Leinfellner, Werner: Die SPIELTHEORIE
Das Konzept der
Kausalität und der Spiele in der Evolutionstheorie
Mutationen, Selektionen,
aggressive Gene ... Seit Darwin wissen wir, dass die Starken gewinnen und die
Schwachen verlieren. Aber wehe, wenn sich die Umwelt verändert! Dann sterben
plötzlich die Sieger aus und die Mickrigen überleben. In der Evolution wechseln
sich Phasen des Konkurrenzkampfes mit kooperativen Phasen ständig ab. Ist das
Ganze nur ein Spiel, dessen Regeln beliebig verändert werden können? Sitzt Gott
im Himmel und lacht sich halb tot? Die Spieltheorie bietet auch ernsthaften
Menschen die Möglichkeit, die verschlungenen Prozesse der Evolution besser zu
durchschauen.
Werner Leinfellner
beschreibt die Entstehung dieser interessanten Theorie folgendermaßen:
Evolutionstheoretiker und Sozialwissenschaftler hätten den Newtonschen Begriff
einer alles bestimmenden linearen Kausalität (einseitige Verursachung) schon
immer abgelehnt. Sie entwickelten ein statistisches Kausalitätsmodell, das sich
besser zur Erklärung von evolutionären und sozialen Systemen eigne, weil es die
gegenseitigen Beeinflussungen und zirkulären Verursachungsschlingen berücksichtige.
Allein streng
deterministische Systeme wie die Mathematik ermöglichten definitive
Vorhersagen. Dynamische Systeme jedoch, die dem Zufall unterliegen, könnten
ihre Prognosen nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit treffen. Die
Entwicklung von Sozialsystemen, die aus Gruppen und Individuen bestehen, könne
nur als Durchschnittsverhalten vorausgesagt werden (wann eine einzelne Person
sterben wird, sei nicht vorhersagbar). Indeterministische
Systeme besäßen aber gegenüber mechanischen den Vorteil eines gewissen
Freiheitsspielraums im Handeln.
Die statistische
Unbestimmtheit in biologischen Systemen werde durch externe und interne
Einflüsse verursacht: durch Zufälle aus der Umgebung oder gegenseitige Beeinflussungen.
Diese multiplen Ursachen zerstreuten die Gesamtenergie des Systems und führten
zu höherer Komplexität z.B. der lebendigen Makromolekülen gegenüber den
leblosen. Kooperation (Symbiose) sei ein komplexer Zustand, für den die
einfachen physikalischen Gesetze nicht mehr zuträfen. Hier würden Naturgesetze
als Invarianzen (Regelmäßigkeiten) verstanden.
Die neue statistische
Kausalität führe zu der Annahme eines global zusammenhängenden holistischen
Systems, dessen Subsysteme (physikalisch, biologisch oder kulturell) ein
einziges offenes, nicht hierarchisches Wirkungssystem mit dazwischenliegenden
Kausalschlingen und kybernetischen Zyklen bildeten. Das Bild des Universums als
ein kausal verbundenes Wirkungssystem sei auch die Konsequenz des berühmten
Bell-Theorems und wurde von Werner Leinfellner zum
Aufbau einer neuen Ontologie verwendet.
Danach gehörten alle
Einzelsysteme der Welt zu einem sich selbst organisierenden Wirkungssystem und
stünden untereinander in ständiger Wechselwirkung. Die globale Kausalität führe
weiter zur Annahme eines zugrundeliegenden fluktuierenden kausalen Feldes, das
alle Subsysteme verbinde und sie in ein entropisches
(auseinanderstrebendes) weltweites Umgebungssystem einbette. Die
Wahrscheinlichkeiten dieses Kausalfeldes ähnelten punktuellen Verdichtungen an
bestimmten Stellen.
Die klassische
Kausalstruktur von Newtonschen Automaten habe nur unverzweigte Kausallinien gestattet
und keine wahrscheinlichen Ereignisse zugelassen. Doch sei diese Linearität in
Kosmologie und Quantentheorie immer häufiger verletzt worden. Mit der neuen
statistischen Kausalität könnten diese Abweichungen auf stetig störende
Zufallsereignisse zurückgeführt werden. Trotz Einsteins Einwand, „Gott würfelt
nicht“, d.h. die Natur hängt nicht vom Zufall ab, habe sich die gegenteilige
Ansicht durchgesetzt. Aber die Frage, was Zufall eigentlich sei, blieb offen.
