinne einer zunehmenden Annäherung an die Wahrheit. Doch wir können im Plausibilitätszirkelschluss feststellen, ob die innere Konsistenz von Aussagen sich erhöht oder erniedrigt, völlig unabhängig davon, was außerhalb dieses Netzes passiert. Viele Leute würden sagen, die Wissenschaft entfernt sich seit zweitausend Jahren von der Wahrheit. Das ist kein Fortschritt.

 

Realist: Ein entscheidendes Problem scheint darin zu liegen, dass für Sie Wahrheit immer sicher erkennbar sein soll. Das ist für mich nicht nötig. Bei den Wahrheitskriterien frage ich: Wann kann ich einer Aussage Wahrheit sinnvoll zusprechen oder absprechen?

 

Die korrespondenztheoretische Wahrheit liegt natürlich in der Übereinstimmung eines Satzes mit der Wirklichkeit. Die Aussage: Es regnet genau dann, wenn es draußen regnet, hat immer tautologischen Charakter. Darin liegt ein Problem, und dieses Problem ist nicht restlos gelöst. Mir wäre eine Aussage nur dann als wahr erkennbar, wenn ich Gott wäre.

 

Wir fordern logische Kriterien, Widerspruchsfreiheit, Zirkelfreiheit, dann die empirische Prüfbarkeit, auch wenn viele positive Testergebnisse noch nicht die Wahrheit garantieren. Diese Kriterien erlauben jedoch, viele Sätze als nicht wahr auszuschließen. Was uns bleibt, sind gute Kandidaten für die Wahrheit.

 

Idealist: Mir ist klar geworden, dass wir weitestgehend übereinstimmen, außer in einem wichtigen Punkt, nämlich der Frage: Ist das Aufrechterhalten des Wahrheitskriteriums sinnvoll oder nicht? Ich sage, das ist sinnlos, wenn es offenbar keine Möglichkeit gibt, objektiv festzustellen, ob etwas wahr ist.

 

Realist: Nicht sicher.

 

Idealist: Ich behaupte, in der objektiven Realität haben Ausdrücke wie Tisch oder Ecke, Schwerkraft, Newton'sches Gesetz oder Kausalität überhaupt keinen Sinn. Sie haben nur einen Sinn in unserem Bemühen, uns in unserer Wirklichkeit, wozu die Wissenschaft gehört, ein Erklärungsmodell zusammenzureimen. In der bewusstseins-unabhängigen Welt gibt es keine Sprache, kein Denken, sondern nur irgend etwas, von dem wir ein Teil sind.

 

Realist: Die Tatsache, dass wir hier unter Konkurrenz überlebt haben, ist ein Argument dafür, dass unsere Erkenntnis dieser Welt nicht so falsch sein kann, wie sie wäre, wenn wir nur Konstruktionen machten.

 

Idealist: Das ist ein schönes Beispiel für eine plausible Annahme, von der wir aber nicht wissen, ob sie stimmt. Es gibt zahllose Beispiele dafür, dass es nicht darauf ankommt, zum Zwecke des Überlebens die Welt richtig abzubilden, sondern nur, dass man sie nicht so inkorrekt abbildet, dass man zugrunde geht.

 

Ich glaube auch, dass wir ein Minimum an Übereinstimmung unserer Wahrnehmungs- und Erkenntniswelt mit den objektiven Gegebenheiten haben. Das ist eine plausible Annahme. Die Leibniz'sche prästabilierte Harmonie ist nicht zu widerlegen. Alle unsere Modelle haben eine viel weiter gehende Erklärungskraft, deshalb ist für mich der Fortschritt der Wissenschaft kein Rätsel.

 

Realist: In meiner Sicht der Wissenschaftsgeschichte ist das Konvergieren die Regel und das ewige Hin- und Herschwingen die Ausnahme.

 

Idealist: Es gibt zweifellos einen Fortschritt der Wissenschaft. Es gibt aber auch Leute, die sagen, die ganze abendländische Wissenschaft ist ein großer Irrtum, und das ist die Mehrzahl der Menschen auf der Welt. Nur wenige meinen, dass wissenschaftlicher Fortschritt etwas Gutes ist.

 

Aber wir meinen das, und ich erkläre das so, dass die innere Konsistenz von Aussagen erhöht wurde innerhalb der Phänomene der Wirklichkeit. Ich strebe eine Erhöhung der Erklärungskraft innerhalb meiner Wirklichkeit an gegenüber Phänomenen der Wirklichkeit. Es ist vernünftig, daraus zu schließen, dass unsere Aussagen die tatsächlichen Verhältnisse mehr und mehr wiedergeben. Eine vernünftige Annahme, die aber durch nichts gewiss wird.

 

Realist: Der Realist sagt, es gibt eine Konvergenz der Wissenschaft, weil sich die Theorien der Beschreibung der Realität nähern.

 

Idealist: Der Konstruktivist sagt, diese Aussage ist logisch in sich inkonsistent und deshalb zu vermeiden. Sie führt in eine grundsätzliche Aporie, weil es keinerlei Möglichkeit gibt zu überprüfen, ob der Sachverhalt so ist.

 

Realist: Gut. Aber warum gibt es Konvergenzen in der Wissenschaft? Zufall?

