Flade, Antje: Die Psychologie der WAHRNEHMUNG

 

Die Psychologin Antje Flade hat den Weg der menschlichen Informationsgewinnung vom Impuls bis zur Empfindung beschrieben: Durch die Verteilung von Licht und Schatten würden Informationen über Umweltobjekte ins Gehirn übertragen. Licht sei der Träger, der durch die Eigenschaften der Objekte moduliert werde. Die Codierung in elektromagnetische Impulse sei mit hohem Verlust verbunden, nur ein geringer Prozentsatz der Daten komme im Gehirn an.

 

Hier werde die ursprünglich empfangene Lichtfrequenz in eine Empfindung umgewandelt. Erst werde die ganze Gestalt wahrgenommen, danach die Details. Das Gehirn konstruiere komplexe Figuren aus einzelnen Spektren. Unvollständige Linien würden automatisch vervollständigt, Lücken aus der Erinnerung oder nach Wahrscheinlichkeitsregeln geschlossen, schwache Konturen einfach weggefiltert. Das Ganze geschehe unbewusst und ohne Einfluss des Willens.

 

Merkmale der Wahrnehmung:

 

Die Wahrnehmung ist reizgebunden. Sie bezieht sich auf sensorische Phänomene, die durch Reizung der Sinnesorgane entstehen.

 

Die Wahrnehmung ist unmittelbar. Die Umwelt wird unmittelbar als wirklich erlebt.

 

Die Wahrnehmung ist selektiv. Aus der Umwelt werden nur Ausschnitte wahrgenommen.

 

Die Wahrnehmung ist ein aktiver, konstruktiver Vorgang. Die Umwelt wird nicht in Form von isolierten Reizen wahrgenommen, sondern als strukturiert, konstant und gefüllt mit Objekten und Ereignissen, die bestimmte Bedeutungen haben.

 

Die Wahrnehmung dient als Basis der Erkenntnis. Durch die Sinnesorgane gewinnen wir mehr oder weniger zuverlässig Aufschluss über die transphänomenale (hinter den Erscheinungen stehende) Welt.

 

Die Wahrnehmung ist prüfbar. Durch Handlungen kann festgestellt werden, ob eine Korrespondenz zwischen objektiven Gegebenheiten und subjektiver Erscheinungsweise besteht.

 

Der Ausdruck Wahrnehmung umfasst sowohl den Prozess des Wahrnehmens als auch dessen Endprodukt. Es geht ebenso um die Perzept-Bildung wie um das Perzept selbst.

 

Reiz und Information

 

Der Begriff Reiz umfasst zwei Aspekte:

 

den Aspekt der Energie eines physikalischen Prozesses, der geeignet ist, die Rezeptoren zu erregen, und

 

den Aspekt des Zusammenhangs zwischen der spezifischen Energieverteilung auf der Rezeptoroberfläche und den Merkmalen der Informationsquelle.

 

Im visuellen Sinnessystem werde photochemische Energie und im akustischen System hydraulischer Druck in Nervenerregungen umgewandelt.

 

Die Reizkonfiguration ergebe sich aus der Projektion eines Energieflusses auf die Rezeptoroberfläche. Dadurch, dass nicht alle Bereiche des Sinnesorgans mit der gleichen Energiemenge beliefert würden, entstünden bestimmte Energiemuster. Ihre Art hänge von den Merkmalen der Informationsquelle ab.

 

Reize seien physikalisch-energetische Veränderungen der Umwelt (z.B. durch Licht), die aufgrund bestimmter Ereignisse zustande kämen (z.B. Sonneneinstrahlung), und die zu spezifischen Energieverteilungen auf der Rezeptoroberfläche führten. Sie würden als Signale interpretiert.

 

Durch die Verteilung von Licht und Schatten würden z.B. Informationen über Umweltobjekte übertragen. Das Licht sei dabei der Trägerprozess, der durch die Beschaffenheit der Objekte moduliert und dadurch zum Zeichenträger werde.