Ein Zufallsereignis sei die
Änderung eines Systemzustandes, verursacht durch so viele und komplexe
Partialursachen, dass sie nicht mehr erfassbar seien und uns verborgen blieben.
Die wirkenden Teilursachen gehörten dem zugrundeliegenden fluktuierenden
kausalen Feld an. Deshalb seien „chaotische Systeme“ wie das Wetter oder die
Wellen- und Wirbelbildungen auf der Oberfläche eines Ozeans unvorhersagbar. Die
subjektive Unvollständigkeit unserer Informationen zwinge uns zur statistischen
Beschreibung der Phänomene.
Unter den Teilursachen von
Zufallsereignissen befänden sich wiederum Zufallsereignisse, deren Änderungen
sich fortpflanzten und zu neuen Fluktuationen führten. Die klassischen
Kausallinien würden durch einen dreidimensionalen Kausalzusammenhang allen
Geschehens ersetzt. Ähnliche Feldkonzepte gebe es auch in der Gravitationstheorie,
der Elementarteilchenphysik und der Elektrodynamik, deren vier Grundtypen
(schwache, starke, elektrodynamische und Gravitationsfelder) man heute auf ein
einziges zugrundeliegendes Feld zu vereinfachen suche.
Eine Mutation, verursacht
durch ein Photon aus einer fernen Galaxis, werde nicht als Interaktion eines
biologischen Systems mit Zufallsereignissen angesehen, sondern als Interaktion
mit dem zugrundeliegenden Kausalfeld. Die Mutation stelle eine partielle
Kausalursache dar, die nicht mit Ja oder Nein, sondern nur mit einer Durchschnitts-Voraussage
prognostiziert werden könne. Zufallsereignisse seien wirkliche Ursachen, die
sich in einem bestimmten Teil des Feldes aufbauten und die darin befindlichen
biologischen Systeme zur Evolution zwängen. Klimatische Störungen,
Umweltverschmutzungen und „freier Wille“ seien Beispiele für solche komplexen,
nur statistisch erfassbaren Zufälle.
Jede Interaktion baue ein
kurzfristiges Supersystem auf, dem beide angehörten, das Ursache- und das
Wirkungssystem. In jedem genetisch-evolutionären Prozess sei die
Wahrscheinlichkeit hoch, dass alle Systeme einmal miteinander ein Supersystem
gebildet hätten. Die Biosphäre oder das Leben auf der Erde würden zwar als
separate Systeme betrachtet, aber geschlossene Systeme ohne jede Interaktion
könne es gar nicht geben. Die Annahme eines kausalen Feldes, das alles
Geschehen im Fluss halte, impliziere die Unmöglichkeit, Teile eines
holistischen Systems zu isolieren und von jeder Beeinflussung zu befreien.
Die gesamte Welt mit ihren
anorganischen, organischen und sozialen Subsystemen sei ein gigantisches System
von Wechselwirkungen. Gegenüber atomistischen Erklärungen besage die Holismus-Theorie: Eine Zelle kann nicht durch die Addition
ihrer Atome erklären werden, sondern nur mit einer spieltheoretischen Superadditivität (Aristoteles: Das Ganze ist mehr als die
Summe seiner Teile). Dennoch sei das holistische Ganze nichts Mystisches,
sondern aus dem zugrunde liegenden dynamischen Kausalfeld ableitbar. Kooperativ
entstandene Supersysteme formten bei ihrer Synthese eine Quasihierarchie mit
kausalen Schlingen und Rückkopplungen. Sie könnten nicht aus den Eigenschaften
ihrer Teilsysteme erklärt werden, sondern nur aus den Interaktionen der Teile.
Hinderlich sei der Glaube,
biologische Zusammenhänge seien wie klassisch-kausale Naturgesetze aufgebaut,
in denen eine Wirkung auf eine Ursache folge. Abweichungen gälten dann immer
als Fehler, sie beruhten aber nur auf falschen Vorstellungen über den mechanischen
Ablauf einer unfehlbaren Weltmaschine, die keinerlei Evolution oder Selbstverbesserung
benötige. Unser Planetensystem werde entgegen Kants und Newtons Auffassung alle
drei Jahrtausende empfindlich gestört. Solche Abweichungen sicherten die
Gleichgewichtslage. Absolute Ja- oder Nein-Aussagen
stellten idealisierte fiktive Werte dar.