 

Idealist: Nein. Weil Menschen daran interessiert sind, ihre Weltbeschreibungen weiter zu vereinheitlichen. Wissenschaft strebt die Vernünftigkeit an, und sie ist ein vernünftiges Reden und Tun miteinander. Die Wissenschaft mag insgesamt unvernünftig sein.

 

Kommentar: Es ist schon erstaunlich, dass, wie dem vorliegenden Text zu entnehmen ist, gerade ein Empiriker und Hirnforscher zu einer solchen idealistischen Auffassung gelangt. Streng genommen handelt es sich dabei jedoch um gar keinen idealistischen Standpunkt, da sein Verfechter ja eine existierende Realität annimmt, die nur völlig unerkennbar ist. Hier wird eine Transzendentalität vorausgesetzt, die an Kant und das von ihm postulierte „Ding an sich“ erinnert, das ebenfalls prinzipiell unerkennbar ist.

 

Dem vorliegenden Dialog liegt eine komplizierte Konstellation zugrunde. Es handelt sich um zwei Empiriker, von denen einer (der „Idealist“) aufgrund seiner empirischen Forschungstätigkeit eine idealistische (transzendentale) Weltanschauung entwickelt hat, während der „Realist“ als lehrender Philosoph tätig ist, dabei aber eine wissenschaftstheoretische Position vertritt, die traditionell gar nicht als Philosophie gilt, und die sich erst in der Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus konstituiert hat: die analytische Philosophie.

 

Diese Position kann aber im Laufe der Diskussion nicht konsequent durchgehalten werden, sondern der „hypothetische Realismus“ wird anscheinend als logisch inkonsequent disqualifiziert und sogar als ein verdeckter Konstruktivismus „entlarvt“. Möglicherweise sind auf der Seite des Realismus auch nicht alle Argumente ausgeschöpft worden. So hätte beispielsweise ein nicht zu widerlegendes pragmatisches Argument angeführt werden können: die erforderliche Handlungsrelevanz aller empirischen Forschung als Verifikationsprinzip.

 

Danach müssen z.B. die errechneten Konstellationen der Planeten im Sonnensystem deshalb als übereinstimmend mit der Realität angesehen werden, weil Menschen und Sonden tatsächlich auf ihnen gelandet sind. Und die „wahre“ Kenntnis der genetischen Codierung aller Lebewesen ist dadurch gesichert, dass mit ihrer Hilfe in der Gentechnologie tatsächlich routinemäßig Merkmale und Eigenschaften an Organismen nach einem Nützlichkeitsprinzip manipuliert werden.

 

Eine ausführliche Untersuchung von Übereinstimmungen und Differenzen zwischen Idealismus, Realismus, Konstruktivismus und Wissenschaftstheorie wäre sicher sehr aufschlussreich. Hier geht es darum, auf die überraschende Kongruenz zwischen den Ergebnissen empirischer Forschung und philosophischen Positionen aufmerksam zu machen, die sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen der naturwissenschaftlichen Tätigkeit des Konstruktivisten und seinem idealistischem Weltbild ergibt.

 

Es zeigt sich eine erstaunliche und weitgehende Parallelität des vorgestellten konstruktivistischen Konzepts zu der transzendentalen Philosophie Kants. Im vorliegenden Text wird zwar eine andere begriffliche Terminologie zugrunde gelegt, aber wenn man diese in die „Sprache“ Kants übersetzt, ergibt sich eine verblüffende Übereinstimmung in grundlegenden Positionen.

 

Am Anfang des Dialogs wird dieser Zusammenhang in den einleitenden Bemerkungen zur Skizzierung der Problematik besonders deutlich. Wenn von „internen Kriterien“ die Rede ist, die beim Menschen einen festen Satz von Bedeutungszuweisungsregeln bilden, tritt fast automatisch eine Assoziation mit Kants Kategorien des Verstandes ein.

 

Die erwähnten topologischen Ausrichtungen und zeitlichen Beziehungen im Gehirn lassen an Kants apriorische Anschauungsformen des Raumes und der Zeit denken. Dass die elementaren Wahrnehmungen wie Form, Größe, Farbe vom Gehirn erst aus den Aktivitäten der Rezeptoren errechnet werden müssen, erinnert an Kants Postulat, dass die eintreffenden Erscheinungen der Wahrnehmung den allgemeinen Regeln der Synthesis unterworfen werden müssen und durch diese erst bestimmt werden.

 

Die Realität gilt im konstruktivistischen Konzept als ebenso prinzipiell unerkennbar wie Kants „Ding an sich“. In beiden Fällen wird vom Individuum aktiv eine Wirklichkeit konstruiert, ob aus den eintreffenden neuronalen Signalen oder aus der Mannigfaltigkeit von Sinnesdaten, scheint dabei unerheblich zu sein oder nur auf einer unterschiedlichen Terminologie zu beruhen.

 

Bei genauerer Untersuchung ergäben sich bestimmt noch weitere Parallelen, wie natürlich andererseits auch zahlreiche Abweichungen festzustellen sind. So wird beispielsweise vom Vertreter der Konstruktionstheorie nicht thematisiert, dass das Denken selbst ja nicht durch die Sinnesorgane vermittelt wird und somit eine höhere Dignität aufweisen müsste als die empirischen Erkenntnisse. Das gleiche gilt für alle apriorischen Erkenntniskategorien und das Bewusstsein, die Apperzeption.

 

 

Birgit Sonnek

 

Oktober 2003

 

 

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