 

In der Psychologie werde Wahrnehmung als Informationsentnahme aufgefasst.

 

Brunswik unterscheide zwischen distalem Objekt und Proximalreiz. Das distale Objekt biete die Reizsituation am Ort der Informationsquelle, während der Proximalreiz die Reizsituation auf der Rezeptoroberfläche darstelle.

 

Dabei könne derselbe Proximalreiz durch unterschiedliche distale Objekte hervorgerufen sein, oder dasselbe distale Objekt könne in Abhängigkeit von den Trägerprozessen zu unterschiedlichen Reizen führen.

 

Determinanten der Wahrnehmung

 

Die Grundfrage der Wahrnehmung sei von Kofka formuliert worden: Wie kommt es, dass die Dinge so aussehen, wie sie aussehen?

 

Es gehe um die Erscheinungsweise der Dinge, wobei objektive Realität und subjektive Wahrnehmung nicht übereinstimmen müssten.

 

Bei optischen Täuschungen werde z.B. die Erscheinung des Objekts durch sein Umfeld beeinflusst und verzerrt. Darüber hinaus gebe es individuelle Unterschiede in Abhängigkeit vom Lebensalter, Geschlecht, Persönlichkeitseigenschaften, augenblicklichem organischen Zustand, Bedürfnissen und Einstellungen.

 

Neben optischen Täuschungen seien auch Scheinbewegungen beschrieben worden: Im Film würden Einzelbilder mit einem bestimmten Intervall hintereinander dargeboten, so dass anstelle des sukzessiven ein Simultaneindruck entstehe und "die Bilder laufen lernten".

 

Ebenso sei die Beurteilung von Schall als Lärm abhängig von psychologischen Variablen wie der Auffassung, der raumzeitlichen Einbettung oder der Einstellung gegenüber dem Geräusch und seinem Erzeuger.

 

Auch Erfahrungen beeinflussten die Wahrnehmung individuell. Sie würden im Langzeitgedächtnis gespeichert und könnten von dort abgerufen werden. Jede Wahrnehmung erfordere diesen Rückgriff auf Erfahrung.

 

Wenn keine gespeicherten Informationen zur Verfügung stünden, sei ein Erkennen nicht möglich. Beispiele: Aphasie (Verlust der Fähigkeit des Sprachgebrauchs), Apraxie (Verlust des Entwurfs von Handlungen) und Agnosie (Verlust des Erkennens von Wahrgenommenem) als Folge organischer Schädigungen bestimmter Hirnareale. Da die Umwelt der Menschen weitgehend sozial geprägt sei, seien viele Wahrnehmungen sozial bedingt. Sie würden von anderen Menschen beeinflusst.

 

Das Perzept als Ergebnis der Wahrnehmung sei also determiniert durch umweltbedingte Faktoren (Merkmale des Objekts, raum/zeitlicher Kontext, sozialer Kontext) und personenbedingte Faktoren (organischer Zustand, Gedächtnis, ontogenetischer Entwicklungsstand, Einstellungen, Bedürfnisse, Interessen, Persönlichkeitsmerkmale).

 

Eine weitere wichtige Determinante sei der artspezifische Aufbau der Sinnessysteme. Verschiedene Tierarten seien speziell an ihre Umwelt angepasst (z.B. Radarsinn bei Fledermäusen).

 

Wahrnehmung sei ein aktiver Prozess, der zu einer strukturierten, stabilen und bedeutungsvollen Erfahrungswelt führe.

 

Erklärungsmodelle

 

Drei unterschiedliche Erklärungsebenen ließen sich unterscheiden:

 

1. Auf der Ebene der Bestimmung des Proximalreizes werde versucht, die physikalischen Korrelate zu den verschiedenen Wahrnehmungsdimensionen zu finden.

 

Gustav Fechner habe den relativen Zuwachs der physikalischen Energie (also dS/S) zum Maßstab für die korrespondierende Erlebnisintensität machen wollen.