Die statistische Kausalität
kenne drei kausale Gabeln: Viele Ursachen führen zu einer Wirkung, eine Ursache
führt zu vielen Wirkungen oder viele Ursachen führen zu vielen Wirkungen. Der
Begriff des kausalen Netzes führe zum Konzept einer Invarianzstruktur
(Regelmäßigkeit) als ontologisch-empirisches Fundament der statistischen
Kausalität. Bei einer hohen Korrelation (Gleichverlauf) müsse aber noch keine
kausale Beziehung vorliegen, es könne sich auch um eine zeitliche Folge
handeln. Die lineare klassische Kausalität sei ein Grenzfall der statistischen
Kausalität. Nur in einer idealisierten, zufallsfreien Welt könnten ihre Gesetze
zu All-Aussagen führen, anhand derer ein allwissendes Wesen das Weltgeschehen
erklären könnte. Dort wäre aber kein Platz für Evolution.
Als Leinfellner
die Darwinsche Evolutionstheorie durch eine dynamische Spieltheorie ersetzte,
die auf statistischer Kausalität basiert, habe sich gezeigt, dass die Wissenschaft
weniger von Paradigmen als vielmehr von neuen Methodologien beeinflusst werde.
Die „Theorie der Spiele“, 1947 von den Sozialwissenschaftlern Neumann und
Morgenstern entwickelt, betrachte die menschliche Gesellschaft als einen gigantischen
Entscheidungsprozess. Die Entwicklung verlaufe kontinuierlich, wenn sich die
Voraussetzungen zur Entscheidungsfindung nur wenig änderten. Sie sei jedoch revolutionär,
wenn völlig neue Regeln eingeführt würden.
Entscheidungen würden primär
durch Individuen verursacht, sekundär durch deren immanente Tendenz, ihren
Nutzen zu vergrößern. Die Nutzenmaximierung werde als Hauptmotiv angesehen,
Probleme zu lösen bzw. das Spiel zu gewinnen. Entscheidungen würden aber auch
durch ethische und moralische Prinzipien sowie unzählige Teilursachen
beeinflusst. Der Nutzen bestimmter Strategien bestehe in „Auszahlungen“. Lösungen
bedeuteten die Beendigung von Konflikten.
Kompetitive Spiele basierten auf dem Konkurrenzprinzip und seien
gegeneinander gerichtet. Durch bloße Einsicht in die Regeln könne eine optimale
Lösung für beide Spieler erreicht werden. Das Gleichgewichtsprinzip sichere den
einen Konkurrenten vor zu hohen Verlusten, verhindere aber beim anderen den
größtmöglichen Gewinn. Dasselbe gelte für die „Minimax-Strategie“
gegen die Natur oder den Zufall. In kooperativen Spielen dagegen würden die
Gewinne unter allen Beteiligten aufgeteilt.
Die Evolution verlaufe
prinzipiell zweiphasig: Eine kompetitive Phase (Kampf
ums Dasein) werde immer von einer kooperativen Phase der Integration abgelöst,
in der sich die Einheiten zu einem höheren System organisieren. Diese höheren
Systeme träten dann mit anderen in eine Konkurrenzphase ein, auf die wieder
eine kooperative folge usw. Evolution sei eine ständige Folge von kompetitiven und kooperativen Spielen.
Wenn man die
Entscheidungsprozesse von Individuen gegeneinander, gegen den Zufall oder gegen
die Natur als Spiele zwischen partiellen Ursachen ansehe, verliere der
Entscheidungsprozess seinen bewussten, rationalen Charakter, aber die Grundidee
bleibe erhalten. Auch unsere Demokratie könne als kollektiver Entscheidungsprozess
angesehen werden Der Sinn der Spiele bestehe darin, sie zu gewinnen, indem man
seinen Nutzen maximiere. Dabei erhöhe sich die Spielerfahrung, und erfolgreiche
Strategien würden in der Erinnerung abgespeichert.
Die Strategien der Züge
seien Reaktionen auf aktuelle oder mögliche Ursachen mit unterschiedlichen
Wahrscheinlichkeiten. Wenn man „Nutzen“ durch „Fitness“ ersetze, gewinne der
historische Aspekt an Bedeutung, dass man aus der Geschichte für die Zukunft
lernen müsse. Spieler könnten nicht ahistorisch
handeln, wollten sie nicht aussterben, und das müsse zumindest für Pflanzen und
Tiere ausgeschlossen werden.
Maximierung von Fitness
heiße, dass die Überlebensrate der gewinnenden Spezies die Aussterberate der
Verlierer übersteigt bzw. dass angepasste Makromoleküle schneller wachsen als
die anderen und sie ersetzen. Dieser Ausgang sei typisch für eine kompetitive Konfliktlösung, bei der erfolgreiche Spielerfahrungen
als genetische Erinnerungen nukleotid gespeichert
würden. Solche typischen Prozesse gegenseitiger Verursachungen seien
Optimierungsprozesse für Fitness und Überleben, die Lösungen beendeten einen
Konflikt zwischen partiellen Ursachen.
Die Häufigkeit, mit der ein
Spieler verschiedene Strategien benutze, ändere sich so lange, bis sie eine
stabile Verteilung erreiche, die den Gewinner charakterisiere. Diese Stabilität
könne dann nur durch sehr starke Fluktuationen des kausalen Feldes, d.h. durch
umwälzende Zufallsereignisse, wieder zerstört werden. Dann beginne ein neues
Spiel gegen den in der Natur herrschenden Zufall. Der Entwicklungsprozess
schaffe ein historisches, genetisch vererbbares Gedächtnis, in dem die
Spielregeln „a priori“ vorhanden seien. Das Gedächtnis müsse nicht bewusst sein.
Nur in
sozial-gesellschaftlichen Spielen müssten die Regeln der zulässigen Züge
bewusst erlernt werden, um neue und bessere Strategien hinzuzufügen und aufzubewahren.
Wir müssten zuerst über einen Plan verfügen, dann könnten wir ihn in die
Realität umsetzen. Evolutionäre Spiele seien dagegen sich selbst-organisierende
Problemlösungsstrategien, jedem planenden Entwerfen diametral entgegengesetzt.
Selbstorganisation bedeute, dass die alte Spielerfahrung die neue bedinge, die
bei der Realisierung den Plan verbessere. Dabei seien es mutagene
Zufallsereignisse, die durch Selektion den Anstoß zur Verbesserung gäben.
Nutzen oder Überlebenswerte
seien qualitative Bewertungen von Strategien, die sich in biologischen Rangordnungen
manifestierten. Ohne ein sich selbst organisierendes Gedächtnis könne kein
Leben existieren. Auf der Erde habe das Leben ein solches interindividuelles
Gedächtnis aufgebaut, das zwar durch Zufallsereignisse selektiv entstanden sei,
aber als nukleotidisches Zellgedächtnis den sich
selbst verbessernden Charakter angenommen habe. Das Zellgedächtnis müsse von
allen lebendigen Systemen (Organismen) verstanden und gelesen werden können.
Die Regeln müssten jederzeit
abrufbar sein, das Programm müsse vererbt werden können, d.h. jeder Spieler
habe die Art und Weise der Problemlösung durch ein evolutionäres „Apriori“ von seinen Vorfahren geerbt. Im Fall der präbiotischen Evolution von Makromolekülen sei es die
Sequenz der Nukleinsäuren gewesen, die „niedergeschrieben“ wurde. Das
Gedächtnis sei zugleich das Material gewesen, das wieder reproduziert wurde
bzw. sich selbst vermehrte. Später hätten sich beide Funktionen getrennt, die
Aufbaupläne der Organismen seien im nukleotidischen
Gedächtnis aufbewahrt worden.
Die Eiweiß-Synthese sei der
Realisierungsprozess, in dem erfolgreiche Strategien immer wieder verwendet
würden. Das optimale Verhalten sei gespeichert worden, dadurch hätten sich die
Genotypen stabilisiert. Wenn die Zufallsstörungen des zugrundeliegenden fluktuierenden
Kausalfeldes allerdings zu stark wurden, habe das zum Zusammenbruch des Systems
und zum Aussterben der Spezies geführt. Dann seien Mutanten mit neuen
Strategien aufgetreten und hätten ein neues Spiel erzeugt.
Wenn das Spiel gegen den
Zufall bzw. Fluktuierungen des Kausalfeldes nicht gewonnen werden könne, finde
keine Evolution statt. Andererseits würde auch ein absoluter Sieg die Evolution
beenden. Die optimale Lösung bedeute Vermeidung zu großer Verluste und
Verhinderung des totalen Sieges. Anders sei es bei der Entwicklung von
Intelligenz. Im Gegensatz zu biologischen Systemen, die aus ihrer Vergangenheit
lernen müssten, besäßen die Menschen Freiheit, sogar zur Selbstzerstörung.