 

Seine Theorie zum Messen psychischer Phänomene aufgrund physikalischer Reize enthalte eine Formel für die Empfindung von Reizintensitäten: Die erlebte Intensität wächst proportional zum Logarithmus des physikalischen Reizes.

 

Isaak Newton habe mit Farbskalen experimentiert und die Farbwahrnehmung durch ihren Bestandteil am weißen Licht erklärt.

 

Die Wahrnehmung verschiedener Tonhöhen sei auf die Frequenz der Schallwellen zurückgeführt worden.

 

2. Die Ebene der sinnesphysiologischen Prozesse halte die Suche nach korrespondierenden physikalischen Dimensionen für unzulänglich und ergänze sie durch die Erforschung von Mechanismen der Reizverarbeitung in den Sinnesorganen.

 

Beispielsweise lasse sich das Sehen von gelb nicht nur damit erklären, dass eine Wellenlänge von 570 Nm auf das Auge treffe, sondern auch durch die Feststellung, dass die Zellen der Netzhaut auf unterschiedliche Wellenlängen verschieden ansprächen.

 

3. Die dritte Ebene befasse sich mit zentralen Vorgängen im Gehirn. Sie betrachte u.a. Wahrnehmungsphänomene, die physiologisch nicht zu erklären seien, z.B. die Umkehrung eines Würfels vom Positiven ins Negative (es würden abwechselnd die Seiten a,d,h,g und b,c,e,f als "Oberfläche" erkannt).

 

Strukturalismus

 

Der Strukturalismus bzw. Elementarismus sei die theoretische Ausgangsbasis am Beginn der experimentellen Wahrnehmungsforschung zur Zeit Wundts gewesen. Er sei von den Gestaltpsychologen Wertheimer und Kofka kritisiert worden und heute nur noch von historischem Interesse.

 

Ausgehend vom empirischen Standpunkt des Wissens durch sinnliche Erfahrung sei das wissenschaftliche Interesse darauf gerichtet gewesen, die Elemente des Bewusstseins zu finden. Als elementare Einheit sei die Empfindung betrachtet worden.

 

Man habe zwischen reiner Wahrnehmung als Summe aller Empfindungen und gemischter Wahrnehmung unterschieden, zu der zusätzlich noch die Erinnerung benötigt worden sei.

 

Durch die Methode der analytischen Introspektion sei versucht worden, elementare Empfindungen aufzuspüren, wobei jede Interpretation vermieden werden musste, um die Empfindung rein zu bestimmen.

 

Wenn es den Versuchspersonen nicht gelungen sei, sensorische Eindrücke ohne jede Deutung wiederzugeben, habe man von einem Reizirrtum gesprochen.

 

Heute werde der Begriff Empfindung als Reaktion auf relativ einfache Reize, wie z.B. einen einzelnen Lichtpunkt oder Ton, interpretiert. Wahrnehmung bestehe jedoch aus der gesamten Komplexität aller Reizgegebenheiten.

 

Gestaltpsychologie

 

Sie basiere auf Wertheimers Studien über stroboskopische Bewegungen. Mit dem Stroboskop könne man Bilder in schneller Folge auf das Auge projizieren. Durch die Variation des Intervalls zwischen zwei Bildern entstehe der Eindruck einer scheinbaren Bewegung.

 

Wertheimer habe das sog. Phi-Phänomen auf zwei Striche reduziert, die in schneller Abfolge als Linie interpretiert würden. Es werde also etwas anderes wahrgenommen, als reizmäßig vorgegeben war.

 

Wertheimer habe daraufhin die Bewegung als eine Erscheinung betrachtet, die nicht weiter in ihre Bestandteile zerlegt werden könne. In keinem Fall könne man sie auf die bloße Summe von Empfindungen zurückführen. Sie habe sich als ein Phänomen sui generis (eigener Ursache) erwiesen.

 

Empfindungen zeigten sich als künstlich konstruierte Wahrnehmungseinheiten, die nur in bestimmten Fällen, z.B. bei persönlicher Konditionierung, aufträten.