Kompetitive (konkurrente) Evolution
bestehe darin, dass eine optimale und stabile Strategie beibehalten und gegen
kleine Zufälle und wenige Mutanten erfolgreich verteidigt werde. Kompetitive Spiele begännen neu, wenn durch
Umwelteinwirkung eine erreichte Stabilität gestört werde. Der Darwinsche Kampf
ums Dasein sei nur eine Variante. Wenn kompetitive
Phasen sich erschöpften, setzten kooperative Spielphasen ein.
Beispiele kooperativer
Spiele seien die Formierung von Zellen, Bildung mehrzelliger Organismen,
Zusammenschluss von Tieren zu Herden und Nationenbildung in menschlicher
Evolution. Einzelsysteme, die vorher im Wettbewerb standen, integrierten sich
zu einer höheren Einheit. Durch die Synthese zu quasi hierarchisch organisierten
Supersystemen werde der Evolutionserfolg gesichert. Die Maximierung der
Überlebensrate werde nicht mehr durch Summierung oder Selektion gesteigert, sondern
durch Bildung der richtigen Vereinigungsmenge. Die höhere Einheit trete später
wieder mit anderen höheren Einheiten in den Wettbewerb.
Die Evolution erweise sich
als eine unaufhörliche Folge von kooperativen und kompetitiven
Spielen, ganz im Gegensatz zur Darwinschen Idee der Evolution. Das Konzept
dynamischer Spiele erkläre die Evolution durch partielle Ursachen, dem niemals
ruhenden kausalen Feld und einem globalen Gedächtnis. Naturgesetze würden durch
Invarianzen (Gleichgewichtszustände) ersetzt, die
sich anziehen oder abstoßen. Aber wie können sie Ordnung erzeugen? fragt Leinfellner. Und: Warum existieren nur die gewinnenden
Spezies? Warum endet der Wettbewerb mit einem und nicht mit mehreren
Hyperzyklen?
Die Spieltheorie könne all
diese Fragen klar beantworten, vorausgesetzt die Spieler maximierten ihren
Nutzen. Gleichgewichtslösungen beruhten auf einer aktiven Selbsterhaltung der
Spezies und einer Stabilisierung der Strategien über lange Zeitperioden.
Stabilität bezeichne das Verhalten eines Systems, das von einem Gleichgewichtspunkt
angezogen werde und dann um diesen Punkt oszilliere. Mathematische Invarianz verlange, dass jede Störung des Gleichgewichts
verschwinden müsse.
Spieltheoretische Invarianz dagegen bedeute, dass gestörte Zustände nicht zu
weit vom Gleichgewichtszustand entfernt liegen dürfen. Sie erkläre damit die
Stabilität von Millionen verschiedener Arten. Ihre Ordnung sei nicht teleologisch
oder durch finale Ursachen (Plan) gesteuert, sondern beruhe auf einem
Gleichgewichtsstreben. Um einen evolutionären Entwicklungsprozess
vorherzusagen, müssten wir die Verhaltensstrategien der Spezies als partielle
Ursachen interpretieren und daraus Wahrscheinlichkeitsverteilungen für die
Spielmatrix ermitteln.
Die Erklärung der Evolution
durch alternative Folgen von kompetitiven und darauf
folgenden kooperativen Spielen schließe die Darwinsche Evolution als
Spezialfall mit ein, ebenso wie die klassische Mechanik in der Quantentheorie
als Grenzfall weiterbestehe. Doch könne die Evolution von Organismen nicht
allein durch Selektion und Mutation erklärt werden, weil die kooperative
Variante (Belohnung) fehle. Die Spieltheorie unterteile die Selektion in
Teilursachen wie mutagene oder umweltbedingte
Faktoren, Einfluss der Mitspieler, kooperative Zusammenarbeit.
Eine menschliche
Gedächtniszelle speichere 10 hoch 11 Bits, ein RNA-Gedächtnismolekül 10 hoch 3
Bits an Informationen. Die 4,5 Milliarden Jahre dauernde Geschichte der
Evolution auf der Erde von den ersten Reduplikationen bis zum Menschen sei im
Zellgedächtnis tatsächlich vorhanden. Der Sinn des „evolutionären Apriori“ bestehe darin, die lebendigen Systeme davor zu
bewahren, Fehler ihrer Geschichte zu wiederholen. Nur evolutionäre Spiele
könnten ihr eigenes Programm durch Hinzufügen neuer Regeln verbessern. Dieses
Spielverhalten sei global, alle Zellen der Erde verstünden die aufbewahrten
Instruktionen.
Neue Spiele entstünden durch
externe Veränderungen (Umweltkatastrophen) oder Hinzufügen neuer Strategien.
Sie seien uns anfangs verborgen und würden erst durch ihre Aktivierung bewusst.
Dazu benötigten wir ein Zellgedächtnis oder ein Gehirngedächtnis. Die
Spieltheorie habe sich zur führenden biologischen Theorie im Range der Quanten-
oder Relativitätstheorie entwickelt (Schuster, Hofbauer und Wolf, 1980 -1981)
und die Darwinsche Evolutionstheorie ersetzt. Sie basiere auf statistischen
Verursachungen, einem fluktuierenden Kausalfeld, der Selbstorganisation eines
universalen Gedächtnisses und globaler Intelligenz.
Wenige Mutanten hätten in
einer Population keine Überlebenschancen, die Spezies wäre invariant gegenüber
dem Selektionsdruck. Die Fixpunkte einer Überlebensmatrix seien invariante
Zustände und legten den Verlauf der Evolution fest. Genau wie eine Landkarte
zeige, in welche Richtung das Wasser fließe, so gebe eine Fixpunktanalyse die
mögliche Entwicklung an. Neben Sattelpunkten repräsentierten Attraktoren (Senken) und Repelloren
(Quellen) die Topografie der Prozesse.
Die Evolutionäre
Erkenntnistheorie betrachte das Wissen als einen dynamischen Prozess und
menschliches Wissen als das Endprodukt der biologischen und sozialen Evolution.
Wissenschaftlicher Fortschritt sei die Fortsetzung des biologischen Erkenntnisprozesses.
Auch die Entwicklung von Theorien werde mittels der Versuch-und-Irrtum-Methode
erklärt (Popper). Raum und Zeit seien in den Genen fixierte Instruktionen, wie
Erfahrung im Gedächtnis (raumzeitlich) gespeichert werde.
Leinfellner hält die Evolution des Lebens und die der
Intelligenz für identisch. Er unterscheidet aber Intelligenz und menschliches
Wissen. Die Intelligenz sei empirisch entstanden, das menschliche Wissen
dagegen planorientiert. Die Erkenntnistheorie befasse sich mit den Methoden,
Kriterien und Zielen menschlichen Wissens. Technische Konstruktionen benötigten
vorab einen Ablaufplan, dagegen erzeugten und verbesserten evolutionäre
biologische Prozesse den Plan simultan mit der Realisation.
Beruht unser Wissen nun auf
der evolutionären Intelligenzentwicklung oder z.B. auf dem aristotelischen
Prinzip der Neugier? Bedeutet Maximierung der Intelligenz automatisch Erhöhung
der Fitness? Intelligenz könne ja nur dann als Vorteil angesehen werden, wenn
sie zur Maximierung der Überlebenschancen führe, überlegt Leinfellner.
Das sei jedoch beim wissenschaftlich-technologischen Fortschritt nicht immer
der Fall. Intelligenz sei eine lebensfördernde Funktion und werde als Fähigkeit
zur Problemlösung definiert. Wissen dagegen sei evolutionär neutral.
Intelligenz benötige ein Sensorium, das Informationen aufnimmt und verarbeitet, einen
Gedächtnisspeicher, der Erfahrungen sammelt, ein Rechensystem für Schlüsse,
Erklärungen und Voraussagen, und ein Motorikum, um
Handlungen zu verwirklichen. Diese vier Faktoren ergäben aber nur einen
Roboter. Werde nun das individuelle Gedächtnis zu einem kollektiven erweitert,
erhalte man sich selbst organisierende evolutionäre Systeme. Solche
realisierenden Subjekte bildeten Kooperationen und seien stets der Anstoß zu
neuen, komplexeren Systemen.
Die symbiotische
Zusammenarbeit von vorher getrennten Systemen werde durch Speicherung der
Programme im überindividuellen Gedächtnis ermöglicht. Dabei überrage die
biologische Realisierung innerhalb der Zellen unsere technische Produktionskapazität
um ein Vielfaches. Leinfellner vergleicht die
Zellproduktion mit einer Fusion aller zentral gesteuerten, voll automatisierten
Fabriken der Erde, wobei Gene den Gedächtnisspeicher und Ribosomen
die Fabriken repräsentierten. Dazu seien Zellen noch zu automatischer
Selbstverbesserung befähigt.