 

Wer die Welt unvoreingenommen betrachte, finde keineswegs Lichtpunkte oder Farbtupfer vor, sondern ganzheitliche Formen, Figuren mit Konturen und zusammenhängende Gegenstände.

 

Zuerst werde der Umriss wahrgenommen, danach erst die Inhalte und Details. Dabei sei das Gehirn immer bestrebt, unvollständige Linien zu vervollständigen und Lücken zu ergänzen bzw. aus einzelnen wahrgenommenen Aspekten eine ganze Figur zu konstruieren.

 

Diese ganzheitlichen Phänomene seien nicht an die Reizung bestimmter Zellen der Sinnesorgane gebunden, sondern entsprächen einer Leistung des Gehirns. Entscheidend sei dabei das Beziehungsgefüge, d.h. die Struktur zwischen den Reizkomponenten.

 

Der Begriff Gestalt sei definiert worden als phänomenologische Bezeichnung für eine Wahrnehmungseinheit, die bestimmte Merkmale aufweise, Gestaltqualitäten genannt. Diese Qualitäten kämen nur dem Ganzen, nicht seinen isolierten Teilen zu.

 

Eine Melodie sei z.B. eine akustische Gestalt; eine Aneinanderreihung von Brettern ergebe einen Zaun.

 

Man nehme an, dass die Strukturen im Zentralnervensystem den äußeren Strukturen der Umwelt entsprechen, und dass wir aufgrund dieser strukturellen Übereinstimmung (Isomorphie) komplette Gestalten und nicht einzelne Punkte wahrnehmen.

 

Die Gestaltpsychologie sei eine nativistische Theorie, die davon ausgehe, dass die wahrnehmungsrelevanten Gehirnstrukturen angeboren sind. Versuche an Säuglingen hätten diese Ansicht unterstützt.

 

Transaktionalismus

 

Ames, Cantril und Ittelson hätten festgestellt, dass wir über die Welt nichts erfahren können, wenn wir nicht bereits etwas über sie wissen.

 

Das distale Objekt könne nicht allein aus dem Proximalreiz erschlossen werden, denn einem zweidimensionalen retinalen Erregungsmuster (im Auge) könnten sehr viele dreidimensionale Reizkonfigurationen entsprechen.

 

Von diesen vielen Möglichkeiten werde jeweils diejenige Alternative wahrgenommen, die in der Vergangenheit am häufigsten bestätigt worden sei. Die Wahrnehmung beruhe deshalb auf früheren Erfahrungen.

 

Perspektivisches Sehen sei ein Beispiel dafür. Wir wüssten, dass weiter entfernte Flächen dunkler erscheinen als nähere Flächen, so dass ungleiche Helligkeiten als Entfernungsunterschied interpretiert würden.

 

Mit zunehmender Entfernung verkürzten sich auch die wahrgenommenen Linien, z.B. bei der Wahrnehmung einer Straße, deren Ränder in der Ferne zu konvergieren schienen.

 

Der Informationsverarbeitungsansatz

 

Die Vorstellung, dass die Wahrnehmung ein analoger Prozess sei und einer bildhaften Projektion des Reizes von der Rezeptoroberfläche in das Gehirn entspreche, gehöre der Vergangenheit an.

 

Heute werde der Mensch als ein informationsverarbeitendes System aufgefasst, in dem die ankommenden Reize nicht naturgetreu abgebildet, sondern in elektrophysikalische Impulse übersetzt würden. Aus diesen Erregungsmustern entstehe das Perzept als Endprodukt der Wahrnehmung.

 

Die Reize gelangten aus den Sinnesorganen in das sensorische Gedächtnis, wo eine Codierung stattfinde. Ein Teil der Informationen aus der Reizkonfiguration werde in eine dauerhafte Repräsentationsform übersetzt und im Langzeitgedächtnis gespeichert, der Rest gehe verloren.