Intelligenz sei der
Gradmesser für effektive und optimale Konfliktlösungen. Das gelte für rationale
Entscheidungen ebenso wie für „primitives“ Verhalten, für DNA-Moleküle, Zellen
und Pflanzen ebenso wie für Tiere und Menschen. Die Spieltheorie ent-anthropologisiere die Evolutionstheorie, indem sie
Intelligenz unabhängig von dem Material betrachte, aus dem Sensorium,
Gedächtnis, Computer und Motorikum bestehen. Sogar
künstliche Intelligenz könne einbezogen werden, da nur die Effizienz
interessiere. Damit sei die Evolutionäre Erkenntnistheorie die Metatheorie
aller sich selbst verbessernden, problemlösenden Erkenntnisprozesse.
Da DNA-Fäden nichts anderes
als ein kodifiziertes lineares Gedächtnis seien, bildeten sie ein primitives
Computersystem, dessen Motorikum ein ausgezeichnetes
Transportvehikel sei. Die gesamte Geschichte der Evolution könne als ein Optimierungsprozess
der Intelligenz angesehen werden. Dafür spreche auch die Reduzierung der
Fehlerquote bei den Zellkopien, die allerdings niemals völlig ausgemerzt werden
könne, da die Evolution damit ihre schöpferische Variationsbreite verlieren
würde.
Die Verlagerung des
Gedächtnisspeichers ins Gehirn sei eine Ordnung schaffende Sicherheitsmaßnahme
gegen die entropische (zerstreuende) Einwirkung von
Zufallsfluktuationen. Auch im Gehirn könne Intelligenzmaximierung nur durch
Speicherung erfolgreichen Verhaltens erfolgen. Die Speicherung lebenserhaltender
Strategien trage jeder Mensch in den Genen mit sich. Das universale Gedächtnis
akkumuliere in drei Stufen: 1. Biologische Evolution (Selbstorganisation des
Zellgedächtnisses), 2. Entwicklung des Gehirngedächtnisses (bewusst und
individuell), 3. Entstehung eines wissenschaftlichen Gedächtnisses (kollektiv)
auf der Basis von Sprache, das kulturelles Wissen im Computer speichert.
Die Intelligenz sei immer so
gut, wie es die verfügbaren Programme erlaubten. Auf Zellniveau erfolge die
Problemlösung automatisch, ebenso die Speicherung in den Genen. Auf
Gehirnniveau dominierten die vom Bewusstsein begleiteten Entscheidungsprozesse
nach den Methoden der Spieltheorie im Wechsel von Konkurrenz und Kooperation.
Da die Neuronennetzwerke nach dem Schema einer Differentialgleichung funktionierten,
folge die innovative Tätigkeit des Denkens der Evolution der Gehirnganglien.
Auf wissenschaftlichem Niveau finde der Fortschritt nach der spieltheoretischen
Methode der Falsifikation statt.
Wenn die ganze Evolution ein
einziger Prozess der Entwicklung von Erkenntnis sei, müsste das in der Triplizität vereinigte universelle Gedächtnis aller
lebenden Wesen ein globales Wissen ermöglichen (Hegels Weltgeist?). Das
menschliche Gehirn spiele dabei die Rolle eines verstehenden und übersetzenden
Systems. Das sei aber erst dann in vollem Umfang möglich, wenn wir das
Zellgedächtnis vollständig entziffert und in eine wissenschaftliche Sprache
ungewandelt hätten.
Das menschliche Gehirn übe
eine vermittelnde Funktion aus zwischen gespeichertem Gehirnwissen und dem
schriftlich und digital gespeicherten Wissenschaftsgedächtnis. Unsere externe
Sprache sei eine Imitation der viel älteren internen Sprache zwischen beiden
Gehirnhälften. Operative Semantik sei die Sprache mit der externen Welt,
operationale Semantik beziehe sich auf die im Gedächtnis gespeicherten Bedeutungen.
Zusammen mit den Ordnungsschemata Raum und Zeit ermöglichten sie uns, die Welt
zu erkennen, indem sie ein Abbild von ihr erzeugten.
Die Speicherung von
wissenschaftlich-technischem Wissen in Büchereien und Datenbanken hält Leinfellner für den größten Vorteil der Evolution der
Intelligenz. Die Idee eines universellen Gedächtnisses fuße auf Poppers
„3-Welten-Konzept“: In einem gegenseitigen kausalen Prozess prägten die Gene
gewisse evolutionäre Pfade der Entwicklung, die auch von den Neuronen benutzt
würden. Diese wiederum beeinflussten die Entstehung von sozialen
Verhaltensmustern. Der Selektionsdruck habe bestimmte Regeln gegenüber anderen
begünstigt, was sich als Ansteigen der Frequenz bestimmter Verhaltensstrategien
äußere.