 

Die Übertragung der Information erfolge nach einer binären Übersetzungsregel. Die Nervenzelle besitze nur zwei Reaktionsarten: Entweder sie reagiere auf den Reiz mit einem mit einem Erregungsimpuls, oder sie reagiere nicht.

 

Je intensiver der Reiz sei, umso mehr Erregungsimpulse löse er aus. Allerdings sei die Aufnahmekapazität begrenzt, so dass die Codierung meistens mit einem Informationsverlust verbunden sei.

 

Die Informationsverarbeitung sei ein mehrstufiger Prozess, deren einzelne Stufen ineinander übergingen und nicht abgegrenzt werden könnten. Ebenso sei eine Abgrenzung der Funktionen Wahrnehmung, Gedächtnis und Handlung nicht möglich, weil sie ein einheitliches Rückkopplungssystem bildeten.

 

Korrelationsforschung

 

Hubel und Wiesel hätten versucht, die spezifische Reaktionsweise individueller Neuronen durch die Anordnung ihrer Verschaltung im Gehirn zu erklären.

 

Mit Hilfe der Mikroelektronik habe man in Tierversuchen festgestellt, dass entgegen den Annahmen der Gestaltpsychologie die Reizobjekte nicht als Einheit von einem Neuronenverband verarbeitet würden, sondern dass der Proximalreiz zuerst in seine Elementarbestandteile zerlegt werde, wobei seine verschiedenen Aspekte (Farbe, Größe, Bewegungsrichtung) von verschiedenen Neuronen verarbeitet würden (Hajos).

 

Anschließend finde eine Resynthese statt, an der komplexere Neuronenverbände beteiligt seien.

 

Desgleichen seien Wahrnehmung und Kognition aneinander gekoppelte Prozesse mit vielfachen Wechselbeziehungen und nicht voneinander zu trennen. Begrifflich werde aber zwischen sensorischen und kognitiven Prozessen unterschieden (Davidoff).

 

Wahrnehmung beziehe sich dabei auf die Perzeptbildung, an der neben dem Kurzzeit- und dem Langzeitgedächtnis auch das sensorische Gedächtnis beteiligt sei, während Kognition die Prozesse meine, die innerhalb des Kurzzeit- und des Langzeitgedächtnisses stattfinden.

 

Reine Wahrnehmung könne es nicht geben, weil sie immer schon die Konzeption von Gegenständen voraussetze. Eine kognitive Einordnung und Verarbeitung des Wahrgenommenen sei ein notwendiger Bestandteil jedes Wahrnehmungsaktes.

 

Holzkamp betrachte die Wahrnehmung überhaupt als einen kognitiven Begriff. Er unterteile die Kognitionen in solche, die sich auf Präsentes beziehen (Wahrnehmungen), und solche, die sich auf Vergegenwärtigtes beziehen (Erinnerungen).

 

Nativismus - Empirismus - Kontroverse

 

Die Nativisten hätten den Standpunkt vertreten, dass die meisten Wahrnehmungsleistungen angeboren seien. Die Empiristen hätten dagegen betont, dass das Verstehen von Sinneseindrücken sowie das Wahrnehmen von Gestalten und Strukturen erst gelernt werden müsse.

 

Der nativistische Standpunkt habe sich auf die Folgerung gestützt, dass beim Lernen von etwas Neuem bereits ein Erkennungsmechanismus vorhanden sein müsse, durch den der Proximalreiz in eine kanonische Form, einem "Urmuster" entsprechend, übersetzt werde.

 

Grundlegende Mechanismen der Informationsverarbeitung müssten deshalb als angeboren betrachtet werden, weil sie zum Erwerb von neuen Erfahrungen unabdingbar seien.

 

Die Gestalttheoretiker nähmen an, dass die Formwahrnehmung von der angeborenen Organisation der neuronalen Felder gesteuert werde. Diese bewirkten, dass bestimmte Reizstrukturen gegenüber anderen bevorzugt wahrgenommen würden.