Die gesamte natürliche
Evolution sowie die soziale, wissenschaftlich-technische und kulturelle
Entwicklung könnten als ein riesiger zusammenhängender Problemlösungsprozess
angesehen werden, dessen Kontinuität durch das dreifache universelle Gedächtnis
garantiert sei. Leinfellner nimmt an, dass die
zukünftige Entwicklung der menschlichen Gesellschaft durch kollektive
Entscheidungen reguliert wird, und zwar einerseits durch kompetitive
wissenschaftliche Entscheidungen (nach dem Falsifikationsprinzip werden falsche
Theorien selektiert), und andererseits durch kooperative demokratische
Kulturentscheidungen.
Ebenso wie der
wissenschaftlich-technologische Fortschritt könne auch der Aufbau von Logik und
Mathematik als problemlösender Entscheidungsprozess spieltheoretisch begründet
werden. Die Isomorphie zwischen der vorbiologischen
Evolution von Makromolekülen, der biologischen Evolution, des tierischen
Verhaltens und der Funktion von Neuronen vereine all diese Prozesse in einer
gemeinsamen Struktur. Sie unterschieden sich nur hinsichtlich verschiedener
Interpretationen.
Gesellschaftliche
Entscheidungsprozesse seien entweder dynamisch-evolutionär oder progressiv oder
statisch. Dynamisch-evolutionäre Prozesse maximierten die Fitness und sicherten
das ökonomische Überleben bestimmter Gruppen, wie z.B. die dialektische
Entwicklung des Frühkapitalismus zum Monopolkapitalismus nach Marx. Progressive
und statische Entscheidungen seien planorientiert, z.B. der technische Fortschritt.
Letztere seien meist durch individuelle Interessen determiniert, aber auch
durch ethische Prinzipien wie Gleichheit und Gerechtigkeit.
Die meisten progressiven
Entscheidungsprozesse seien evolutionär neutral, manche auch gegen-evolutionär.
So könne atomares Wettrüsten zur Zerstörung des Lebens auf der Erde führen. Der
wissenschaftliche Fortschritt verdoppele zwar ca. jedes siebte Jahr den
technologischen Output, maximiere aber keineswegs die Überlebenschancen. Es
handele sich um einen pluralistisch beeinflussbaren Entscheidungsprozess unter
Risiko. Er werde von Faktoren gesteuert wie politische Ideologien, wirtschaftliche
Interessen, religiöse Vorstellungen oder ethische Prinzipien.
Es scheine, dass die
Entwicklung des menschlichen Gehirns und die daraus folgende Ausbreitung der
Wissenschaften zu einer Entmachtung der Gene führe, zum irreversiblen (nicht
rückgängig machbaren) Ende der biologischen sich selbst verbessernden
Evolution. Menschen müssten dann die Verantwortung für die zukünftige
Entwicklung des Lebens auf der Erde übernehmen. Nun sei aber der wissenschaftliche
Fortschritt ein teleologischer, planorientierter Prozess. Seine Entscheidungen
unter Risiko könnten als Zufallsereignisse des weltweit störenden Kausalfeldes
betrachtet werden, die sich möglicherweise gegen das Leben richteten.
Es bestehe ein
entscheidender Unterschied zwischen echten und pseudo-evolutionären Prozessen.
Letztere seien nicht selbstverbessernd und bestünden nicht aus wechselnden kompetitiven (selektiven) und kooperativen (aufbauenden)
Phasen. Es könnte überlebensrelevant sein, wenn die Gene weiterhin mitentscheidende
Partialfaktoren blieben in einem Spiel, das sie einst allein entschieden. Nach
dem Entziffern des Zellgedächtnisses könnten Intelligenz und Gene als
gleichberechtigte Mitspieler positive Entscheidungen für eine künftige
Entwicklung treffen.
Wissenschaft und Technologie
sollten versuchen, erfolgreiche evolutionäre Prinzipien zu imitieren.
Kooperative Entscheidungen seien immer ethische Lösungen. Sie könnten uns
Überlebensvorteile gegenüber unvorhersehbaren Umweltfaktoren und Zufällen
sichern. Wichtig wäre es auch, das individuelle Wohlergehen zu maximieren und
es gegenüber dem Konkurrenzdruck egoistischer Gruppeninteressen durchzusetzen.
Dann könnte eine ethische Kooperation zur Integration aller Individuen in einer
verantwortungsvollen globalen Lebensgemeinschaft führen.
März 2007
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