 

Sofern die neuronalen Strukturen bei der Geburt nicht vorhanden seien, würden sie durch Reifungsprozesse verfügbar. Wesentlich sei die Annahme, dass die Erfahrung keinen nennenswerten Einfluss auf die Wahrnehmung ausübe.

 

Den Lerntheoretikern gehe es dagegen um die Erklärung, wie ein Perzept aufgrund von Assoziationen mit Reizen der Umwelt zustande komme. Sie befassten sich mit Diskriminationsleistungen, während das Thema der Gestalttheoretiker die Identifikationsleistungen seien.

 

Die Enrichment-Theorien (Gibson) besagten, dass die Wahrnehmungsentwicklung darin bestehe, Fähigkeiten zu erwerben, die potentiellen Informationen zunehmend auszuschöpfen.

 

Durch Reifung und wiederholte Erfahrungen werde die Wahrnehmung zunehmend differenzierter und genauer. Die Veränderung beziehe sich also auf die wachsende Fähigkeit, immer mehr von den bereits vorgegebenen Dimensionen der Objekte auffassen zu können.

 

Abstraktion sei der Prozess, bei dem die kritische Dimension gegenüber allen anderen hervorgehoben werde, um über variierende Objekte oder Ereignisse hinweg invariante Beziehungen zu erfassen (Formen).

 

Filterung finde statt, wenn konkurrierende Reize nicht beachtet würden, indem irrelevante Konturen weggefiltert würden (z.B. eine Unterhaltung bei Umgebungslärm).

 

Studien von Salaptek und Kessen über das Blickverhalten von Neugeborenen hätten ergeben, dass Babys zwar Farben erkennen könnten, aber Figuren noch nicht als Ganzheit auffassten, sondern nur dominierende Teile davon wahrnähmen (nicht zu verwechseln mit der elementaristischen Auffassung der Strukturalisten).

 

Deutlich sei dabei ein Überwiegen der horizontalen gegenüber der vertikalen Blickbewegung festzustellen, außerdem würden gemusterte gegenüber homogenen Reizflächen bevorzugt betrachtet.

 

Als angeborene Tiefenkriterien würden die Verteilung von Licht und Schatten sowie die Bewegungsparalaxe identifiziert (die Veränderung des Winkels eines Objektes in Relation zu einem anderen Objekt bei Bewegung), während die übrigen Tiefenkriterien wie Perspektive, Verdeckung usw. offenbar durch assoziatives Lernen auf der Grundlage der angeborenen Tiefenkriterien erworben würden.

 

Durch Tierversuche und Untersuchungen an Blinden habe sich gezeigt, dass Umwelterfahrungen eine Notwendigkeit darstellten, ohne die sich die Wahrnehmung nicht entwickeln könne.

 

Blind geborene Patienten, die durch eine Operation im Erwachsenenalter ihre Sehfähigkeit erlangten, seien anschließend nicht in der Lage gewesen, Objekte zu benennen. Es sei ihnen nicht gelungen, die Gesichter von Freunden und Verwandten zu erkennen.

 

Patienten, die im Säuglingsalter erblindet waren und im Erwachsenenalter operiert wurden, hätten immerhin auffällige Objekte entdecken und deren Bewegungen folgen können. Sie seien zu einer groben Raumwahrnehmung fähig gewesen und in der Lage, größere Hindernisse zu vermeiden.

 

Es sei ihnen jedoch nie gelungen, Formen, Muster oder Objekte visuell zu erkennen, so dass sie ihre Bemühungen schließlich aufgegeben hätten.

 

Die Wahrnehmung sei offenbar an Gehirnleistungen gekoppelt, die von den sensorischen Fertilitäten unabhängig sind. Die Lernphase des Wahrnehmens sei an ein bestimmtes Alter gebunden und könne im Erwachsenenalter nicht substituiert (ersetzt) werden. Dann sei die kritische Phase der Prägung vorbei.

 

 

Birgit Sonnek

 

November 2003

 

 

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